„Das Leben in der DDR war tägliche Freiheitsberaubung, und die war sogar nach dem DDR – Strafgesetzbuch strafbar. Die SED – Diktatur hat sich somit täglich strafbar gemacht. Sie war kriminell. Menschen, die sich dem entgegen stellten, wurden zu Staatsfeinden erklärt.“
Wolfgang Welsch, „Ich war Staatsfeind Nummer eins“
„Die Kommunisten sind rotlackierte
Nazis.“
Kurt Schumacher, ehem. Vorsitzender der SPD
„In der Beziehung zwischen den Menschen ist es das Schlimmste, das einem passieren kann, der Willkür eines anderen ausgeliefert zu werden.“
Jean-Jacques Rousseau, franz. Schriftsteller
„Es ist bitter, wie ein Verbrecher behandelt zu werden, wenn man vor seinem eigenen Gewissen unschuldig ist.“ „Alle wissen, RF ist kein Verbrechen, es wird nur in diesem Staat dazu gemacht.“ Tina Österreich, „Ich war RF“
Diese Geschichte widme ich meinen Eltern, die von alldem nichts wussten, bis ich plötzlich weg war …
Geboren wurde ich 1966 im evangelischen Krankenhaus „Maria Heimsuchung“ in Ostberlin und bin in einem unpolitischen, toleranten Elternhaus aufgewachsen. Als Kind interessiert man sich nicht für Politik. Da sind Bäume wichtiger. Oder Tiere. Oder Höhlen. So war es jedenfalls bei mir. Und blaue oder rote Halstücher zu weißen Hemden zu tragen, störte mich damals nicht. Ich verband damit als Kind nichts Schlimmes. Der Pioniergruß unserer Lehrerin Frau Schneider „Seid bereit“, auf den wir
artig mit einem „Immer bereit!“ antworten mussten, war nur eine Floskel und ich hinterfragte auch nie, wozu man „immer bereit“ sein musste. Bei uns zu Hause war Westfernsehen an der Tagesordnung, das war normal, so konnte ich immer ein wenig von der unbekannten weiten Welt dort draußen sehen. Das war für mich alles irgendwie so unwirklich und fern und schon damals als Kind war unbewusst immer ein wenig Fernweh dabei. Ich nahm mir schon seinerzeit fest vor, irgendwann einmal diese ferne Glitzerwelt mit all ihren schönen
Menschen zu sehen. Selbst in unserem damaligen Schwarzweiß - Fernseher erschien mir alles bunter und schöner. Ich hatte den Eindruck, diese Menschen waren ganz anders, als die Menschen um mich herum. Entspannter. Ich konnte es mir nicht erklären. Worin lag der Zauber? In den Ferien bei meiner Oma und meinem Opa waren meine nachmittäglichen Lieblingsserien „Wickie und die starken Männer“, „Heidi“ und „Die Biene Maja“. Damit war für mich die Welt in Ordnung und „Willi und Flip“ waren meine
Helden. Der „Alm Öhi“ war wie ein lieber Opi für mich in meiner kleinen Kinderwelt und „Wickie“ war sowieso der perfekte Alleskönner und Superheld. Als ich ein wenig älter wurde, interessierte mich dann Opas Schuppen im Garten mit all seinen Geheimnissen. Der Garten erschien mir riesig und meine kleine Welt war voller Abenteuer. Der kleine Bachlauf war mein reißender Strom und die Nachbarskatze beherbergte alles an gefährlichen Tieren des Dschungels in sich. Ich liebte den Geruch von altem Holz und auch den rostigen Duft von altem
Eisen. Damit verband ich damals Männlichkeit. So roch auch mein Opa, wenn er in seinem blauen Arbeitsanzug von der Arbeit kam. Es waren die schönsten Jahre meiner Kindheit. Nach der Schulzeit habe ich dann von 1983 – 1985 eine Lehre als Schneider absolviert, aber nie so recht in dem Beruf gearbeitet, die Hauptsache war, etwas gelernt zu haben. 1987 habe ich umgeschult und eine Ausbildung als Linienbusfahrer in Berlin gemacht, irgendwie musste ich beruflich Neuland
erobern. Vielleicht war es auch damals schon einen innere Unruhe, da ich mich mit dem vorherrschenden Zustand nicht zufrieden geben wollte. Nachdem ich die Schule hinter mir gelassen hatte begann ich langsam, immer mehr zu sehen. Und was ich sah, war nicht gut! Ich begann, das System in dem ich lebte, zu hinterfragen. Erst nur für mich, aber das reichte mir nicht. Da musste doch mehr sein, das war doch sicherlich nicht alles. Dann fand ich in einem verbotenen „Udo
Lindenberg - Fanclub“ Gleichgesinnte. Sympathisanten! Und trotzdem traute man sich selbst in diesem Kreise nicht, seine Meinung frei zu äußern, da man überall mit Bespitzelung rechnen musste. Mein Freiheitsdrang war mittlerweile dauerpräsent und ich musste etwas tun! Einen Bus ausleihen, zur Grenze fahren, aufs Dach steigen und rüber? Ja, ich kann es nicht verleugnen, der Gedanke war da! Im Jahr 1989 bin ich dann im Juni nach einem gescheiterten Fluchtversuch in
Bratislava verhaftet worden und bis zur Generalamnestie für politische Häftlinge im November eingesperrt gewesen.
Nach der Generalamnestie folgte meine Ausbürgerung nach Westdeutschland.
Hier arbeitete ich seitdem als Krankenpfleger, Telebusfahrer, LKW-Fahrer, Textildrucker und Schreibtischtäter.
Aber gehen wir zurück ins Jahr 1989
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1989. Die Geschichten über flüchtende DDR-Bürger wurden immer lauter. In Drittländern wurden die Grenzen transparenter und selbst Mitbewohner unseres Mietshauses, die ich für treue, brave Ostdeutsche gehalten hatte, verschwanden über Nacht gen Tschechien oder Ungarn und waren nie wieder gesehen. Ich selbst war nie der größte Freund des Landes, in dem ich aufwachsen musste, aber für Fluchtgedanken war ich bis dahin einfach zu
feige. Sicher, es gab da eine gewisse Unruhe in mir, aber vor den Konsequenzen beim Erwischt werden hatte ich schon gehörigen Respekt. Angeregt durch die tägliche Dauerberieselung in den Abendnachrichten von RTL und SAT1, in denen immer wieder aufs Neue berichtet wurde, wie viele es wieder geschafft hatten, in den Westen zu fliehen, schwand aber meine Feigheit täglich ein Stück mehr. Proportional dazu wuchs mein Optimismus immer mehr und ich beschloss für mich, dass die Grenze irgendwie zu passieren sein
musste. Der Freiheitsdrang wurde immer größer, wahrscheinlich war ich doch schon immer ein unruhiger Geist, der mehr wissen und sehen wollte. Ich hatte mittlerweile nur noch das eine Ziel vor Augen. Ich musste es irgendwie schaffen, in den Westen zu kommen! Hatte ich doch als 11-jähriger schon beschlossen, einmal meinen Onkel in Amerika zu besuchen. Meine Fluchtpläne wuchsen
also. Dem Grenzübergang „Bornholmer Straße“, der an dieser Stelle durch die Bösebrücke beide Stadtteile teilte, stattete ich diverse Besuche ab und es musste, im Nachhinein gesehen, hunderte Fotos von mir in irgendwelchen Archiven gegeben haben. Die Grenzanlagen an der Kiefholzstrasse in Berlin-Treptow kannte ich fast metergenau. Dort war die Mauer nicht mit dem fluchtabweisenden runden Aufsatz versehen. Wo sich jetzt die beliebte und weltbekannte „Eastside - Gallery“
befindet, sollten auch schon Fluchtversuche erfolgreich gewesen sein. Warum sollte es nicht auch mir gelingen? Auch die S-Bahn-Strecke zwischen den Bahnhöfen „Schönhauser Allee“ und „Berlin-Pankow“ übten einen besonderen Reiz auf mich aus. Man fuhr durch Westberliner Gebiet über die so genannte „Ulbrichtkurve“. In diesem Bereich wurden allerdings die Türen extra verriegelt und der Zug fuhr plötzlich deutlich schneller, als üblich. Also auch kein guter Gedanke, es dort zu versuchen. Da ich zu jener Zeit Busfahrer war, überlegte ich ernsthaft, mir einen Bus
„auszuleihen“, damit zur Grenze dicht an die Mauer zu fahren, aufs Dach zu klettern und rüberzuhüpfen. Bis zu einem gewissen Punkt hätte das sicher funktioniert. Einfach vorne das Schild „Sonderfahrt“ rein und ab durch das nördliche Berlin zur Mauer. Den Bus hätte niemals jemand angehalten, da Sonderfahrten in Berlin an der Tagesordnung waren und schon fast zum Stadtbild gehörten. In Schönfließ, etwas nördlich von Berlin, gegenüber dem kleinen Westberliner Örtchen Lübars kam man unglaublich dicht mit einem Fahrzeug an die Grenzbefestigungen
heran.
