Hello, Dolly!
Ich fand ihren abgetrennten Kopf beim Schwammerlsuchen neben einer malerischen Gruppe von Fliegenpilzen. Ihr roter Mund war weit aufgerissen und der Ausdruck schwankte zwischen Entsetzten und Lust.
Das verbliebene Büschel an blonden Haaren stand wirr in alle Richtungen und war von Moos und Flechten hellgrün eingefärbt. Die Wangen ließen noch ein mattes Rosé erahnen und aus den kleinen Ohren krochen Nacktschnecken. Trotz weiterer Suche war vom übrigen Körper weit und breit keine Spur zu entdecken. Dafür schnitt ich nur ein paar Meter weiter den schönsten und größten
Herren- oder Steinpilz in meiner Laufbahn. Er brachte daheim satte 567 Gramm auf die Waage.
Von da an stattete ich ihr regelmäßige Besuche ab. Mal war der Kopf ein paar Meter weiter geschleift worden, mal steckte er spielerisch auf einem abgestorbenen Eichenstamm. Junge Füchse und Kinder hatten ihn wohl zu ihrem Spielzeug auserkoren.
Ich nannte sie Dolly und flüsterte ihr ein zärtliches „Hello“ zu, als ich sie sah. Ich hob sie immer hoch, wenn ich vorbeikam, und ließ sie in meinen prall gefüllten Korb schauen. Netzstielige Hexenröhrlinge, Maronen, Schopftinlinge
und später im Jahr dann die Totentrompeten - das Pilzjahr war so gut wie keines bisher.
„Schau, was ich gefunden habe“ rief ich, und ihre noch tiefrote Zunge klappte heraus, als ich den Kopf nach vorne neigte. Ich glaubte, sie lächelte fast ein wenig. Unsere Kühltruhe platze aus allen Nähten und meine Frau schimpfte, wenn ich über Tage das Wohnzimmer zum Trocknen der wertvollen Funde in Beschlag nahm.
Das Jahr neigte sich dem Ende zu und bald würde Weihnachten vor der Tür stehen. Meine Besuche bei Dolly wurden zunehmend weniger, da mit dem
einsetzenden Schneefall selbst die späten Sorten wie Judasohr, Samtfußrübling und Austernseitling kaum noch zu finden waren.
Dolly sollte ihre letzte Ruhe bekommen, beschloss ich.
Ich bereitetet ihr eine anonyme und angemessene Beerdigung. Um meine Frau nicht zu verunsichern, packte ich den Kopf aus Silikon in eine „Tüte ohne Werbung“ und steckte ihn ganz unten in die Tonne mit dem Recyclingmüll. Darüber gab ich eine Lage leerer Dosen Hundefutter, da ich wusste, dass meine Angetraute sich davor ekelte.
Beim Einpacken fiel mir noch das Preisschild in die Hände, das anscheinend in ihren Haaren gehangen haben musste. „Dolly für den lustvollen Mann. 579.- Mit Echthaarperücke“
Wessen Frau mag sie wohl gewesen sein?
Wir hatten geruhsame Weihnachten und diesmal gab es statt Würstchen mit Kartoffelsalat eine neuerfundene kräftige Suppe von Waldpilzen. Warum ich das Rezept „Hello Dolly“ nannte, konnte ich meiner Liebsten leider nicht sagen.