Mit gerunzelter Stirn sehe ich auf die Bleistiftzeichnung. Sie zeigt einen Jungen mit abwesendem Blick. Ich muss blinzeln, um mehr zu erkennen. Er sitzt angespannt aufrecht und zugleich träge zurückgelehnt auf einem Stuhl, dessen Material ich nicht bestimmen kann. Unsicher liegt eine Glasmurmel in seinen Händen. Ich überlege, was er damit alles anstellen könnte. Ich kenne seine Abneigungen, seine Fähigkeiten, Fertigkeiten. Zu oft bin ich diese durchgegangen, um einen realistischen Kontrast herzustellen. Den Namen, den er trägt, habe ich ihm durch ein
Zufallsprinzip ausgesucht. Seine Herkunft ist mit Daten und Ereignissen auf einem Collegeblock festgehalten. Ich würde mich in das schlaflose Lächeln verlieben, wäre es echt. Aber sein Eigenleben ist mir fremd. ~~~
Kerim sitzt in seinem Kinosessel, er sitzt gemütlich - das linke Bein über das rechte geschlagen, während seine Finger die weiten Hosentaschen absuchen. Dann wird die rechte Hand fündig, beide spielen mit einer Glasmurmel, wie sie es immer tun, wenn Kerim nachdenkt. Nur dass Kerim Gedanken nachhängt, die nicht zu dem passen, was er eigentlich denken möchte. Eigentlich rätselt er über die Tatsache, weshalb seine Hände tun, was sie tun - wenn er von der Weiche eines Kinosessels erschlagen wird - genau genommen von diesem; es ist immer diese eine und immer an einem
Mittwoch - aber eine Figur hat es ihm besonders angetan, verfolgt ihn, mit hellblauen, fragenden Augen, die - wenn er ehrlich ist - ihn mehr faszinieren als abstoßen.
Einzelne kleine Menschentrauben - Mütter mit Stirnfalten, kleine, quengelige Kinder an der Hand, ältere Geschwister, die es kaum erwarten können, dem Saal entfliehen zu können; mehr Handys als Popcorntüten - verlassen ihn, einen Jungen, der kaum heraussticht aus dem Szenario, vom Menschen erfunden, vom Menschen hinterfragt und analysiert - und letzten Endes schneller als einer der schwer
einprägsamen Namen in dem Animationsfilm in den Tiefen eines Kurzzeitgedächtnis' zuerst kurz, dann auf Dauer verschwindet. Kerim weiß, dass das was er tut, keinen Sinn ergibt und eigentlich benutzt er ebendiesen Grund: um dem keinen Sinn-Haben in seinem jugendlichen Bewusstsein Sinn zu geben. Es strengt mehr an als eine sechsstündige Partie Schach, aber es befriedigt. Das Endergebnis befriedigt. Das Resultat seiner Konzentration in einen Charakter. Es macht glücklich. Wie so ein Simpson-Charakter, ein dummer, psychisch Debiler oder jemand Kluges wie Lisa; sie
alle haben einen Tick, der sie auszeichnet - den Kerim an eine Pinnwand geheftet hat. Er ist ein menschenscheuer Junge, mit den Veränderungen eines Jungen in seinem Alter und der Naivität eines solchen; aber er lebt für sie, für Menschen. Deswegen geht er auch ins Kino. Dann fällt ihm auf einmal ein beiläufig erwähnter Name aus dem Film ein und ein großes, maskenhaftes Lächeln ziert sein Gesicht, das seine stumpfen schwarzen Haare zum Glänzen bringt. Kontrolle, nämlich, hat erst durch
Namen.
Fünf Minuten vor Kassenschlus, öffnet sich die automatische Schiebetür des Supermarkts im Stadtteil und ein Junge geht hinein. Seine singuläre Gestalt ist genauso flackerhaft wie deren Schatten. Er nimmt sich nicht viel. Ein Ei, Salz und einen Feldsalat. Gerade so viel, dass es reicht, keine Tüte kaufen zu müssen oder seine Jacke als Netz zu benutzen. Um 1 vor ist er bereits draußen, ohne Rückgeld, alles hat bis auf einen Cent gereicht. Keine Quittung, seine grauen Augen sind denen der Kassiererin nicht einmal
begegnet. Den Cent hat er nicht nehmen wollen, ob aus Widrigkeit zu erneutem Handkontakt oder aus Prinzip, ist unklar. Seine abstehenden Ohren sind unter der schlabbrigen Kapuze versteckt. Die Nasenspitze färbt sich langsam rot. Zeit, nach Hause zu gehen - zu schleichen, wie auch immer man die flüchtige, abgehackte und doch geschmeidige Gangart Kerims beschreiben möchte. Er seufzt erleichtert auf, ein Geräusch, das nur die Fassaden grauer Häuser mitbekommen zu haben scheinen - und das auch nur bei genauem
Hinhören.
