Kurzgeschichte
Der Weise des Nordlands

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"Der Weise des Nordlands"
Veröffentlicht am 04. Januar 2014, 22 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Der Weise des Nordlands

Der Weise des Nordlands

Der Weise des Nordlands

 

Als Akycha noch sehr jung war, sprach nichts dafür, dass er eines Tages zu den weisesten Männern im eisigen Nordland zählen sollte, zu dem Menschen unterschiedlichen Standes und Ansehens vor überall kamen, um bei ihm Rat zu suchen.

Ganz im Gegenteil, denn er kam aus einem sehr ärmlichen Iglo. Den Vater hatte er nicht gekannt, aber seine Mutter erzählte ihm, er sei bei kurz nach Akychas Geburt bei der Eisbärenjagd ums Leben gekommen, Als Akycha gerade fünfzehn Winter alt war, fühlte auch die Mutter ihren Tod nahen,

sodass sie ihren Sohn zu sich rief.

Als Akycha an ihrem Totenbett begann, bittere Tränen zu vergießen, streichelte sie zärtlich seine Hand. „Gräme dich nicht, Akycha! Leider kann ich dir nichts weiter geben als dieses Medaillon. Ein Mann aus dem fernen Süden schenkte es mir zum Dank, weil ich einst sein Leben gerettet habe.“ Sie legte eine dünne Goldkette mit einem einfachen Medaillon in Akychas Hand. „Schau nur hinein, mein Sohn!“

Mit zittrigen Händen öffnete Akycha das Schmuckstück, und betrachte lange das gemalte Bild einer blühenden Landschaft. Die Farben waren hell und leuchtend und die Abbildung wirkte auf

geheimnisvolle Weise lebendig, so als würden die winzig kleinen Lebewesen auf dem Bild sich tatsächlich bewegen.

„Akycha, bleibe ein guter Mensch und finde sein Geheimnis!“

Bevor Akycha sie fragen konnte, welches Geheimnis es denn zu finden gäbe, war seine Mutter bereits zu den Ahnen gegangen.

Kaum hatte er den Körper der Mutter mit einem Kanu weit hinaus auf ihre letzte Reise ins Nordmeer gebracht, wie es die Sitte forderte, als auch schon ein Werber des Eislords vorbei kam. Der Herrscher des nordischen Eislandes machte sich die bittere Not und Armut der Leute in den Dörfern zunutze, um

Krieger für seine Eroberungszüge in aller Herren Länder zu verpflichten: „Akycha, große, kräftige Burschen wie du, verstehen es im Heer des Eislords, zu Macht und Ansehen zu kommen. Wenn du uns als tapferer Krieger folgst, soll es dein Schaden nicht sein.“

Akycha glaubte zu wissen, dass es ihm nirgendwo schlechter gehen konnte als in seinem kleinen Iglu, wo ihm nichts geblieben wäre, als die Rentiere eines reichen Nachbarn zu hüten. Deshalb ließ er sich auch nicht lange von dem Werber bitten und zog bereits am nächsten Tag los, um im Heer des Eislords das Kriegshandwerk zu erlernen.

Tatsächlich machte Akycha in den kommenden Jahren sein Glück im Gefolge des Eislords, aber er vergaß beim Brennen und Morden sehr rasch die Gebote der Ahnen und der Menschlichkeit, denn er führte jeden Befehl des Eislords bedenkenlos aus, gleichgültig wie unmenschlich die Anweisungen des Kriegsherrn auch immer waren.  „Aufgabe eines Kriegers ist es, zu gehorchen“, versuchte Akycha sich selbst zu rechtfertigen.

So vergingen viele Winter und Akycha wurde im Dienst des Eislords immer mächtiger, ohne dass er jedoch selbst bemerkte, wie weit er sich von den Geboten seiner Ahnen inzwischen

wegbewegt hatte.

Das einzige was Akycha in seinem Kriegsglück störte, war die Tatsache, dass das Bildnis dieser herrlich blühenden Landschaft im Medaillon auf geheimnisvolle Weise immer mehr seine leuchtend prächtigen Farben verlor, und die Landschaft sich mehr und mehr zu einer kargen, grauen Eislandschaft veränderte, in der alles Leben erstarrt schien.

Für diese allmähliche Veränderung konnte er sich, wie sehr er auch darüber nachdachte und grübelte, keine Erklärung geben.

Als er nach einem weiteren erfolgreichen Kriegszug Akycha mochte

da bereits an die zehn Jahre unter dem Eislord gedient haben mit unvorstellbaren Reichtümern aus dem Osten des verwüsteten Landes zurückkehrte, wurde ihm das Medaillon, das er stets um den Hals trug, in einer Nacht, die er wieder einmal durchzecht hatte, mit einem Mal unerträglich schwer. Erschreckt riss er sich das Medaillon vom Hals und betrachtete lange das Bildnis, dessen tote Landschaft inzwischen die bleiche und blasse Farbe von altem Schnee angenommen hatte.