Das hätte gepasst, der Berliner Linienbus war drei Meter sechzig hoch, genau wie die Berliner Mauer.
Glücklicherweise hörte ich etwa zeitgleich von dem so genannten „Stalinteppich“, der aus Metallmatten bestand, die mit 16 Zentimeter langen Nägeln gespickt waren.
Dieser „Teppich" lag direkt hinter der Mauer und sollte den Flüchtling sofort unsanft stoppen.
Also auch keine ernsthafte Option.
Ich war also nicht untätig in meinen Recherchen.
Irgendwie war mir dann die Nummer mit
dem Bus doch ein wenig zu groß und zu gefährlich und ich wählte die etwas weniger spektakuläre Variante. Alles, was nicht niet - und nagelfest war, versetzte ich innerhalb kürzester Zeit, denn ich brauchte Bargeld für mein Vorhaben. Ich setzte mich abends am 20.Juni 1989 in den Zug nach Bratislava. Da diese Stadt am dichtesten an der Ungarisch-Österreichischen Grenze liegt, war es mein Plan, im Dunkel der Nacht, über die „grüne Grenze“ nach Ungarn und von dort aus nach Österreich zu gelangen. Für den Fall, dass ich gefasst werden sollte, schickte ich am Tag meiner
Abreise noch einen Ausreiseantrag an die entsprechende Behörde.
Nachts in Bratislava angekommen, orientierte ich mich recht schnell und dank eines sogleich erworbenen Stadtplanes wusste ich genau, in welche Richtung ich gehen musste. Blauäugig, die Stadtmauern von Bratislava lagen schon um Einiges hinter mir, wanderte ich also los, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Mein innerer Kompass, auf den ich mich seit jeher verlassen konnte, wies mir den Weg. In der Abenddämmerung hatte ich nur noch wenige Kilometer zu laufen bis zur ungarischen
Grenze. Die Freiheit war in greifbarer Nähe! Mir klopfte das Herz vor Aufregung bis in den Hals. Ich schaffe es. Anders geht es nicht, darf es nicht gehen. Die Jugendlichen, als solche sah ich sie, die im Wald „Schießen“, oder „Pfadfinder“ spielten habe ich, als Gefahr für mein Vorhaben nicht wahrgenommen. Das war leider ein großer Fehler, denn wie sich kurze Zeit später herausstellte, waren es tschechische Grenzschützer und ich wurde kurzerhand von ihnen mit
vorgehaltenen Maschinenpistolen festgenommen. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt. Das konnte doch nicht sein. Die Freiheit in greifbarer Nähe und nun dies. Offensichtlich war ich meinem Ziel, der Tschechisch-Ungarischen Grenze, schon näher, als gedacht. Meine Erklärungen, ich wollte eine Freundin besuchen, zogen bei den jungen Männern nicht und so gut waren meine Tschechisch-Brocken anscheinend auch
nicht. Die Jungens hatten also mit meiner Person gute Beute gemacht und in einer wilden Fahrt ging es mit mir als Trophäe in einem alten „Wolga“ mit quietschenden Reifen ins örtliche Polizeirevier. Es war kein angenehmes Gefühl, mit meinen vier Begleitern im Schlepp, die Treppen hinauf zu steigen, während die jungen Kerle (sie können nicht viel älter als 18 Jahre gewesen sein) hinter mir Schießgeräusche wie „Rattattattata“ machten, wohl um jeden Fluchtgedanken im Keim zu ersticken. Es machte auf jeden Fall großen Eindruck auf mich, denn der Gedanke,
dass einer der Jungs eine Stufe verfehlt und beim Stolpern seine MP sich in meine Richtung entlädt, war nicht sonderlich erheiternd. Gut, ich bin mit dem Gedanken losgefahren, dass es für mich drei Alternativen gibt: 1. Ich schaffe es. 2. Ich werde erwischt. 3. Mich trifft eine Kugel. Man muss bei solch einem Vorhaben natürlich realistisch sein, aber für letztere Variante war ich doch noch nicht wirklich bereit. Aufgrund der prekären politischen Lage derzeit, glaubte man mir natürlich die
Geschichte von der tschechischen Freundin in Grenznähe nicht und ich wurde vorsorglich eingesperrt. Ich hatte mit meinen 22 Jahren noch keinerlei Gefängniserfahrungen, wusste aber sofort, dass ich nicht gerade in einer Zelle der Oberklasse untergebracht war. Es war ein altes, feuchtes und muffiges Kellergemäuer mit beachtlichen Gittern, in dem ich eine Nacht im Dunkeln über meine Missetaten nachdenken durfte. Die schwere Eisentür schlug mit einem lauten Krachen zu. Der Nachhall in meinen Ohren wollte nicht
aufhören. Es hatte etwas Endgültiges. Eingesperrt! Allein! Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Auf was für einen Scheiß hatte ich mich da eingelassen? Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen und grübelte vor mich hin und immer mehr wurde mir die Ausweglosigkeit meiner Lage bewusst. Du bist jetzt tatsächlich im
Gefängnis. Am nächsten Tag bereits wurde ich nach Prag verlegt. Ich war todmüde und funktionierte nur noch wie mechanisch.
Hier bekam ich das erste Mal etwas zu Essen und das Essen war gut! Genau so, wie ich es bereits von diversen Urlaubsreisen kannte. Böhmische Knödel mit Gulasch, das war wirklich lecker. Überhaupt war dort alles anfänglich nicht sonderlich schlimm, man setzte ja voraus, dass ich kooperierte. Die Beamten waren sehr nett und von
jedwedem Druck war nichts zu spüren. Nur die Dauerverhöre zu jeder Tages- und Nachtzeit nervten gewaltig. Als die Verhörspezialisten irgendwann merkten, dass ich es ernst meinte, mit meinem Vorhaben, die DDR verlassen zu wollen und es auf freiwilliger Basis für mich kein Zurück gab, änderte sich das Verhalten meiner tschechischen Freunde. Und nicht nur das Verhalten. Anfänglich war ich in einem ganz normalen Raum mit Schrank, Tisch, Stuhl einem Klo und einem Bett untergebracht. Nur fehlte auf der Innenseite der Tür die Klinke. Die Tschechen waren natürlich in
ständiger Verbindung mit der Stasi und lieferten aktuelle Berichte über die Verhöre ab. Ich argwöhne, dass den Kollegen in der DDR meine fehlende Kooperation nicht sonderlich zusagte. Jedenfalls änderte sich plötzlich der komplette Service und ich wurde am frühen Morgen verlegt. Nicht nur der Ton wurde rauer, der ganze Umgang wurde gröber. Die neuen Räumlichkeiten waren von erstaunlichem Standard. Kellergeschoss! Nach dem Eintreten in meine neue Wohnstätte durch eine sehr kompakt wirkende Stahltür sah ich an der linken
Wand ein ca. 30cm breites, halbrundes Waschbecken aus weiß lackiertem Metall. Direkt im Anschluss an das Becken befand sich ein Tisch, der fest mit der Wand verschraubt war. Vor dem Tisch ein Stuhl, der sich auch nicht verrücken ließ. Auch dieser war festgeschraubt. An der Wand geradezu befand sich kurz unter der Decke ein Fenster, das diesen Namen nicht verdiente. Glasbausteine. Die Wand gegenüber der Sitzgruppe beherbergte mein neues Nachtlager. Dieses war aus gleichem Material hergestellt, wie Tisch und Stuhl.
