Ein Wintermärchen
Der Wind zerrt an den Haaren. Eisig durchdringt er jede noch so sorgfältig verpackte Kleidung und durchfröstelt die Körper der Leute, die sich durch Luft und Wetter wagen. Der Boden ist gar nicht zu sehen, weil viel zu viel Schnee in den letzten Tagen von oben kam – eine Seltenheit, die die Leute nur aus der Vergangenheit her kennen. Aber er ist auch gut, der Schnee, denn dann knirschen die Schritte wieder so lustig wie wenn man durch einen dichten, trockenen Blätterhaufen tanzt. Im Moment fällt keiner herab. Also kein Blätterhaufen.
Und erst recht auch kein neuer Schnee. Kann ja auch nicht, weil er ja schon unten liegt. Man müsste ihn wieder hochwerfen, damit er wieder herabfallen kann. Doch kam bisher noch niemand auf die Idee, dies zu tun. Nur die Kinder werfen besonders geformte Schneeflocken, auch Bälle genannt, die dann aber auch wieder nach unten kommen, wobei diese eher waagerecht fliegen und irgendetwas treffen wollen…
Doch jetzt pustet nur der Wind dem die Haare durcheinander, der keine Mütze auf
dem Kopfe trägt. Hier und da sieht man Krähenspuren im flauschigen Weiss. Der Schnee sieht so einladend aus, dass man sich nur noch hinlegen und Schneeengel machen möchte. Doch die Menschen tragen andere Gedanken im Kopf. So wie der, von dem die Geschichte handelt…
Herr Rie klappert mal wieder die Läden ab. Er ist auf der Suche nach etwas ganz Besonderem. Etwas…hm…, wie soll man es ausdrücken? Jedenfalls soll es geschmackvoll sein. Er kommt gerade aus der Drogerie Bananis, die neben dem Bäcker Schmalz steht. Seht ihr ihn? Da, den kleinen Mann, der wie ein Junge aussieht. Herr Rie feiert dieses Jahr zwar schon seinen
vierzigsten Geburtstag, sieht aber im Grunde genommen aus wie ein fünfzehnjähriger Junge. Das hat Vorteile und Nachteile. Der Vorteil ist, dass er immer etwas geschenkt bekommt, wenn er beim Bäcker einkauft. Eine Scheibe Wurst, oder einen Keks. Der Nachteil an der Sache ist aber, dass er, weil er so klein ist, nicht so gut an Sachen herankommt, die hoch oben in den Regalen und Schränken stehen, aufgrund seiner kurzen Arme und - manchmal seinen Ausweis zeigen muss, damit er überhaupt bestimmte Dinge des täglichen Lebens kaufen kann. Denn manches darf man nur als Erwachsener kaufen, Kinder jedoch dürfen nicht alles bekommen. Wo kämen wir hin, wenn sie Bier und Kartoffelschälmesser
kaufen könnten… Das geht nicht! Da kann man sich verletzen. Und Flaschen kann man nur im Beutel tragen, wenn man lange Beine hat, sonst schleift der Inhalt nämlich auf dem Gehweg. Und so muss Herr Rie manchmal seinen Ausweis zeigen, damit der Verkäufer ihm glaubt, dass er tatsächlich so alt ist, wie er vorgibt zu sein.
Wobei…es könnte ja auch ein falscher Ausweis sein, der einfach auf Papier aufgemalt wurde, doch hat Herr Rie bisher immer Glück gehabt, denn er besitzt einen
echten.
Vielleicht sollten wir ihn kurz beschreiben. Herr Rie heißt mit Vornamen Theo und ist unverheiratet. Er hat auch keine Freundin, weil er einfach viel zu tun hat, um sich darum zu kümmern. Und die Mädchen, die ihn gern als Freund haben möchten, sind ihm nicht alt genug. Und die Frauen, die er haben möchte, meinen, er sei zu jung…
Er hat wie jeder, der wie Fünfzehn aussieht, etwas kurze Beine und natürlich auch kurze Arme. Aber das wisst ihr ja nun schon. Wenn ihr ihn von hinten seht, und wenn er einen Rucksack trägt, könntet ihr annehmen, dass es sich um einen Schuljungen handelt, oder auch um einen Buben, der gerade auf
Wanderschaft ist. Sein Kopf ist mit dichtem, blondem Haar bedeckt. Die Nase ist etwas klein geraten, die dafür aber spitzbübisch aus dem mit kleinen Lachfältchen geschnitztem Gesicht lugt. Die Augen scheinen immer schelmisch zu blinzeln, und genau aus diesem Grunde kommt uns sein Wesen so fröhlich herüber.