Erschreckt klappte Akycha das Medaillon hastig zu, hängte es wieder um seinen Hals, aber es war ihm, als

wäre das Schmuckstück aus eisig-kaltem Golde. Hastig riss er das Medaillon erneut herunter, und vergrub es tief in Eis und Schnee. Aber auch dort ließ ihm das Schmuckstück keine Ruhe, denn die leblos karge Landschaft des Bildes schien allen Schnee und alles Eis zu durchdringen und die Kälte der Darstellung ließ geradewegs sein Herz erschauern, ein Herz, das eisiger als ein Gletscher war.

Da Akycha es nicht wagte, das Medaillon dort liegen zu lassen, grub er es wieder aus, und, als könnte er sich geirrt haben, öffnete er den Deckel noch einmal und besah sich das Bild, aber die Landschaft war noch kärger geworden.

Deshalb lief Akycha gänzlich verunsichert auf der Stelle zu einem berühmten Künstler, dem er das Medaillon zeigte: „Ich werde dir zahlen, was auch immer du verlangst, wenn du mir das Bild wieder in seinen ursprünglichen Zustand bringst.“

Wie erstaunt war Akycha, als der aufgesuchte Maler völlig begeistert das Miniaturgemälde betrachtete. „Sagt, wer hat diese blühende Landschaft gemalt? Nichts Vollkommeneres, nichts Schöneres, nicht Lebendigeres habe ich je in meinem Leben gesehen. Alles, was ich tun könnte, würde seine vollkommene Schönheit nur zerstören.“

Erzürnt riss Akycha das Medaillon an

sich, aber er konnte weiter nichts sehen, als die verblichenen Farben einer Eislandschaft. Da er glaubte, der Maler würde sich über ihn lustig machen und ihm zum Besten halten, richtete er seinen spitzen Speer auf das Herz des Künstlers. Voller Furcht flehte der Maler um Gnade: „Akycha, verzeih, aber erst jetzt verstehe ich. Das Bild gehört zu jenen geheimnisvollen Kunstwerken, die jeder durch seine Augen und sein Herz anders wahrnimmt.“

„Was redest du da?“, fragte Akycha mit einem Mal gänzlich verunsichert von den Worten des Malers.

„Akycha, verstehst du denn nicht? Du siehst in diesem Bild immer gerade genau

das, was du selbst im tiefsten Herzen über dich fühlst. Ich selbst sah eine farbig blühende Landschaft voller Leben.“

Akycha ließ seinen Sperr erstaunt sinken, und fragte betroffen, weil er das Geheimnis des Medaillons zu verstehen begann: „Das Bild zeigt dir tatsächlich eine blühende Landschaft?“

„Ja, und du wirst selbst ebenfalls sehen, was du wahrhaft in deinem Herzen fühlst, selbst wenn dies dein Kopf nicht so einfach hinzunehmen vermag.“

Akycha hatte verstanden: Seine Mutter hatte auf seinem Sterbebett zu ihm gesagt, er solle das Geheimnis des Medaillons suchen. Und sie hatte ihn

gemahnt, ein guter Mensch zu werden.

Aber was war aus ihm geworden? Ein Krieger ohne Skrupel.

Ohne große Hoffnung fragte Akycha den Maler:„Und du verfügst über keine Kunst, das Bildnis zu verändern, sodass es auch wieder für mich wieder leuchtende Farben bekommt?“,

„Nein, Akycha, denn über die Macht, das Bildnis zu verändern, verfügt nur derjenige selbst, der es betrachtet.“

„Wie könnte ich? Ich verstehe nichts von deiner Kunst.“

„Du brauchst keinen Künstler, Akycha, aber vielleicht kann dir der Rat eines Weisen helfen, den Weg zu dir selbst wieder zurück zu finden.“

„Und wo kann ich einen solchen Weisen finden? Wie kann ich den Weg zu mir selbst zurück entdecken?“

„Akycha, lege deinen Speer ab! Ehre den Willen der Ahnen und der Mutter Erde! Mache dich gleich auf den Weg! Viele Tagesreisen von hier, wenn du genau gegen Norden gehst, wirst du das Iglo einen Weisen finden, der dir vielleicht Rat zu geben versteht!“

Noch zur selben Stunde brach Akycha auf. Als er nach vielen Tagen zum Iglo des Weisen kam, erfuhr er, dass dieser vor wenigen Tagen zu den Ahnen zurückgekehrt war.