Flüchtig oberflächenbehandeltes Holz, auf dem eine Decke lag, die verheißungsvolle Nächte versprach. Matratze: Fehlanzeige! Irgendwann geht man mit der jeweiligen Situation mit einer gehörigen Portion Sarkasmus um, denn die unsichtbaren Bewohner der Decke versprachen, nachts war ich ganz sicher nicht allein. Am Fußende des Bettes war ein Loch in den Betonfußboden gelassen mit ca.50cm Durchmesser, welches mit Wasser gefüllt war. In diesem Loch waren rechts und links 2 aus Beton gefertigte Sockel, die die ungefähre Form von Füßen hatten. Ich ahnte, welchen Zweck dieses Loch
im Boden hatte. Daneben stand ein Eimer mit rostigem Wasser. Man bemüht sich natürlich stets um ein wenig Würde, aber irgendwann musste ich diese wenig einladende sanitäre Einrichtung ja doch benutzen. Auf meine Frage nach Papier zeigte man nur auf den Eimer mit dem Wasser. Na toll! So viel zu tschechischer Knasthygiene im Jahre 1989. Die Zelle war ca. drei Meter lang und zwei Meter breit und nach den ersten Stunden des Hin- und Herlaufens wurde ich irgendwann unruhig und dachte, meine Bewacher hätten mich
vergessen. Ich begann, leise in meinem Kopf, vor mich hin zu singen. Was war das denn? Ich war doch ein Rock´n´Roller! War ein großer Fan von Udo Lindenberg, Jimi Hendrix und Deep Purple! Warum nur fiel mir in dieser Situation Beethoven ein? War das schon der erste Schritt zum
Wahnsinn? Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium! Es herrschte absolute Stille, dadurch registriert man jedes Geräusch. So auch das leise Klicken, welches entsteht, wenn das kleine Metallplättchen weggeschoben wird, um den Blick für meine Bewacher freizugeben, die durch das Guckloch in der Tür zu mir herein schauten. Wir betreten feuertrunken, Himmlische dein
Heiligtum.
Alle Menschen werden Brüder…
Das passte zwar nicht an diesem schrecklichen Ort, half mir aber irgendwie dabei, die Sache erträglicher zu machen.
Endlich essen! Man hatte mich also nicht vergessen! Ich hatte einen riesigen Hunger und wahre Glücksgefühle stellten sich bei mir ein, als ich durch eine Klappe in der Tür eine Schüssel mit dampfendem Inhalt gereicht bekam. Ich stellte die Schüssel auf dem Tisch ab, um besagten dampfenden Inhalt zu untersuchen. Mein Hunger schwand urplötzlich, als ich sah, was ich essen sollte. Es war heißes Wasser, in dem ein paar Graupen schwammen und wie zum Hohn ein paar Stückchen unrasierter Scheiben
fetter, grauer Speckschwarte. Ich aß nur das Brot, welches dazu gereicht wurde und zweckentfremdete das Loch neben dem Bett, indem ich den Inhalt der Schüssel hineinschüttete. Das war also mein Abendessen! Irgendwann forderte der Körper sein Recht und ich wurde müde. Ich wickelte mich in die Decke ein und versuchte zu schlafen, was auf der grob behandelten, harten Pritsche und dem Dauerlicht nicht ganz einfach war. Leise plätschernde Geräusche aus dem Loch im Fußboden ließen erahnen, dass ich nun noch zusätzlich nächtlichen Besuch bekam. Ich sah nicht hin, da ich nicht wissen
wollte, welcher Art diese Tierchen waren, tippte aber auf einen langen nackten Schwanz am Ende der Tiere. Zu allem Unglück kam noch, dass die durch einen Drahtkäfig geschützte Lampe über der Tür tatsächlich die ganze Nacht brannte. Schließlich musste ich dann doch eingeschlafen sein. Wilde Träume über meine ungewisse Zukunft ließen mich diese Nacht aber in keine Tiefschlafphase kommen. Am nächsten Morgen wurde ich unsanft, polternd durch den Wärter geweckt, der mir mein Frühstück
brachte. Dieses Menü setzte sich zusammen aus dem Brot vom Vorabend und einer undefinierbaren schwarzgrauen Scheibe Wurst. Die Wurst folgte unverzüglich der Suppe des vorigen Abendessens. Dazu wurde eine Kanne kalten Tees serviert, der einfach nur süß und ohne Geschmack war. Aber ich habe es ja nicht anders gewollt und schließlich war ich nicht im Hotel. Augen zu und durch. So vergingen die nächsten Tage absolut ohne
Abwechslung. Jeden Tag das gleiche Frühstück und dasselbe Abendbrot. Jeden Tag natürlich auch das gleiche Ritual, die „Lebensmittel“ zu entsorgen. Die Zwischenzeit verbrachte ich damit, durch die Zelle zu laufen, oder bei Festbeleuchtung zu schlafen. Das Licht war nach wie vor unentwegt an. Mittlerweile hatte ich auch einen abenteuerlichen Körpergeruch angenommen, den ich so an mir noch nicht kannte. Ich musste feststellen, nicht alles, was der Körper produziert, duftet wie ein
Blumenladen. Normalerweise lege ich größten Wert auf Körperhygiene, aber inzwischen hingen meine sonst so gepflegten langen Haare fettig und strähnig an mir herunter und meine untere Gesichtshälfte zierte ein beachtlicher Bartwuchs. Ich sah aus, wie Robinson Crusoe. Das kalte Wasser aus dem Wasserhahn über dem kleinen Waschbecken an der Wand war nur zu unregelmäßigen Zeiten angestellt und bis zum letzten Tag habe ich es nicht geschafft, dahinter ein System zu entdecken. Gelegentlich hörte ich glucksende Geräusche aus dem Gemäuer und in der Hoffnung auf fließendes Wasser machte
ich einen Satz zum Waschbecken, drehte auf … und war pitschnass!
In der nächsten Sekunde war dann kein Wasser mehr da.
Nach genau einer Woche in diesem Prager Etablissement wurde ich zu einem elegant gekleideten Herren gebracht, der von mir wissen wollte, ob ich immer noch vor habe, die DDR zu verlassen.
Ich hatte!
Also wieder runter in meinen bekannten Keller und warten.
Diesmal dauerte die Warterei allerdings nur wenige Stunden und völlig unvorbereitet wurde ich in ein Auto gesetzt und die Fahrt ins Ungewisse ging los.
Wie sich kurze Zeit später herausstellte, kamen wir an einem Flugplatz an. Dort wurde ich von einigen deutschen Bediensteten übernommen. Die Handschellen wurden mir abgenommen und den tschechischen Behörden übergeben. Edler deutscher Stahl legte sich um meine Handgelenke. Man informierte mich darüber, dass bei einem Fluchtversuch sofort geschossen wird. Ja, wo sollte ich denn hin? Meine neuen Bewacher fuhren mit mir übers Rollfeld in einen entlegenen Teil des
Flughafens. Ich sah, wir fuhren zu einer Propellermaschine der russischen Fluggesellschaft Aeroflot. Wir bestiegen die Maschine und ich traute meinen Augen nicht. Das Flugzeug war voll mit verwilderten, stinkenden Kreaturen, die genauso jämmerlich aussahen und wohl ebenso rochen, wie ich. Jeder von ihnen hatte einen anzugtragenden Begleiter neben sich sitzen, der deutlich gepflegter war und auch sicher angenehmer duftete. Alle dieser absonderlichen Pärchen waren durch Handschellen miteinander
verbunden.
Nun war mir klar, dass ich in einem Sammeltransport für Republikflüchtige gelandet war und es zurück in die DDR ging.
Nach ca. 1,5 Stunden Flug kamen wir in Berlin an und wurden jeder einzeln in verschiedenen Autos abtransportiert.
