Ich liebte ihn und wollte ihm immer nah sein. Eines Nachts wagte ich es und schmiegte mich an ihn. Er schlief. Ich schaute ihn nur an, seine engelsgleichen Gesichtszüge,sein sinnlicher Mund, seine langen Wimpern.Ich durfte ihm eigentlich niemals so nah sein,aber ich wollte ihn beschützen.
Ich war immer bei ihm, all meine Sinne waren auf ihn gerichtet. Er war mein Leben. Er war der Grund dafür, das ich noch immer hier sein durfte. Ich erlaubte mir,ihn zu berühren, er würde es nicht spüren , aber in mir löste es ein unglaubliches Verlangen und eine unendliche Traurigkeit aus.
Ich küsste ihn. Es war nur der Hauch
einer Berührung, als meine Lippen auf seine trafen.
Ich war verunsichert ,als er kurz darauf seine Augen öffnete. Augenblicklich zog ich mich in eine Ecke der Berghütte zurück und beobachtete ihn. Die Hütte war nur ein einzelner, großer Raum,im Kamin glühten noch die letzten Holzscheite aus.
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Schweißgebadet erwachte ich. Wann würde es endlich aufhören, diese Albträume,die mich fast jede Nacht quälten.Die Träume waren heute wieder
so real,ich hatte gehofft das es aufhören würde. Der Unfall war nun fast ein Jahr her. Ich sah noch immer wie Marlena abrutschte und die Seile sie nicht auffingen.Klettern war unsere Leidenschaft. Seit jenem Tag war ich nicht mehr vollständig,
ein Teil von mir,war mit ihr in den Abgrund gestürzt.
Ich stand auf, um ein Glas Wasser zu trinken. Draußen tobte ein Schneesturm und als ich aus dem Fenster sah, flogen die Flocken wild umher,bald würde Weihnachten sein,mein erstes Fest ohne sie.
Obwohl ich nicht schlafen konnte,legte ich mich wieder ins Bett und schloss die
Augen. Ich hatte immer das Gefühl,dass sie noch bei mir war. Besonders in den Nächten fühlte ich ihre Nähe. Solche Gedanken erzählte ich natürlich niemandem. Meine Freunde und meine Familie hielten mich seit dem Unfall für etwas seltsam und ich wollte sie nicht beunruhigen.
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Es ging ihm nicht gut. Mir tat es weh ihn immer noch so sehr leiden zu sehen. Seine Augen waren geschlossen,doch seine Gesichtszüge wirkten angespannt. Ich streichelte über die Sorgenfalten auf
seiner Stirn. Meine Fingerspitzen glitten über die Narbe an der Schläfe hinab, an seinem Hals entlang, über seinen Arm, zu seiner Hand. Ich berührte den silbernen Ring an seinem Finger. Ich kannte die Gravur. „In ewiger Liebe Marlena:“ Seine Finger streiften die meinen. Jetzt wirkte er viel entspannter und ruhiger.
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Da war es wieder, dieses sichere Gefühl,dass jemand bei mir war. War sie es? Ich spürte eine Berührung,sanft,still und zart. Aus Angst sie zu erschrecken, wagte ich nicht meine Augen zu öffnen.
Ich genoss die Vorstellung,dass sie es war, ließ den Schmerz zu , wurde ruhiger, weil sie da war und schlief irgendwann ein.
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Am nächsten Morgen nahm er seine Kletterausrüstung. Er tat es zum ersten Mal,seit dem Unfall.
Es machte mir Angst,denn es war nicht die Jahreszeit, um hier in den Bergen zu klettern,es lag Schnee und die Felswände waren feucht und rutschig. Er hatte doch nicht vor sich….....
Was wollte er alleine da draußen ?
Bevor er die Hütte verließ ,schaute er
noch einmal auf sein Handy, kein Mobilfunknetz. Ich schmiegte mich an seinen Rücken und umarmte ihn,wollte ihn festhalten,ihn davon abhalten eine Dummheit zu tun. Meine Hände glitten über seine Brust und seinen Bauch,wir waren uns jetzt so nah,wie noch nie,seit dem Unfall.