„Mutter, was soll ich tun?“, fragte Akycha verzweifelt das Bildnis, aber die

eisige Landschaft schwieg, wenn es ihm auch so war, als hätten die Gletscher bei weitem nicht mehr diesen eisig-grauen Ton.

Weil Akycha sehr erschöpft war, schlief er alsbald im Iglu des Weisen ein, und er hatte folgenden Traum: Den ganzen Tag hatte er mitten in einem Wintersturm gekämpft, hatte bereits unzählige Menschen um ihr Leben gebracht, hatte sich an deren Besitz bereichert, als er plötzlich von Feinden umzingelt wurde. Die feindlichen Krieger drängten sich bedrohlich in einem enger werdenden Kreis immer näher an ihn heran. Als er seine Feinde in seiner Todesangst näher betrachtete,

bemerkte er, dass er alle diese Krieger kannte: Es waren Menschen, die durch seine Raffsucht und durch seine Grausamkeit  zu Tode gekommen waren.

„Was wollt Ihr?“, schrie er erbost und ängstlich zugleich.

Die  Menschen schauten ihn nur traurig an, als würden sie ihn fragen wollen, ob sein Reichtum seine ruchlosen Taten wirklich wert gewesen waren.

Tief erschreckt wachte Akycha aus seinem Traume auf. Da er die einfache Nachricht dieses Traums sogleich verstanden hatte, rief er in die Stille der Nacht:„Ich habe verstanden, meine Freunde. Ich werde mit euch hier bleiben, bis ich alle meine Schuld wieder

gut gemacht habe.“

Akycha saß darauf jahrelang unbeweglich vor dem Iglu, lauschte den geheimnisvollen Klängen des Windes, schaute den Tieren des Nordens einfach nur zu. Der einst so grausame Krieger hockte nur versunken in sich da, horchte der Stille um ihn herum, und er lauschte vor allem der geheimnisvollen Stille ganz in ihm selbst. Auf diese Weise lernte Akycha ganz in der Versenkung die stille Sprache der Ahnen, die alle auf ihre geheimnisvolle Art in ihm selbst versammelt waren.

So verbreitete sich in den nächsten Wintern im Nordland die Kunde im ganzen Land, dass dort im Iglu des alten

Weisen wieder ein neuer Weiser lebte, sodass viele von Sorgen bedrückte  Menschen zu ihm kamen, um seinen Rat zu erbitten.

Jedem sagte der weise gewordene Akycha das gleiche, wenn er auch immer andere, für den Fragenden passende Worte fand. Sie klang in etwa so: „Die Antwort, mein suchender Freund, kennt nur die Stille. Bleibe hier, lasse dich neben mir nieder und lausche der Stimme des Windes, auf die Stimme der Stille in dir.!“

Viele blieben und horchten auf die stille Stimme ihrer Ahnen und sie verstanden: Jeder trug die Antwort auf all seine Fragen in sich selbst. Man musste es nur

lernen zu lauschen und zwar dieser stummen Stimme in sich und dem leicht rauschenden  Wind um sich, der in seiner ganzen Tiefe die gleiche Stimme hatte wie die, die ganz von innen kam, wenn man es einmal gelernt hatte, die eigenen, immer wieder erneut auftauchenden Gedanken zur Ruhe zu bringen.

Und so musste keiner jemals von ihm ungetröstet wegehen, aber wenn jemand versuchte, sich für Akychas Hilfe zu bedanken, sagte der Weise schlicht, dass jeder sich nur bei sich selbst bedanken konnte, weil in jedem selbst die Antworten zu finden waren, wenn diese auch oft ganz anders waren, als

der Suchende sich das vorher gedacht hatte.

Lange Jahre war Akycha immer wieder versucht, das Medaillon zu öffnen, um zu sehen, ob die Landschaft wieder seine ursprüngliche bunte und strahlende Form angenommen hatte, aber jedes Mal hängte er das Schmuckstück wieder ungeöffnet um seinen Hals, weil er sich jedesmal dachte, da er selbst noch nicht zur Vollkommenheit gelangt wäre, könnte auch die Landschaft noch nicht vollkommen schön und lebendig sein.

Aber eines Tages fand er beim Horchen auf die Stimme der Stille auch das letzte Geheimnis des Medaillons: Er selbst,

Akycha, und das Bild waren immer vollkommen gewesen, aber er hatte sich von dieser Vollkommenheit in das Eis von leblosen und kalten Wünschen abgewendet, weil er bei sich geglaubt hatte, sein Glück, die Wärme seiner Seele, könne irgendwo außerhalb von ihm liegen.

 

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Peterzerbes

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