Nun lernte ich die so genannte „grüne Minna“ kennen. Ein kleiner LKW mit Kastenaufbau und innen auf jeder Seite fünf Blech-Spinde nebeneinander, wie man sie von der Arbeit her kennt, allerdings mit Sitzen drin. Ich wurde in einen dieser Spinde eingeschlossen und musste mich setzen. Das war gar nicht so einfach, da der Platz für die Knie sehr begrenzt war. Es war dunkel und stickig, nur drei kleine Lüftungsschlitze sorgten dafür, dass man ausreichend Luft bekam, um den Transport zu
überleben. Der Fahrer der „Minna“ hatte es offensichtlich sehr eilig, denn ich wurde, soweit es der Platz zuließ, in den Kurven ordentlich hin und her geworfen. Abstützen ging auch nicht so einfach, da ich ja mit den Handschellen sehr eingeschränkt war. In Berlin-Hohenschönhausen angekommen wurde ich erst einmal sehr gründlich körperlich untersucht. Diese Untersuchung hieß unter anderem, unbekleidet auf einen Tisch zu stehen und dem Mitarbeiter der Staatssicherheit mit seinen Gummihandschuhen gewähren
lassen. Er war sehr gründlich in seinem Bemühen, meine sämtlichen Körperöffnungen kennenzulernen. Nach dieser entwürdigenden Behandlung wurde ich, vorbereitend für weitere Verhöre, sehr grob in eine Zelle geworfen. Ich möchte hier nicht weiter auf die körperliche Gewalt eingehen, die ich in den nächsten Tagen erfahren sollte. Nur so viel, die Schläge wurden wohldosiert eingesetzt und platziert, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Ich hatte mich ja schließlich mit meinem staatsfeindlichen Verhalten des schlimmsten Verbrechens schuldig
gemacht, was man laut DDR-Recht nur konnte. Das Programm mit dem Dauerlicht wurde auch hier konsequent durchgezogen. Am nächsten Morgen, nach einem spartanischen Frühstück, gab es wieder stundenlange Verhöre, dieses Mal durchgeführt von einem Anzugträger der Stasi. Er wechselte seine Verhörmethoden ständig. Mal brüllte er mich an, mal bot er mir sogar freundlich eine Zigarette oder einen Kaffe an. Diese Verhöre wurden zur Beweisaufnahme durch so genannte Schallaufzeichnungen
mitgeschnitten. Während der Verhöre hatte ich still auf meinem Stuhl sitzen zu bleiben und mich nicht zu bewegen. Die Handinnenflächen hatten sich auf dem Stuhl unter meinen Oberschenkeln zu befinden. Jede Bewegung, die ich machte, um mich in eine bequemere Sitzposition zu bringen, wurde als Aggression meinerseits gewertet und mit einem lauten Knall schlug der Gummiknüppel vor mir auf den Tisch. Bei der Gelegenheit sah ich, obwohl ich erst einen Tag zurück in der DDR war, war meine Akte schon beachtlich dick. Das hatte wohl damit zu tun, dass die
tschechischen und die deutschen Behörden bereits sehr intensiv miteinander gearbeitet hatten. Bei den Verhören kam natürlich nicht viel raus, da ich immer wieder nur bestätigte, in jedem Fall die DDR verlassen zu wollen. Für kurze Zeit wurde ich wieder weggesperrt, um anschließend wieder eine Fahrt mit der „Minna“ zu überstehen. Es ging nach Berlin-Rummelsburg in Untersuchungshaft. Ab sofort hieß ich „Inhaftierter Dräger“. Auf dem Marsch in meine neue Wohnstatt hatte ich mit "Blick auf den Boden" zu
laufen. Sprechen war nur erlaubt, wenn ich angesprochen wurde. Fragen meinerseits waren nicht vorgesehen. Bei jedem Stopp, d.h. Übergang in einen anderen Zellentrakt, bei dem Gittertüren auf- und wieder hinter uns zugeschlossen wurden, hieß es "Gesicht zur Wand". Wovor hatten die Angst? Ich hatte doch noch meine Handschellen um! Beim letzten "Gesicht zur Wand" schloss der Wärter eine Zelle auf, drinnen hörte ich hastiges Stühlegescharre und ein gemurmeltes "Herr Obermeister,
Verwahrraum 215 mit drei Inhaftierten belegt." Der Herr Obermeister schnarrte nur: "Neuzugang." Hier gab es für mich nach zirka zwei Wochen die ersten sozialen Kontakte, denn wir waren zu viert in der Zelle, die laut Beamtendeutsch „Verwahrraum“ hieß und links an der Wand hintereinander zwei stählerne Doppelstockbetten zu stehen hatte. Gegenüber der Tür befand sich wiederum ein blickdichtes Fenster aus einer seltsamen Kombination von Glasbausteinen und Glasscheiben. Unter dem Fenster befand sich ein Tisch
mit drei Stühlen. Der Verwahrraum war für vier Inhaftierte ausgelegt und auf dem Bett sitzen war verboten, also musste immer einer stehen. Gegenüber der Doppelstockbetten war an der Wand ein kleines Schränkchen von der Größe eines Arzneischränkchens angebracht, welches, wie ich später erfuhr, Kleidung, Kosmetika und Geschirr für jeden von uns vieren aufnehmen sollte. Das war nun wirklich ein Witz, aber irgendwie ging es. Nachdem ich in die Zelle gesteckt wurde, fragte der Wärter in die Runde, ob jemand Haare schneiden
könne. Allgemeines Verneinen. So wurde einer meiner Mithäftlinge unfreiwillig zu meinem Friseur bestimmt und musste mir meine langen Haare auf ein ordentliches deutsches Maß kürzen. Auch zu dieser Zeit schon dauerte eine Friseurlehre drei Jahre und ohne eine solche Ausbildung kommt man einfach zu keinem seriösen Ergebnis. Wie schon gesagt, man entwickelt in Haft einen gewissen subtilen Humor, wahrscheinlich als Schutzfunktion. Kurzum, ich sah nach dem Haarschnitt aus, wie ein strubbeliger Punk, der aus
einem Scheren-Testlabor ausgebrochen ist und ... man mag mich engstirnig nennen, aber es machte die Sache nicht besser. Sollte das alles tatsächlich den Sinn haben, mich zu bessern, zu diesem Staat „Ja“ zu sagen? Meine Mitbewohner waren Klaus, der auch wegen Republikflucht einsaß und zwei „normale“ Kriminelle namens Mario und Thomas. Die beiden letztgenannten saßen angeblich wegen irgendwelcher Diebstahlsdelikte. Jeder hat hier seine Geschichte und was
daran wahr ist, kommt meist nie ans Tageslicht. Oftmals wurden Gefangene mit politischem Hintergrund mit Stasi-Spitzeln zusammen „verwahrt“. Man wusste nie, wem man trauen konnte und war dementsprechend misstrauisch. Mit Klaus verstand ich mich sofort, hatten wir doch den gleichen Hintergrund, was unser Hiersein betraf. Von ihm erfuhr ich auch, dass ich nun ein 213er war. Damit konnte ich rein gar nichts anfangen. Das hieß im Amtsdeutsch, der Tatbestand der Republikfluch wurde im DDR Gesetzbuch geführt unter dem
§213.
Ab sofort hatte der Begriff „Zeit“ eine ganz neue Bedeutung.
Bis auf zwei weitere Verhöre war die U-Haft recht langweilig und wir wurden erfindungsreich. Da Spiele zum Zeitvertreib im Verwahrraum verboten waren, man war ja schließlich in Haft und nicht im Urlaub, mussten wir uns natürlich selbst etwas ausdenken und so drehten wir die Tischplatte, bei der die Schrauben schon etwas wackelig waren, einfach um und bemalten sie mit Bleistift schön regelmäßig und gleichmäßig mit Kästchen. Somit hatten wir die Grundlage für ein
Brettspiel. Die Figuren bastelten wir aus Brot, von dem immer genügend zur Verfügung war. Kräftig durchkauen, ein Figürchen nach eigenem Geschmack formen und auf dem Fensterbrett trocknen lassen. Je nach Talent kamen da recht lustige Ergebnisse bei heraus. Da die Figuren nur eine begrenzte Haltbarkeit hatten, musste natürlich dafür gesorgt werden, dass immer genug da waren, dadurch sah unser Fensterbrett immer aus, wie ein ausgekippter Ü-Ei-Setzkasten. Es war natürlich zu hören, wenn jemand kam. Der Flur hatte einen Steinfußboden und
die Schuhe der Wärter hatten harte Hacken. Bei nahender Gefahr drehten wir schnell die Tischplatte wieder um und waren plötzlich in Gespräche vertieft. Erfindungsreich waren wir auch, wenn es darum ging, zu rauchen. Tabak war absolute Mangelware. Mit den Aluminiummessern, die wir mittags in der Zelle hatten, schabten wir von unseren Stühlen schnell kleine Späne ab und rollten diese in Zeitungspapier, welches ausreichend zur Verfügung stand. Schließlich bekamen wir jeden Tag das „Neue Deutschland“ hereingereicht, um uns politisch auf dem neuesten Stand zu
halten. Fertig waren die Zigaretten. An den Sitzflächen der Stühle war deutlich zu erkennen, dass wir nicht die ersten waren, die auf diese Idee kamen. Irgendwas musste man ja rauchen und Hauptsache, es qualmte! Zahnpasta ging auch, einfach rein ins Zeitungspapier, auf der Fensterbank gründlich austrocknen lassen und fertig war eine Menthol-Zigarette. Für etwas geschmackliche Abwechslung sorgte auch die Füllung der Matratzen. Hat zwar furchtbar geschmeckt, aber wenn man Raucher ist, gibt man sich auch mit weniger
zufrieden. Sehr unangenehm, aber irgendwie gewöhnt man sich an alles, war die Tatsache, dass die Toilette in der Zelle war. Man war zwar, wenn man drauf saß, bis auf Brusthöhe durch eine hellgrün lackierte Holzwand vor den Blicken der anderen geschützt und die Zellengenossen schauten meist diskret zur Seite, aber jegliches „Geschäft“ konnte man natürlich nicht vor den Mitinhaftierten verbergen und große Geschäfte sind selten leise. Ständig zogen abenteuerliche Düfte durch unser