Für diesen Abend hat er was zu essen.
Kerims Körper, der ein bisschen kleiner, ein bisschen schwächer im Gegensatz zu anderen Jungen in seinem Alter ist, wirkt bedrohlich. Seine Augen sind durchschnittlich braun - ein Sprenkel im linken Auge erinnert an das einstige Silbergrau. Die langen Locken, die mal satt ausgesehen haben müssen, wie die Ansätze verraten; sind in einem ungesunden Weiß gefärbt. Er hat eine entschlossene Position eingenommen, die Augenbrauen sind mit einem Stift nachgefahren.
Er steht auf einem besonders hohen
Hügel neben einem Gebirgsbach, der vorfreudig vor sich hin plätschert. Dann rückt ein mächtiges Etwas in sein Sichtfeld, es bethront das wolkenlose Himmelszelt. Es sind gewaltige Schwingen, klauenartige Fänge, ein Maul. Augen, groß wie seine Wanduhr zu Hause. Zu Hause. Seine Gedanken schweifen ab. Er konzentriert sich wieder. Seine Finger umklammern ein Schwert, das merkwürdig leicht ist; aber scharf genug, um die Glieder eines ausgewachsenen Drachen zu durchtrennen. Das Schwert ist lachhaft präzise gehalten, aber für klammere Griffe
geeignet. Ein schweres Beben - der Boden unter ihm erzittert. Oizyt ist zu seinem Gegenüber geworden. Kerim gibt lockende Geräusche von sich, als wäre der überlegene Gegner eine Miezekatze. Der Drache lacht, es klingt wie ein dröhnendes Kurren, das an felsigen Wänden widerhallt. Er schaudert. Ein wahnsinniges Schauspiel, das sich dem Jungen bietet. Oizyt ist tausende von Jahren alt. Oizyt ist weise. Oizyt will Rache nehmen, denn
seine Familie ist schon seit Zeiten ausgestorben. Er soll der Letzte sein, der Menschenjunge. Oizyt will das letzte Mal morden, im Namen der Drachen Z'Aigs. Dann ist es zu Ende, es wird vollbracht sein, dann kann er in Frieden gehen. Eine Flamme wird aus seinen riesigen Nüstern geboren, blaues Feuer umhüllt Kerim. Kerim brennt, Kerim brennt, aber verbrennt nicht. Kerim stürzt sich auf Oizyt, in wenigen Sprüngen ist er bei ihm. Abwechselnd rammt er das Schwert in dessen leuchtenden Platten. Oizyt schnappt um sich. Oizyt leidet Schmerzen, die ihn nicht erreichen. Kerim attackiert die andere Flanke, hüpft
auf den Rücken Oizyts, der in unregelmäßigen Atemzügen sinkt. Dann stürzen sie. Sie stürzen zusammen. Rammen an spitzen Zähnen vorbei, schlittern durch eisiges Wasser. Sie fallen. Oizyt schreit, Kerim klammert sich an ihm fest, unfähig an etwas zu denken. Unten ist für ihn oben. Es zischt, lispelt, klagt, flucht, weint.
Als sie in einem Wald landen, ist Oizyt tot und Kerim rennt vor den drohenden kleinen, grünen Waldbewohnern weg. Kerim ist anders geworden, er hat sich verändert. Er will eine Geschichte schreiben, über die fröhliche Welt der Täler, die geheimnisvollen Berglandschaften mit ihren Spiegelseen, den orakelhaften, alten Drachen; darüber, wie er irgendwann in einem Bett aufgewacht ist, nachdem sich der Boden unter ihm in heißen, gelben Sand verwandelt hat. Es soll ein Buch werden.
Und während er nach draußen rennt, in
eine neue weiße Welt, betätschelt von azurfarbenem Himmel, mit fruchtigen Tannen und Geschenkpapier, das darauf wartet, von Kinderhänden aufgerissen zu werden, merkt er, dass es Winter ist.
MilunaTuani Deine winterliche Phantasiewelt läd zum Träumen und Weitersinnen ein, sehr bildlich darstellender Text, mit kurzen prägnanten Säzten, hat mir gut gefallen, LG, Miluna |