Herr Rie kann aber auch traurig sein, manchmal sogar zornig. Seine Gefühle zeigt er so wie alle Menschen, die zeigen, welche Stimmung gerade in ihnen steckt. Manchmal
unterstützen die Arm- und Beinbewegungen seine Laune. Dann wackeln sie, oder zeigen auf etwas. Wobei Herr Rie im Moment nicht gerade gut gelaunt ist. Schließlich ist er auf der Suche nach etwas Besonderem, etwas Geschmackvolles und findet nichts…
Herr Rie liebt nämlich Tee! Ganz besondere Sorten, ja! Einfallsreiche Mischungen! Phantasievoll Andersschmeckendes. Nicht die Schönheit spielt da eine Rolle, sondern der Geschmack. Denn Tee soll doch gut schmecken. Wobei nicht alles, was angeboten wird, tatsächlich lecker sein kann, es kommt eben auf den eigenen Geschmack an, ob man Apfelsine mit Lakritze vermischt in der Tasse haben möchte.
Manch einem mundet das Gemisch, andere schwören da eher auf Kaffeebohnentee – ein Aufguss von viel Wasser auf ganz wenig Kaffeepulver. Oder eben auf andere Sorten, die man nicht immer aussprechen möchte - zum einen, weil sie unaussprechlich scheinen - zum anderen, weil man sich auch nicht alles zumuten möchte, was in den Geschäften angeboten wird, wie zum Beispiel Bockwursttee mit Senfhaube, oder Karamell-Popel-Tee. Nein, es muss schon etwas sein, was Herrn Rie zum Hopsen bringt. Was ihn an
den Rand der Verzückung bringt und ausrufen lässt:
„Ohhhh…!“
Doch weder in der Bäckerei Schmalz, noch in der Drogerie Bananis hatte er bisher Glück. Leider gibt es in dem Dorf, in dem Herr Rie einkaufen will, keinen Teeladen. Wobei er eigentlich dort auch nicht hinein möchte, weil jede Nase dort vom Duft tausender Gerüche ebenso erschlagen wird wie in einem Parfumgeschäft. Wenn es wenigstens einen Tee geben würde, der genauso riecht und schmeckt, wie die Wolke aus dem, was man riecht, wenn man in ein Teegeschäft kommt… Oder in einen Parfumladen. Wobei es auch
Teesorten gibt, die an Parfums erinnern und anders riechen als sie schmecken. Da gibt es zum Beispiel einen Tee, der wie alte Schuhe schmeckt, aber wie Jasmin riecht. Wobei es sicherlich auch ein Parfum gibt, das ähnliche Eigenschaften aufweisen könnte. Nee, nee, Herr Rie ist da ganz froh, wenn er sich nicht in einen solchen Laden aufmachen muss. Allerdings gibt es in diesem Dorf hier nicht viele Möglichkeiten.
Herr Rie – aber nennen wir ihn Theo – eben weil er wie ein Junge aussieht, auch wenn er keiner ist, wohnt in einem Dorf, das durch eine kleine wilde Wiesenfläche an den dahinterliegenden Wald angrenzt. In dem Wald stehen gaaaanz viele Bäume. Deshalb
heißt der Wald auch „Wald“. Würde da nur ein Baum stehen, wäre es kein Wald mehr. Aber auch zwei Bäume dürfen sich nicht Wald nennen.
Erst wenn es…viele sind, dann ist es einer. Mehr weiß Theo auch nicht. Aber das ist in dieser Geschichte auch egal. Das Dorf, namens „Pipselwitz“…, werdet ihr auf keiner Landkarte entdecken, so klein ist es. Es gibt vier Häuser und eine Drogerie. Und natürlich den Bäcker, der nicht nur Brötchen anbietet, sondern auch Wurst und Käse, da es keinen
Fleischer in Pipselwitz gibt. Jeder Bewohner scheint zufrieden zu sein und wenn man sich auf der einzigen Straße, die das Dorf durchschneidet, sieht, grüßt man sich höflich. Auch Theo! Und wenn die Leute ihn sehen, und er grüßt und dabei winkt, zum Beispiel, wenn er auf der anderen Straßenseite steht, denken sie immer: so ein netter Junge. Und Theo lächelt beglückt, weil er ja kein Junge ist, auch wenn er so aussieht.
Theo wohnt in dem vierten Haus am Ende von Pipselwitz, das an die wilde Wiese angrenzt, die von ihm oft und gern besucht wird.
Er setzt sich dann auf einen dort herausragenden Stein und beobachtet die Ameisen und Schmetterlinge. Dabei ist ihm aufgefallen, dass die Schmetterlinge gar nicht so laut schmettern, wie sie es vom Namen her eigentlich müssten. Und die Ameisen sehen auch eher wie I-Meisen aus. Und manche können sogar fliegen. Sie fliegen
in den Bockshorn, in den Lavendelbusch, krabbeln zwischen den wilden Zwergrosenzweigen herum und purzeln über Salbeiblätter. Auch die Schmetterlinge schmettern oft dazwischen, sodass es stets eine Lust ist, das ganze Durcheinander zu betrachten.
Wenn die Winde warm wehen und die Sonne die Baumwipfel kitzelt, geht Theo am liebsten auf die Wiese. Hier und da zupft er Blätter vom Salbei ab, die ihm besonders schön erscheinen. Die werden dann im Haus am Fenster auf einem Blech getrocknet und in einem dafür beschrifteten, dunklen Schraubglas aufbewahrt. Von den Rosenblättern sammelt er auch bisweilen
welche, je nachdem ob es besonders schöne, farblich gehaltvolle Blätter sind, oder ob der kleine Busch einfach zu viele davon trägt. Oder weil Theo gerade Lust hat, etwas zu sammeln. Warum er nun keinen Löwenzahn sammelt, weiß er auch nicht. Er pustet lieber, wenn aus den Blüten Pusteblumen geworden sind.