Stübchen. Die regelmäßige Fütterung mit Schwarzbrot und Tee hatte bei jedem der Mitinsassen einen hervorragenden Stoffwechsel zur Folge. Aber man stumpft irgendwann ab und gibt sich seinen körperlichen Bedürfnissen hin. Und wir waren ja nur zu viert. Es gab auch Stuben mir größerer Belegung. Die Namen, oder Spitznamen, von zwei Wärtern haben sich bei mir bis heute eingeprägt. Einer der beiden wurde „Texas“ genannt, denn er war der angeblich schnellste
Schließer von Rummelsburg. Er war gefühlte zwei Meter groß, hatte eine rotblonde Borstelfrisur und einen stacheligen Schnauzer in gleicher Farbe. Seine Besonderheit bestand darin, nach dem Schließen in Cowboymanier den Schlüsselbund wie einen Revolver noch einmal um den Zeigefinger kreisen zu lassen und dann mit einem kurzen Ruck am Gürtel zu befestigen. Er war zwar ein rhetorischer Grobian, das erwartet man auch von Wärtern, aber er behandelte wenigstens jeden gleich. Egal, warum man drin war. Der Zweite wurde nur immer Pitti genannt. Er ähnelte aber auch sehr der beliebten
Figur „Pittiplatsch“ aus dem DDR-Kinderfernsehen. Wir machten uns ständig einen Spaß daraus, wenn wir wussten, dass er nahte, über den Flur mit Falsettstimme in Pittiplatschmanier zu rufen: „Ach du meine Nase!“ Kurze Anmerkung; das kennen sicherlich nur Ossis. Er war zu offensichtlich von der Natur benachteiligt und hatte sicher schon in der Schule nicht viel zu lachen. Klein, dicklich, glatzköpfig mit einem Haarbürzel auf der Stirn, immer hektische, rote Flecken im Gesicht und immer außer Atem. Wenn man solchen Menschen einen
verantwortungsvollen Posten gibt, bei dem sie Macht über andere Leute haben und nach Lust und Laune herumkommandieren können, ist das meist eine gefährliche Kombination. So war es dann auch. Willkürlich zog er Inhaftierte zu Strafarbeiten heran. Er war auch der einzige Wärter, der gerne und oft auf Socken über die Flure lief, um jemanden bei etwas Verbotenem zu erwischen. Am Meisten hatte er es auf Politische abgesehen, da diese ja nach seinem Rechtsverständnis die schlimmsten Straftäter waren. Was ist dagegen schon schwere
Körperverletzung, Kindesmissbrauch, Raub oder Totschlag? Lieber zehn Kriminelle, als einer wegen RF. Jeden Abend um die gleiche Zeit gab es ein Gepolter auf den Gängen. Riegel auf, Türen werden aufgerissen. Der Stubenälteste musste Meldung machen, dass wir alle noch vollzählig waren. Ja, wo sollten wir denn hin? Nachteinschluss! Tür fliegt rummsend ins Schloss, Riegel zu. Licht
aus! Ich versuchte dann immer, an etwas Schönes zu denken. An etwas, wofür es an diesem Ort keine Worte gab. Ich lag auf dem Rücken und da waren sie wieder, meine nächtlichen Begleiter. Erst rechts, dann links. Glitzernd, leise und heiß. Ich hatte hier gelernt, geräuschlos zu weinen. Heiß liefen meine salzigen Freunde mir die Wangen hinunter. Wenigstens etwas, worauf man sich verlassen konnte. Der einzige private Luxus, den man sich
hier leisten konnte und was einem niemand nehmen konnte. Es sollte kein anderer mitbekommen. War es bei den anderen ebenso? Darüber redete man nicht und es wurde auch nicht gefragt. Ungeschriebenes Gesetz. Dieses andere, dieses normale Leben war inzwischen so weit weg. Wie lange würde dieser Horror hier noch dauern? Das hier war alles so unreal und durfte eigentlich nicht wahr sein. Ein hoch auf den friedliebenden Arbeiter- und Bauernstaat.
Nach einiger Zeit wurde Thomas nach seiner Verurteilung in den Strafvollzug verlegt und wir bekamen einen Neuen auf die Zelle. Das Schlimmste, was uns passieren konnte, denn wir bekamen nach kurzer Zeit heraus, es war ein Kinderschänder! Im Nachhinein muss ich sagen, dass der neunzehnjährige Bengel eigentlich nicht in den Knast gehörte, sondern für die restliche Zeit seines Lebens hinter geschlossene, psychiatrische Mauern. Er sah die Schwere seiner Tat sehr gelassen und wollte uns sogar davon erzählen! „Aber ich hab doch nur….“ Hier möchte ich nicht ins Detail gehen,
es sollte sich nun jeder selbst seinen Reim drauf machen. Wir gingen nicht gerade zärtlich mit ihm um und auch heute noch, mehr als zwanzig Jahre später, bin ich immer noch sehr erschrocken über mich selbst. Wie sehr kann man sich in jungem Alter, angestachelt und aufgeheizt durch die Gruppendynamik, zur Selbstjustiz verleiten lassen. Heute schäme ich mich dafür, denn wie gesagt, der Junge war psychisch krank und gehörte nicht hierher. Er war auch nicht lange auf unserer Zelle und wir erfuhren einige Zeit später, dass er nach, seiner Verlegung in eine andere Zelle, eine Aluminiumgabel aß,
um in den Sanibereich zu kommen, wo er vor Repressalien anderer Mitgefangener besser geschützt war. In der U-Haft gab es auch eine Bibliothek, dadurch waren ständig Bücher im Umlauf. Ich las schon immer sehr gerne und vertrieb mir damit die langweilige Zeit des Wartens. Die Auswahl war allerdings sehr gewöhnungsbedürftig. Nur politisches Zeugs, das ich in Freiheit niemals in die Hand genommen hätte. Erschwerend für den Lesegenuss kam noch hinzu, dass einige Mithäftlinge die Bücher mit Fluchtplänen und allerlei
Schwachsinn dekoriert und oftmals auch die Seitenanzahl arg dezimiert hatten.
Aber Hauptsache, die Zeit verging, so wurde alles gelesen.
Nach ca. vierwöchigem Warten wurde ich wieder mal aus der Zelle geholt und mir wurde auf dem Gefängnisflur meine Anklageschrift zur Kenntnisnahme gezeigt. Normalerweise bekommt diese jeder ausgehändigt, aber bei Häftlingen mit politischem Hintergrund machte man da großzügig eine Ausnahme. Einmal kurz in Anwesenheit eines Wärters durchlesen, unterschreiben und wieder abgeben. Wenige Tage später wurde ich meinem Anwalt vorgestellt. Meine Eltern, die ich anschreiben durfte,
hatten sich für mich darum gekümmert, dass ich Rechtsbeistand von Herrn Dr. W. Vogel bekam. Dieser war unter den politischen Häftlingen sehr prominent und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass er schon einigen Republikflüchtlingen während des Gefängnisaufenthaltes den Freikauf in den Westen ermöglicht hätte. Es war natürlich nicht Dr. Vogel selbst, der mich vertrat, sondern einer seiner Angestellten. Als ich beim ersten Gespräch mit ihm an seinem Revers diese bekannte kleine ovale Anstecknadel mit den beiden abgeschnittenen Händen sah, schwand mir gleich jeglicher
Mut. Parteigenossen konnten bei solch einem Verbrechen, welches mir angelastet war, ihren Job nicht mit voller Überzeugung erfüllen. Es war letztendlich auch nur amtliches Geschwafel, wie ich mich vor Gericht zu verhalten hätte, etc. In einer kleinen Minna wurde ich zum Gerichtsgebäude nach Berlin-Friedrichshain gekarrt. Wie immer die Warnung, dass bei einem Fluchtversuch sofort von der Waffe gebraucht gemacht würde. Was für ein
Schwachsinn. Wo sollte ich denn hin? Wegrennen, mit der eisernen Acht an den Handgelenken? Ich war aufgeregt, wie noch nie. Würde ich doch in Kürze das erste Mal in meinem Leben vor einem Gericht stehen. Die Verhandlung selber war eine Farce und irgendwie lief alles ab, wie in einem Film. Außer meinen Eltern, die dabei sein durften, sah ich nur in fremde Gesichter. Laut Aussagen von Busfahrer-Kollegen der BVB, die als Zeugen geladen waren, war ich ein Mitarbeiter, dessen Arbeit als
durchweg schlecht zu bewerten war. Warum ließen sie mich dann einen Linienbus lenken? Was war mit den Sonderprämien für Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, die ich bekam? Ich bewertete diesen ganzen Mist nicht weiter, es war doch sowieso alles nur kommunistisches, vorprogrammiertes Geplänkel. Zum Selbstschutz baute ich eine Nebelwand um mich herum auf und hoffte, dass diese kuriose Veranstaltung bald ein Ende
hatte. Aufgerüttelt wurde ich erst, als man mir die schwere meiner Tat vor Augen führte und mir zusätzlich zu meinem politischen Verbrechen noch Devisenschmuggel zur Last legte. Devisenschmuggel! Seit Jahren schon hatte ich in meiner Geldbörse ein fünf- Pfennig- Stück „Westgeld“ als Glücksbringer. Das sollte mir nun zum Verhängnis werden! Dieser kleine Talisman verlängerte meine angedachte Haftstrafe von sechs auf neun
Monate. Mein Entlassungstag war somit offiziell der 21. März 1990. Es war bis dahin allgemein bekannt, dass bis zu der Zeit die Haftstrafen für RF(Republikflucht) noch bei ca. eineinhalb Jahren lagen, aber durch die plötzlichen Massenfluchten im Jahr 1989 hatte man die Strafen deutlich heruntergesetzt. Wahrscheinlich, um die Gefängnisse vor Überfüllung zu bewahren. Es ist wohl müßig, zu erwähnen, dass ich mit meinen Eltern am Verhandlungstag keinen Körperkontakt haben
durfte.
