Was man nicht weiss...
Es war ein äußerst nichtssagender Tag. Ein Lüftchen wehte halbherzig vor sich hin – ohne lebhaft genug zu sein, um Blumen auch nur ansatzweise zu berühren. Nicht einmal die Sonne hielt es für nötig, den heutigen Tag dauerhaft mit ihren Strahlen zu beehren. Die Einzigen, die sich an diesem unbeständigen Sonnenschein erfreuten, waren am Wegrand liegende Glasflaschen, weil sie so um die Aufmerksamkeit der pfandgierigen Obdachlosen wettglänzen konnten. Hin und wieder traf man auf zerrupfte Krähen, die mit gierig glitzernden Knopfaugen in Mülleimern nach potentieller Nahrung gruben. Jedes andere Leben schien sich heimlich, still und
leise verkrochen zu haben.
Weiß Gott, wohin.
Im Großen und Ganzen hatte dieser Tag soviel Flair wie ein Paar ausgebeulter Jeans. Nichts, woran man sich in zwanzig Jahren – bestimmt genügten auch schon zwanzig Tage – noch erinnern würde.
Marla kniff die Augen zusammen angesichts der plötzlichen Helligkeit. Vielleicht würde ihr eben dieser Tag gerade wegen seiner exemplarischen Unwichtigkeit in Erinnerung bleiben. Mit Worten wie: »Ach ja, damals! Das war doch der Tag, dessen Bedeutungslosigkeit für die Geschichtsbücher so bahnbrechend war, dass man ihn einfach nicht vergessen kann!« würde sie als alte
Dame einmal in Melancholie schwelgen. Bestimmt. Denn das, was sie heute vollbracht hatte, durfte auf keinen Fall in Vergessenheit geraten.
… Welches Datum war heute doch gleich?
Wie um sich ihrer diffusen Gedankengänge zu entledigen, schüttelte Marla fest den Kopf. Das Datum musste über dem Zehnten liegen, darüber liegende Tage konnte sie sich am schlechtesten einprägen … Heute war doch ein Sonntag, oder?
Maurice zog an seiner Leine und löste sie mit einem kläglichen Maunzen aus ihrer geistigen Abwesenheit. Der pummelige Kater hatte sich hilflos verheddert. Während Marla sich
bückte, um ihn aus seiner Misere zu befreien, blieb ihre besorgte Miene bestehen.
Sie fuhr mit beiden Händen durch Maurices dichtes, graues Fell und murmelte schließlich: „Ach, Maurice, wie bitteschön soll ich in zwei Wochen noch an heute denken können, wenn es doch schon am Datum hapert? Keiner tut irgendwas, die Natur gibt genauso wenig Spannendes her wie die Menschen. Das macht's für mein löchriges Gedächtnis nicht unbedingt einfacher, ehrlich.“
Der Kater nestelte nur an seinem Geschirr. Marla musste lachen.
„Ja, ist heute Premiere für dich und die Leine, nicht? Aber ich dachte mir, öfter mal was Neues kann nicht schaden. Mit den ganzen Glasscherben hier überall will ich nicht, dass
du alleine rumstreunst und dir womöglich noch wehtust. Das verstehst du doch, oder?“
Maurice bearbeitete nach wie vor die störende Leine.
„Oh, warte“, meinte sie daraufhin schmunzelnd, „ich hab was für dich.“
Sie begann, in ihrer geldbörsengroßen Handtasche zu wühlen, womit ihr zumindest die Aufmerksamkeit ihres Katers gewiss war.
„Hm, ich bin mir fast sicher, dass –“ Marla kräuselte ihre Augenbrauen. „So ein Mist aber auch! Die schöne Tasche! Warum hab ich blöde Kuh die Plastiktüte bloß vergessen?“
Unter den hungrigen Blicken von Maurice förderte sie ein kurzes Messer zutage, das
gerade noch so Platz in der Tasche gefunden hatte. Halb geronnenes Blut befleckte sowohl Schneide als auch Griff.
Mit spitzen Fingern kehrte Marla die Innenseite ihrer Tasche nach außen, besah sich den Schaden aufs Genaueste und seufzte an Maurice gewandt:
„Das mit dem Leckerli wird wohl nichts mehr. 'tschuldige.“
Der Kater maunzte sehnsuchtsvoll, während sie ein Taschentuch mit ihrem Speichel anfeuchtete und begann, heftig damit am bereits eingetrockneten Blutfleck zu scheuern.
„Uh, das Taschentuch fusselt ja schon. Verdammt, warum muss Blut denn ausgerechnet … nun ja … eben blutrot sein
und das Innenfutter cremefarben…“
Marla schüttete den Inhalt ihrer Tasche unwirsch über dem Gehsteig aus, stapfte zum nächsten Mülleimer und entledigte sich kurzerhand des Messers sowie der Tasche selbst. Eine Krähe plärrte empört über die Störung bei ihrem Abfall-Lunch und auch Maurice war versucht, das Weite zu suchen. Der Wind blies weiterhin gleichmütig.
„Ich hätte doch besser den Dünger in die Nudeln tun sollen, dann wäre mir das zumindest erspart geblieben“, überlegte sie laut, während sie sich zum Gehen wandte. „Obwohl…“
Marla machte schnell Kehrt und fischte ihre Besitztümer wieder aus dem Müll.
Siegessicher lächelnd hielt sie sie in die Höhe, als handele es sich dabei um die Gebeine Jesu. Ein Zigarettenstummel löste sich beifällig von der Tasche und landete in ihren Haaren.
„Vielleicht ist das ja nicht mal so schlecht“, sie kicherte, „wenn sonst schon nichts Interessantes los ist, warum sich nicht eigenhändig die interessanten Umstände schaffen? Selbst ist die Frau! Ich könnte sie mir einrahmen lassen!“
Es war Sonntag.
Sonntag, der 27. Mai. Dreizehn Uhr Vierundzwanzig. Familien tummelten sich um den Festtagsbraten; Vögel wühlten im Blumenbeet.
Der Wind wehte mäßig bis schwach; die Sonne mimte die Diva. Plötzliche Regenschauer wischten subtil über das Land und dämpften die Eindrücke.
Es herrschten durchschnittliche 19 Grad Celsius.
Eine durchschnittliche Temperatur für einen ebenso durchschnittlichen Tag.
„Komm, Maurice, zu Hause wartet noch Arbeit auf uns“, sagte sie strahlend, „mal sehen, ob er mir den Tag – seinen Tag – noch unvergesslicher machen kann … sofern er noch nicht abgekratzt ist.“
Ein ganz besonderer durchschnittlicher Tag
aber für Marla.
Und wahrscheinlich auch für ihr Opfer.