Theo sammelt am liebsten Lavendel, Rosenblätter und Salbei. Ab und zu noch ein Veilchen – davon aber nur die Blüte, aber nur, wenn genug Veilchen auf der Wiese
stehen, damit die Bienen auch welche finden. Theo findet, dass die Wiese ruhig auch mal nur aus Veilchen bestehen könnte, denn dann könnten die Bienen, wenn sie die Blüten bestäuben, blauen Honig machen. Und das wäre mal etwas Besonderes, Geschmackvolles… Doch irgendwie klappt das nicht! Genausowenig wie grüne Milch, die die Kühe geben müssten, bei all dem grünen Gras, das sie den ganzen Tag fressen…
Doch nun liegt auf der Wiese gaaaanz viel Schnee. Und auch der Wald trägt weisse Zipfelmützen. Deshalb gibt es keine Schmetterlinge und auch keine I-Meisen. Und keine Blätter, die Theo sammeln könnte. Es
gibt nur Krähenspuren im Schnee und die knirschenden Schritte, wenn Theo zu seinem Haus geht. Dort ist es warm, denn im Zimmer steht ein großer Ofen. Gleich daneben hängt an der Wand ein Regal, das nicht ganz so hoch von Theo selbst dort angebracht wurde, ohne dass er auf einen Hocker steigen müsste.
Auf dem Regal stehen all die vielen Gläser mit den gesammelten Blättern. Theo kommt also ins Haus und setzt sich an den Ofen, der gerade besonders schön warm ist.
Wo soll Theo etwas Besonderes, etwas Geschmackvolles herbekommen? Er könnte sich einen Schneemann neben dem Ofen bauen, denn draußen ist es ja kalt. Vielleicht mag der Schneemann auch Wärme? Vielleicht könnte man ihm beibringen, Wärme zu mögen. Wobei es wohl einfacher ist, gleich eine Schüssel mit Wasser auf den Fußboden zu stellen und eine Möhre reinzulegen. Denn wenn der Schneemann zu lange am Ofen schwitzt, sieht er irgendwann auch so aus. Wie eine Schüssel mit Wasser, in dem eine Möhre schwimmt.
Nein – Theo möchte etwas Besonderes, Geschmackvolles haben. Jetzt! Mit Ge…sch…mack…
DAS IST ES! Theo weiß nun, was er haben möchte. Er liebt doch Tee! Und sein Blick wandert zu den Gläsern, in denen die getrockneten Blätter stecken. Und aus getrockneten Blättern kann man doch Tee machen. Also nimmt Theo von jedem Glas etwas heraus. Ein bisschen Salbei, etwas mehr Rosenblätter und etwas Lavendel. Er
schüttet die Blätter in einen Mörser, einer Art Schüssel, die unten nicht gerade ist, sondern rund und verreibt diese Mischung mit dem Stößel, einer Art Stempel, der auch unten wie eine Halbkugel geformt ist. Fast wird Staub aus den Blättern, doch auch wieder nicht, denn bei Staub muss man doch so doll husten, wenn er in die Nase steigt. OH! ES RIECHT SCHON SOOO SCHÖN! Theo entleert den Mörser in einen leeren Teebeutel. Er will ihn schon zumachen, da fällt sein Blick auf das Gewürzregal. Auf den Zimt. Hm…, überlegt Theo, warum nicht… So kommt auch noch etwas Zimt hinein. Nun noch Wasser auf den Herd stellen und warten, bis der Wasserkocher zu pfeifen beginnt. Er pfeift nämlich immer, wenn das
Wasser kocht, damit Theo weiß, dass er den Herd ausschalten kann. Dann kommen das Wasser und der Teebeutel in eine Kanne. Nun noch etwas warten, denn der Tee soll doch gut schmecken.
Theo überlegt, welchen Namen er seiner Mischung geben könnte, denn er weiß noch, wie viel er von jedem Blatt genommen hat. Er schaut aus dem Fenster beim Überlegen und sieht den Wald mit den weissen Zipfelmützen. Etwas Zimt steckt auch noch in Theos Nase. Gerade fallen vereinzelt neue Flocken vom Himmel herab. Wie im Märchen. Wie ein Märchen im Winter, denkt Theo. Und genauso soll der Tee auch heißen: „Wintermärchen“.
So sitzt etwas später Theo am Ofen, schlürft seinen neuen Tee, der geschmackvoll ist und etwas gaaaanz Besonderes. Besonders deshalb, weil er nicht gekauft wurde, sondern selbstgemacht. Und Theo hat ihn gemischt und erfunden und das ist das Besondere daran. Und so sehen die fallenden Schneeflocken den Theo noch lange am Ofen sitzen und seinen Tee schlürfen. Und wer besonders leise ist, hört Theo vielleicht ab und zu behaglich schnurren:
„Ohhhh…“