So erzieht man junge DDR – Bürger zur Staatstreue.
Nun war ich also abgeurteilt und mein künftiger Name war „Strafgefangener Dräger“.
Nach wiederum einigen Wochen des Wartens kam ich mit einigen Mitgefangenen, alle RF, auf Transport in die Haftanstalt.
Vorher tauschten wir noch Adressen aus.
Ich sollte später lernen, dass dieser Austausch nie ernst gemeint ist.
Für den Moment vielleicht ja.
Mit Klaus sicherlich, aber mit Mario,… würde ich je schreiben?
Aus den Augen, aus dem Sinn.
Man weiß natürlich vorher nie, wohin es geht. Dies sollte eine abenteuerliche (Tor)Tour werden. In einer „Sammel-Minna“ wurden wir zu einem Bahnhof gebracht und über unterirdische Flure und Gänge, die im Normalfall niemand zu Gesicht bekommt, zu unserem Zug geführt. Unser Waggon war sofort zu erkennen. Sämtliche Fenster waren mit weißer Farbe blickdicht lackiert. Unser, durch die Handschellen, klirrendes Häuflein Gefangener durfte dann in den Abteilen Platz nehmen. Diese Abteile waren offensichtlich für Zwerge gebaut, oder für eine
Kindergartengruppe. Jeweils zwei von uns saßen auf einer Holzbank nebeneinander und unsere Beine mussten wir mit den Oberschenkeln unseres Gegenübersitzenden verschränken. Wenn da einer mal zur Toilette raus musste, was einem nur nach mehrmaligem Fragen gewährt wurde, entstand immer ein großes Durcheinander. Als Reiseproviant gab es für jeden eine Papiertüte mit einem Apfel und einer Klappstulle drin. Dazu gab es eine große Kanne Tee für alle. Langsam fuhr unser Zug los und hielt
nach einiger Zeit wieder, dann wurde unser Waggon abgekoppelt, vergessen, wieder angekoppelt und die Fahrt ging weiter. Wieder stundenlanges Stehenbleiben, Weiterfahren und so weiter. Irgendwann verliert man das Zeitgefühl. Ich weiß nur, draußen wurde es zweimal dunkel. Somit waren wir ca. drei Tage (ständig mit Handschellen gefesselt, wir waren schließlich Schwerverbrecher) unterwegs, für eine Strecke, die ich
heute zwei Stunden mit dem Auto fahren würde. Das war aber sicherlich keine Absicht von unseren Begleitern. Niemals würde ich da Boshaftigkeit unterstellen. Nebenbeigesagt habe ich mir auf dieser kleinen Reise eine sogenannte Steißbeinfistel, auch genannt Jeep-Krankheit eingehandelt, die nach meiner Haftentlassung operativ entfernt werden musste. Aber ich war ja ein Schwerverbrecher und wollte es nicht anders. Der Zug hielt ein letztes Mal und wir waren an unserem Bestimmungsort
angekommen.
Von einem Knast in Riesa haben wir bis dahin nichts gehört.
Von dem bekannten Stahlwerk schon.
Wir wurden wieder durch finstere Gänge des Bahnhofs geführt.
Es gab uns ja offiziell nicht, wir sollten für die Augen normaler DDR – Bürger nicht zu sehen sein.
Mit einem Bus wurden wir nach „Zeithain“ gefahren, dort sollte mein Quartier für die nächsten Monate sein.
Der Bus fuhr mit uns durch die so genannte Schleuse in den Gefängnishof. Wir stiegen aus und mussten Aufstellung nehmen. So sah es also in einem Knast aus. Eine zweistöckige Baracke in Form von einem spiegelverkehrten „L“. Der kurze Schenkel dieser Baracke war, so sollte ich bald erfahren, der Büro-, Sani-, und Küchenbereich. Im langen Schenkel waren die ca. zwei bis dreihundert Strafgefangenen untergebracht. Ab sofort herrschte militärischer Drill. Alles ging nur noch im „Gleichschritt“
und auch sonst war hier alles sehr kurios. Jeden Tag gab es nachmittags den Befehl: „Rrrraustreten zum Postempfang!“. Diesem Befehl folgten alle sehr willig, wollte doch jeder Nachricht von seinen Lieben haben. Das Ganze spielte sich dann wie folgt ab: Es wurde von einem Uniformierten mit hochrotem Kopf gebrüllt: „Strrrafgefangener Drrräger!!!“ Und man hatte dem hochroten Kopf laut und deutlich mit Vornamen und Geburtsdatum zu antworten: „Jens!
5.11.66!“.
Danach bekam man seine Post ausgehändigt, die in aller Regel, selbstverständlich zu unserer Entlastung, schon geöffnet und gelesen war.
Dieses Ritual wiederholte sich täglich.
Man hätte meinen sollen, so nach zwei bis drei Wochen hätte sich der Uniformierte Wachmann das Gesicht des Strafgefangenen Dräger doch merken können, aber weit gefehlt.
In zweiwöchigem Abstand durfte man, so man eine Sprecherlaubnis hatte, Besuch empfangen. Dies hieß im Knastjargon, man hatte
„Sprecher“. Selbstverständlich musste der jeweilige Besucher vorher angemeldet und genehmigt sein. Als erstes besuchte mich meine Mutter. Was für eine Situation..., jeder von uns beiden auf einer anderen Seite eines Tisches, der durch eine Glasscheibe in der Mitte gegen verbotenen Körperkontakt gesichert war. Ich liebe meine Mutter und irgendwie gelang es mir, sie in den Arm zu nehmen, worauf ich mir gleich einen verbalen Rüffel vom Wachpersonal einholte. Das war mir allerdings in diesem Augenblick egal, sollten sie doch
schimpfen und zetern, diesen wohligen Moment, nach langen Monaten ohne Liebe, wieder meine Mutter im Arm halten zu können, werde ich nie vergessen. Das war Nahrung für die junge Seele. Man ist mit zweiundzwanzig Jahren nicht so cool und abgeklärt, wie man es seine Umgebung glauben machen will und im Gefängnis ist man, trotz der vielen Mithäftlinge, so alleine, wie nirgendwo anders. Die Zeit in Haft hat mich sehr geprägt und dort habe ich unter anderem gelernt, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern
kann. Meine neue Zelle für die nächsten Monate war zu ebener Erde, vorletzte Tür links, drei Mitgefangene. Diesmal ohne Innen-Klo. Aus dem Fenster war ein großer, rotbesandeter Sportplatz zu sehen, auf dem wir uns in unserer Freizeit täglich aufhalten konnten. Auch so eine Kuriosität, einerseits Freizeit, andererseits „Im Gleichschritt marsch!“ zum Essen fassen, andererseits Freizeit in lockerer Atmosphäre. Ach, wie ich dieses Essen vermisse! Sonntags gab es immer Nudeln mit
Suchgulasch. Wenn man eine Faser Fleisch fand, war das wie ein Jackpot. Ansonsten jeden Tag Pellkartoffeln mit wechselnden vegetarischen Beilagen. Fleisch war, wie gesagt, Luxus. Als Neuzugang wurde ich erst einmal ausgiebig „beschnüffelt“ und ausgefragt. Jedes Alter war hier präsent. Von achtzehn bis siebzig war alles vertreten. In Zeithain waren neunzig Prozent der Insassen, genau wie ich, RF. Dadurch verstand man sich dort auf Anhieb. Durch meine Ausbildung als Schneider wurde mir nach einer Zeit der
Langeweile eine Arbeit in der Kleiderkammer zugewiesen. Was für ein Glück für mich. Die meisten Gefangenen arbeiteten im „Stahlwerk-Riesa“ und dort gab es sehr oft schwere Arbeitsunfälle. Mal fehlte einem Gefangenen ein kleiner Finger oder Daumen, schwere Verbrennungen waren fast an der Tagesordnung. Aber da wir ja fast alle Politische Gefangene waren, wurde von Seiten des Personals mit Mitleid sehr sparsam umgegangen. Solche Sachen passieren einfach und wir wollten es ja nicht besser, sonst wären wir ja nicht an diesem
Ort. Ich hatte da in meiner Kleiderkammer ein relativ ruhiges Leben, durfte andere Sträflinge „an der Nadel“ ausbilden und war auch sonst recht beliebt unter den Mithäftlingen. Hier erfuhr ich auch das erste Mal, dass wegen Republikflucht einsitzende Gefangene gelegentlich tatsächlich auf Transport nach Karl-Marx-Stadt ins Stasi-Gefängnis gingen und von dort aus in den Westen „abgeschoben“ wurden. Bisher hatte ich dies für ein Gerücht gehalten. Wir in der Kleiderkammer erfuhren
schon recht bald, wer es war und wann es auf Transport ging.
