Dienstag
Noch immer grübelte ich über Claudes Verhalten. Das Ganze machte einfach keinen Sinn. Am Freitag hatte er mich geküsst, obwohl Hendrik erst neulich meinte, er habe eine Freundin. Hatte er sie jetzt oder nicht? Und wenn, warum dann der Kuss? Es erschien mir einfach alles so irrational. Und wo lag der Sinn bei etwas, wenn es nicht logisch war? Genau: Nirgends. Der Sinn war offensichtlich nicht vorhanden.
Dazu kam, dass er den ganzen gestrigen Tag so getan hatte, als sei am Freitag nie etwas gewesen.
Dadurch entzog sich mir der Sinn nur
noch mehr.
Es hatte gerade zur Pause gegongt, als ich mein Schulbuch einpackte und Claude an mir vorbei lief.
"Claude", murmelte ich, sodass er es gerade so hören konnte.
"Was gibt´s?"
"Wir treffen uns gleich draußen, hinter dem Gebäude am Teich. Ich muss mit dir reden."
Er grinste zur Antwort und verließ den Raum, bevor Tobias und Finn sehen konnten, wohin er verschwunden war. Sehr gut.
Ich kam nur kurze Zeit nach Claude am ausgemachten Treffpunkt an und wie ich es mir gedacht hatte, war niemand dort,
der etwas mitbekommen könnte.
"Also, was ist?", fragte er nun und zog die Augenbrauen hoch.
"Nun... Also... Es ist so, dass..."
"...Ja?"
"Du... hast..." Ich stockte, als sich ein Kloß in meinem Hals bildete, unnachgiebig wie ein riesiger Felsbrocken.
"Ich habe was?"
Man! Warum war er jetzt so kühl zu mir...? Ich presste kurz die Lippen aufeinander, um mich nicht von dieser Empfindung von meinem Vorhaben abbringen zu lassen.
"Du... Du hast mich geküsst."
"Ja, das habe ich", sagte er völlig
monoton.
Ich starrte ihn fassungslos an. "Das ist alles, was du dazu sagst? Ist es dir total egal gewesen?" Ich spürte, wie Tränen in meine Augen stiegen, doch noch gelang es mir, sie unter Kontrolle zu bringen.
"He-Hey! Lina!", meinte er erschrocken, als ich den Kampf gegen die Tränen dennoch verlor und kam näher.
Vorsichtig nahm er mich in den Arm. Sein dunkler Mantel war zuerst ganz kalt, doch nach einer Weile wurde es angenehm warm. Und so standen wir dort, er die Arme um mich gelegt, und ich den Kopf an ihn gelehnt. Leise hörte ich durch den Mantel seinen hektischen
Herzschlag.
"Lina, es ist mir nicht egal."
"Warum tust du dann so, als sei nichts gewesen?"
Er seufzte. "Weil ich nicht wollte, dass es jeder mitbekommt."
"Wäre das so schlimm?"
Er schwieg.
Ich atmete tief durch und wiederholte meine Frage: "Wäre es so schlimm?"
"Nun... Weißt du... Genau genommen bin ich noch vergeben..."
Es tat einen Stich in mein Herz. Also hatte Hendrik doch recht gehabt. Unsanft löste ich mich von ihm und stieß ihn weg.
Es traf ihn so unerwartet, dass ich ihn
sogar für eine Sekunde aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. "Lina!"
"Lass mich! Was soll denn das? Du küsst mich, obwohl du eine Freundin hast?`Warum machst du so etwas? Weißt du was? Lass mich bloß in Ruhe. Dieses Verhalten macht mich echt krank!", schmetterte ich ihm entgegen.
Ich wandte mich gerade zum gehen, als er mir hinterher rief: "Ach ja?! Ist das so?! Nun, weißt du was mich krank macht?! Das ich so viel Zeit an dich verschwendet habe!"
Ich hielt inne, als er damit mitten durch mein Herz stach. Mehrfach. Dann schossen mir wieder Tränen in die Augen, als mir bewusst wurde, was das
Verhalten von uns Zwei bedeuten würde. Keine Chance mehr.
Ich ging weiter.
Da hatte ich einen, der mich mochte. Aber er hatte eine Freundin. Aber offensichtlich mochte er mich trotzdem! Und dann... Dann machte ich es einfach kaputt...