Plötzlich hielt er inne.
„Du bist es, nicht wahr?“ Er sagte es in die Stille des Raumes. Es verunsicherte mich. Wie konnte er das fühlen? Ich ließ ihn
los.
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Sie war es. Ich war mir sicher,dass sie hinter mir stand und ihre Arme mich umfassten,festhalten wollten. Ich hoffte auf ein Zeichen,doch nichts geschah. Ich ging hinaus. Ich war der Erste, der hier durch den frischen Schnee lief, von den Tannen rieselten die Flocken der letzten Nacht herunter. Ich erkannte Spuren von Tieren im Schnee. Spuren von Rehen,Wildschweinen und Vögeln. Fliegen müsste man können. Mit Marlena konnte ich es, sie fehlte mir
so.
So sehr,dass ich mir sogar ihre Nähe einbildete.
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Ich schaute zu wie er durch den Schnee stapfte in Richtung unseres Kletterfelsens. Ich wollte ihm so gerne helfen,ihn trösten,doch es gab nichts was ich hätte tun können. Er begann zu klettern,obwohl es gefährlich und vollkommen verrückt war. Etwa auf der gleichen Höhe, an der ich den Halt verloren hatte,hielt er
an.
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Hier war es so friedlich, der reine Schnee,die unverbrauchte kühle Luft,die schneebedeckten Baumwipfel und die Schlucht, in die ich hinunter blickte. Nie wieder würde ich eine andere Frau so sehr lieben wie Marlena .
Ich war hier herauf gekommen um zu fliegen,sonst nichts.
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Ich hielt ihn in meinen Armen und umschloss ihn mit meinen Flügeln.
Meine Lippen streiften seinen Hals und ich flüsterte an seinem Ohr. „Bitte tue es nicht,verlasse nicht diese Welt. Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt und ich werde dich immer lieben. Ich beschütze dich. Wenn du gehst,werde auch ich verschwinden,denn ich lebe nur weiter,wenn du lebst.“
Ich hatte wahnsinnige Angst,dass er sich fallen ließ.
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Ich wusste, das jetzt der Zeitpunkt war um loszulassen. Ich schloss meine Augen, fühlte mich geborgen und warm und es rauschte in meinen Ohren, die
Welt da draußen schien weit weg.
„Mama ,schau mal ein Engel.“ Ich riss meine Augen auf und sah ein kleines Mädchen, wie sie auf dem Rücken im Schnee lag und die Arme bewegte. Schneeengel....
Die Mutter tat es ihm gleich,das Lachen halte wie ein Echo. Ich hing dort in der Wand und lehnte meine Stirn gegen den kalten Stein. Was tat ich hier nur ?
Wollte ich, dass dieses Mädchen mich fallen sah,dieser kleine Engel?
Ich fasste mich einen Augenblick und kletterte hinab.
Erschöpft fiel ich in den Schnee ,auf dem Rücken liegend bewegte ich meine Arme und
Beine.
„Schau mal Mama,der Mann da ,der macht auch einen Engel.“ Erschrocken setzte ich mich auf.
Die kleine Familie kam zu mir.
„Möchten sie einen Tee.?“ Die Frau reichte mir einen Becher mit heißem Tee.
„Danke,das tut wirklich gut.“ Sie lächelte mich an.
„Sie klettern? Bei diesem Wetter?“
„Ich glaube,ich wollte heute nur meinem Engel nahe sein.“
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Wie sagen die Menschen? Die Zeit heilt alle
Wunden.
Tiefe Wunden hinterlassen auch Narben.
Ich glaube, dass die Narben auf unserer Seele, so verblassen,wie die Narben auf unserer Haut,aber sie sind immer da und ein Teil von uns, aber wir können auch mit Narben glücklich werden.