Der Sommer war bald vorbei und es ging auf den Herbst zu. Von den Montagsdemos erfuhren wir nur Gerüchteweise und auch Genschers Auftritt am 30. September auf dem Balkon der Prager Botschaft war für die Meisten von uns nur ein Gerücht, dem man wenig Glauben schenkte. Und dass fünftausend DDR-Bürgern aus der Tschechischen Botschaft heraus die Ausreise nach Westdeutschland erlaubt wurde, war für uns alle schlichtweg ein
Märchen. Von dem, was wirklich draußen passierte, bekamen wir nichts mit. Meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag feierte ich am 05. November 1989 in Zeithain. Einige Mithäftlinge aus meiner Zelle hatten etwas von dem dort üblichem Zahlungsmittel, einer Art Spielgeld, für mich gesammelt und mit geklauten Zutaten aus der Küche für mich eine Torte backen lassen. Es war eine Situation, auf die man nicht vorbereitet war. Erst den Geburtstag im Knast und bald geht es auf Weihnachten
zu. Selbst der Hartgesottenste bekam da schon bei dem bloßen Gedanken feuchte Augen. Jeden Abend wurden wir politisch mit einem abwechselnden Programm „geimpft“. Bücherlesungen, Vorträge über unser schönes sozialistisches System und Videovorträge mussten wir täglich über uns ergehen lassen. Der friedliebende Arbeiter- und Bauernstaat tat alles, um uns zu braven DDR - Bürgern umzuerziehen. Beim allabendlichen Fernsehen, die „Aktuelle Kamera“ war ja schließlich Pflichtprogramm, wurde nun allerdings
schon offiziell von den Montagsdemos berichtet. Die Wärter wurden immer unruhiger und von den Neuzugängen wurden wir über die neuesten Nachrichten informiert. Dass am vierten September die erste Montagsdemonstration in Leipzig stattfand. Dass am elften September die Grenze von Ungarn zu Österreich geöffnet wurde und innerhalb von drei Tagen fünfzehntausend DDR-Bürger in den Westen flohen. Dass bereits am 25. September
achttausend Menschen in Leipzig demonstrierten, am 9.Oktober waren es schon 70 000, am 16.Oktober 120 000 Menschen. Dass am 4.November über fünfhunderttausend Menschen friedlich auf dem Berliner Alexanderplatz für Reformen demonstrierten. Es war der 9. November, 19:30 Uhr, die Aktuelle Kamera begann. Was nun kam ist mittlerweile deutsche Geschichte. Betroffenes Schweigen, fast allen
Männern, ob zwanzig oder siebzig Jahre alt liefen leise die ersten Tränen herunter. Mit dieser Information von Herrn Schabowski konnte keiner so recht umgehen. Warum waren wir jetzt noch hier? Wie geht es in den nächsten Tagen weiter? Schon am nächsten Tag war es offiziell. Die erste Generalamnestie für politische Häftlinge auf ostdeutschem Boden wurde verkündet. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit
und der Organisation, bis wir entlassen wurden. Ich bin am 12. November 1989 um elf Uhr dreißig entlassen worden. Es war ein seltsames Gefühl, aus der Haft entlassen zu werden.
Nach einem halben Jahr wieder private Sachen tragen zu können, persönlichen Schmuck und eine Armbanduhr, alles fühlte sich so anders an. Mein Vater holte mich ab und wir fuhren nach Berlin. Im ersten Dorf, in dem wir ein Restaurant sahen, hielten wir an, um
etwas zu essen. Ein zart gegrilltes Schweinesteak mit Letscho und Pommes war für mich der absolute Hochgenuss. Mein Magen hatte sich allerdings schon an die wenig gehaltvolle Gefängniskost gewöhnt und konnte mit diesem Essen leider nichts anfangen. Kurz, ich brachte auf der Toilette das Essen wieder heraus, verschwieg dies aber meinem Vater, damit er sich keine Sorgen machte. Ich lernte erst langsam in der nächsten Zeit, wieder normales Essen bei mir zu behalten. Nach der ersten Nacht in Freiheit fuhr
mein Vater mit mir nach Westberlin und abends wieder zurück. Mehr wollte ich doch nicht. Ebenso, wie viele meiner ehemaligen Mitgefangenen. Innerhalb der nächsten zwei Wochen nach meiner Haftentlassung sollte ich mich bei der Polizeidienststelle Berlin - Friedrichshain melden, wegen meiner Ausweispapiere. Hier bekam ich am 27.11.1989 einen letztmaligen Tritt der Justiz der DDR zu spüren. Einen Ausweis gab es für mich nicht mehr. Nur noch einen Übergangsausweis
namens Identitätsbescheinigung mit einem Stempel:
„Zur einmaligen Ausreise in die BRD bis zum 28.11.1989“.
Somit war ich nach derzeitigem DDR Recht gezwungen, innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen.
Zu jeder Zeit zieht sich in den Gefängnissen der Republik das Wort „Amnestie“ durch, wie ein roter Faden.
Ich habe sie erlebt.
Eine Nacht verbrachte ich nach einer Zugfahrt im zentralen Aufnahmelager in Gießen. Dort fragte man mich am nächsten Morgen nach meinem bevorzugten Bundesland. Da ich schon immer den Norden liebte, gab es für mich nur Schleswig Holstein als Option. Am gleichen Tag bin ich mit einer Hand voll Geld und einer Fahrkarte in einen Zug gesetzt worden und in ein kleines Aufnahmelager ins Holsteinische Kalifornien gefahren. Somit war ich meinem Onkel in Amerika
schon näher als gedacht und geplant. Unterwegs schaute ich unentwegt aus dem Fenster, um alles in mich aufzunehmen. Ich war wie ein ausgetrockneter Schwamm und genoss, trotz des Spätnovembers, den Anblick eines jeden grünen Grashalms und jeden Baumes. Es hätte in diesem Moment nichts Schöneres geben können. Ohne Zweifel gibt es in den nunmehr neuen Bundesländern auch wunderschöne Gegenden, aber ich hatte in dem Augenblick das Gefühl, angekommen zu
sein. Dazu kam, dass ich in den letzten Monaten nicht allzu viel Natur gesehen hatte. Da war in dem Moment eine stille, fast besinnliche Euphorie in mir, die kein Außenstehender je hätte verstehen können. In Kalifornien habe ich auch nur eine Nacht verbracht. Am nächsten Tag las ich eine örtliche Stellenausschreibung. Ich rief dort an und bekam sofort den Job als Krankenpfleger in einem psychiatrischen Pflegeheim. Der Chef holte mich tags darauf persönlich mit seinem Jeep ab und zeigte
mir auch gleich ein eigens für mich eingerichtetes Zimmer für die Übergangsphase. Die Arbeit machte Spaß. Die Menschen, die ich kennenlernen durfte, waren durchweg nett. Ich glaube fest daran, dass ich aus meinem in der Haft Erlebten die Kraft zog, um den Patienten in dem Pflegeheim ein guter Pfleger sein zu können. Bald zog ich in meine erste eigene Wohnung. Es war eine Einliegerwohnung in einem Zweifamilienhaus. Von meinem Wohnzimmerfenster aus konnte ich die Ostsee
sehen. Ich verliebte mich in das platte Land. Die Ostsee konnte ich zu Fuß erreichen. Die Luft wehte mir bei meinen Spaziergängen glasklar und salzig um die Nase.
Nach all den Monaten der Entbehrung erschienen mir hier sogar die Mädchen hübscher, als anderswo.
Oftmals unternahm ich in den nächsten Monaten lange nächtliche Spaziergänge an die See, um die Weite, die Freiheit und die Natur zu spüren. Lange saß ich dann am Strand, die nackten Füße im weichen Sand vergraben und hörte den Wellen
zu. Manchmal ließ ich in dieser intimen Situation meinen Tränen einfach freien Lauf. Und auch das war in diesem Moment das Gefühl absoluter Glückseligkeit und Freiheit. Hier hatte ich, nach langer Suche, Frieden in meinem Herzen gefunden. Ich durfte frei denken. Ich konnte meine Meinung frei äußern. Ich musste mich nicht vor Repressalien
fürchten. Frei! Jetzt war ich endlich frei. Das fühlte sich gut an. 1990 habe ich dann meine Frau kennen und lieben gelernt. Sie war Lehrerin im damaligen Ostberlin. Es hätte die Option bestanden, dass sie zu mir an die Ostsee zieht und auch eine Stelle als Lehrerin bekommt, aber der Schritt wäre zur damaligen Zeit für sie zu groß gewesen. So zog ich denn wieder nach Berlin. Ein dreiviertel Jahr später schon haben wir
geheiratet. Heute wohnen wir in einem kleinen Haus, etwas außerhalb von Berlin. Jahrelang konnte ich mit ihr nicht über das Erlebte sprechen. Es fiel mir unwahrscheinlich schwer, mich an all die schmerzhaften seelischen Demütigungen zu erinnern und verschlossene Türen verursachen bei mir immer noch ein ungutes Gefühl. „Unsichtbare Tränen“ von Viktor
L. Nahezu unbemerkt werden sie täglich vergossen, knapp bevor die Seele zu ertrinken droht. Von jedem und zu jeder Zeit. Oftmals sind sie vollkommen unauffällig, und versammeln sich heimlich, still und leise. Bevor sie als Wasserfall in die Tiefe stürzen. Sie entwickeln dabei eine unfassbare Kraft, die den ganzen Körper durchströmt. Kein Tuch kann sie trocknen. Ab und zu trauen sie sich an die
Oberfläche,
doch der Alltagswind trocknet sie schnell.
Denn ein getrübter Blick ist nicht gern gesehen.
Ich sitze hier an meinem Laptop und stelle fest, vor fast einem Viertel Jahrhundert bin ich aus der DDR-Haft entlassen worden. Drei Tage nach der Amnestie für politische Häftlinge. Es war sicherlich nicht alles nur gut, was ich nach meiner Ausbürgerung in den Westen erlebte und das war mir von vornherein auch klar, andererseits wusste ich auch vorher, dass mich ein anderes politisches System in Westdeutschland erwartete, wo der Kopf, das Herz, der Glaube und die Seele
sich frei entfalten durften. Aber was muss ich in ostdeutschen Landen in den letzten Jahren erleben? Viele der Menschen, die 1989 „wir sind das Volk“ skandierten, sind heute „LINKE“-Wähler! Wie geht das? Das ist nachweislich die neue SED! Aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hervorgegangen, wurde sie die PDS, die Partei des Demokratischen Sozialismus, mit all ihren Mitgliedern,
die am 16. Juni 2007 mit der WASG zu DIE LINKE verschmolz. Was ist mit Leipzig, was mit Dresden, was mit Berlin-Hohenschönhausen? Diese stolzen Menschen von damals, die den Mut aufbrachten, friedlich Arm in Arm gegen dieses DDR-Unrechtsregime, in dem man eingesperrt war, menschlich und geistig klein gehalten wurde, zu demonstrieren. Hochburgen der PDS, beziehungsweise der heutigen „LINKEN“! Nur der Name hat sich
geändert… Viele wollen gar die Mauer wiederhaben! Einige reden von „guten alten Zeiten“. Es gibt heute Geschäfte mit Ostprodukten und sogar Messen dafür. Sicherlich sind diese Produkte nicht schlecht gewesen, aber es wird mittlerweile ein wahrer Kult darum betrieben. Haben diese Menschen nichts aus der Geschichte gelernt, oder alles verdrängt, …
vergessen? Ich bin so fassungslos. Nach über zwanzig Jahren wird die DDR von einigen, vorwiegend Ostdeutschen Zeitgenossen, eindeutig verklärt dargestellt. Mittlerweile gibt es sogar Ostalgiepartys, auf denen die DDR verherrlicht, gar verniedlicht wird. Laut werden hier die alten Arbeiterlieder gesungen. Die Teilnehmer an solchen Partys sind
meist jüngere Menschen, die nicht einmal ansatzweise das Leben in der DDR ertragen mussten und keine Ahnung haben, wie es in diesem Regime vor sich ging. Man solle sich doch nicht so haben, es war doch alles nicht so schlimm damals. Doch! War es! Und dann das andere politische Extrem in vorwiegend ostdeutschen Ländern. Rechtsradikalismus! Terrorismus gegen friedlich leben
wollende Mitmenschen! Wo kommt dieser Hass her?
Hass gegen Mitmenschen, die eine andere politische Einstellung haben.
Hass gegen Mitmenschen, die eine andere sexuelle Orientierung haben.
Hass gegen Mitmenschen, die eine andere Hautfarbe haben Zschäpe, Mundlos, NSU, NPD, dieser ganze braune Dreck! Meine Liebe zu diesem unserem Land, auf das ich einmal sehr stolz war, hat leichte Risse bekommen, aber
nachwievor lebe, liebe und arbeite ich gerne hier. Nur manchmal, … manchmal fühlt es sich falsch an. Meine Frau und ich hatten vor zwölf Jahren das Angebot, für zwei Jahre in den USA zu arbeiten. Leider spielten gesundheitliche Probleme Schicksal und es kam nicht dazu. Wir haben Freunde in Ungarn, in Polen, in den USA und andere Bekannte, Asiaten, Afrikaner,
Türken. Alles liebe Menschen, die in sogenannten „no go areas“ Angst haben müssten. Eines Tages habe ich Klaus, ja genau den ebenso wie ich republikflüchtigen Klaus aus dem Untersuchungsgefängnis Berlin-Rummelsburg, durch einen Zufall wiedergetroffen. Er schimpfte wie ein Rohrspatz über das System, in dem wir jetzt lebten. Er war arbeitslos und hatte sich sowieso alles ganz anders
vorgestellt. Wenn er das vorher gewusst hätte, hätte er damals nicht versucht, abzuhauen. Ja was wollte er denn? Man bekommt nirgendwo etwas geschenkt und die vielzitierten gebratenen Tauben habe ich auch noch nirgendwo fliegen sehen. Meine Frau und ich haben auch mittelschwere bis schwere Zeiten hinter uns, ich war auch schon arbeitslos und es gab größere gesundheitliche Probleme, aber irgendwie bekommt man
alles bewältigt, insbesondere, wenn man in jeder auch noch so schwierigen Situation zusammenhält.
In Liebe, Achtung und Respekt,
Jens
baesta Genau so war es, wie Du es beschreibst. Der Vater einer Freundin war jahrelang in Bautzen im "gelben Elend" inhaftiert, nur weil er sich nicht in die LPG zwingen lassen wollte. Wer nicht so mitmachte, wie unsere ehemalige politische Elite er vorschrieb, der wurde einfach "ausgesondert". LG Bärbel |
Montag Ein sehr beeindruckender Bericht. Es sollten sich viel mehr Zeitzeugen melden und ihr Erlebnisse veröffentlichen. Es wird viel zu wenig verdeutlicht, dass Menschen wie du, Opfer eines Staats - Verbrechens wurden. Ich wünsche dir und deiner Familie einen guten Rutsch und ein gutes neues Jahr. Viele Grüße Montag |
fantasy66 Liebe/r Montag, herzlichen Dank für´s Lesen und Kommentieren. Ich freue mich immer sehr darüber, wenn ich Menschen mit meiner Geschichte erreichen und zum Nachdenken anregen kann. Heute wird dieser Unrechtsstaat leider wirklich verniedlicht und das macht mich einfach wütend, dass alles Schlimme vergessen wurde. Dir und Deinen Lieben natürlich auch ein schönes und vor allem gesundes Jahr 2014 LG, Jens |
fantasy66 Liebe Manuela, vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich dachte, Du kanntest die Geschichte schon von der anderen Community. Ich habe sie hier noch einmal etwas überarbeitet veröffentlicht. Und ....ja, ich habe mich mit dieser Geschichte etwas "freigeschrieben", auch wenn man das Erlebte nie vergessen wird. LG, Jens |