Winterzeit ist auch Märchenzeit, wer würde das bestreiten. Sicher gibt es einige unter Ihnen, die wie ich an die vergnüglichen Neufassungen altbekannter Märchen, unter anderem Rotkäppchen, durch den Humoristen Jochen Petersdorf jedes Jahr zur Weihnachtszeit denken.
Allerdings liegen diese nun schon 25 Jahre zurück, vieles hat sich seitdem verändert
Die Ostgrenzen sind offen, was der Wolf kurzerhand nutzte, um über die Lausitz einzuwandern, ohne bei der Einwanderungsbehörde einen Asylantrag zu stellen, und seltsamerweise schrieen am Anfang alle „hurra“, na jedenfalls die meisten.
Später holte der Spätaussiedler diverse Onkel, Tanten, Großcousinen nach und sorgte selbst für eine relativ hohe Geburtenrate, da er von Familienplanung vermutlich nicht so viel hielt.
Mittlerweile sind es an die 1000 Grautiere, die durch unsere Wälder geistern. Ich denke, es ist an der Zeit, warnend den Zeigefinger zu erheben und auf die Gefahren für Rotkäppchen hinzuweisen.
Rotkäppchen
Moderne Variante zum Beginn des 21. Jahrhunderts
Es war einmal ein weiblicher Teenager, der lebte mit seinen lieben Eltern in der großen Stadt Hamburg. Dem Vater, einem begnadeten Schönheitschirurgen, der angehalten war, Snobs und anderen betuchten Vertretern der Wohlstandsgesellschaft die ewige Jugend mittels neurotoxinischer Proteine (Botox) zu schenken, war es gelungen, trotz der horrenden Grundstückspreise eine hübsche Villa mittlerer Größe am
Stadtrand für seine Familie zu erwerben.
Er liebte sein Töchterchen über alles und ließ zu ihrem 18. Geburtstag sofort das neueste Modell eines weißen Cadillac importieren, nicht zuletzt auch deshalb, weil Rotkäppchen ihn durchaus mit guten und sehr guten gymnasialen Leistungen erfreute, was beim Hamburger Schulsystem keine allzu große Kunst war. Das wusste selbst der Vater.
Rotkäppchens liebe Großmutter, die ein kleines Häuschen in den ausgedehnten Kiefernwäldern der Lausitz besaß, liebte ihr einziges Enkelkind ebenfalls sehr und hatte deshalb für sie bei Ebay einen roten
breitkrempigen Filzhut von Koko Chanell ersteigert. Rotkäppchen stand total auf diese Kappe, die ausgezeichnet zu ihrem langen blonden Haar passte. Um ihn noch etwas aufzupeppen, trug sie dazu eine große Sonnenbrille von Dior.
So ausgerüstet konnte sie jeden morgen zur Schule düsen.
Eines Tages während der großen Ferien sagte die Mutter zu Rotkäppchen: „Rotkäppchen,Rotkäppchen! Das Kind sitzt wieder auf den Ohren."
Sie riss Rotkäppchen die Stöpsel des MP3-Players aus den Ohren, sodass diese wieder mit der Erde verbunden war.
"Rotkäppchen, willst du deinem Cadi nicht einmal so richtig die Sporen geben? Seit über einem halben Jahr waren wir nicht mehr bei Oma. Wer weiß, ob das Dach noch auf dem Häuschen ist bei den ständigen Stürmen dort. Und die Handyverbindung nach da unten bricht auch ständig zusammen. Das haben die immer noch nicht in den Griff bekommen. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie es ihr geht. Papas ständige Doppelschichten, meine Shoppingflüge, wir kommen einfach nicht dazu, hinzufahren! Sogar das Weihnachtsgeschenk, die Winterengel-Bettwäsche von QVC liegt noch hier rum, habe ich vorhin erst festgestellt.
Die kann Oma in ihrer zugigen Hütte besser brauchen als Kuchen. Papa hat eine Kiste Champagner besorgt. Sie soll mal was Ordentliches trinken. Ich habe dir alles schon eingeladen, spute dich, der Weg ist weit.
Und noch etwas gleich nach der Autobahnabfahrt, du fährst nur einige Kilometer Landstraße, durchquerst du einen riesigen Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Fahre dort zügig durch, halte nicht an und biege keinesfalls ab, das könnte gefährlich werden!“
Rotkäppchen versprach, auf die Worte der Mutter zu achten, schwang ihre eleganten Beine in den Cadillac, warf
eine flotte Scheibe ein, drehte das Radio auf volle Pulle und gab Gas.
Nach flotten 5 Stunden erreichte sie wirklich, wie von der Mutter beschrieben, den Truppenübungsplatz. Die wohlgemeinten Worten waren jedoch längst im Fahrtwind verflogen. Rotkäppchen bog nach rechts in einen Waldweg ein, das Hinweisschild missachtend. Nicht etwa, wie in früheren Jahren, um dem Großmütterlein einen Blumenstrauß zu pflücken. Nein, dass Blumen auf der Wiese wachsen wusste unser unschuldiges Großstadtkind doch gar nicht! Der Vater achtete penibel genau auf den 3 cm hohen englischen
Rasen, welchen die Hausangestellte mittels Rasentraktor produzierte. Wagte doch einmal ein vorwitziges Gänseblümchen seinen weißen Strahlenkranz zu entfalten, bohrte sie es erbarmungslos heraus und falls das nicht half, bereitete ein kleiner Schluck EFFIGO (Herbizid) sämtlichen Dicotyledonen (Zweikeimblättrige) endgültig den Garaus. Für Rotkäppchen gab es Blumen daher nur im Blumenladen. Jetzt jedoch trieb das junge Mädchen ein natürliches menschliches Bedürfnis in den Wald.
Das aber bemerkte Meister Isegrim. Der war sehr hungrig. In der letzten Woche
fanden NATO-Manöver statt, das ständige Geböller hatte sein sonstiges Speisenangebot quasi „verflüchtigt“.
So kam ihm das junge zarte Ding gerade recht. Früher hätte er ihr vielleicht Fragen gestellt, „Wohin des Wegs?“ und so, doch solche Anmache war heut zu Tage out, nur ganze Kerle überzeugten, also auf die harte Tour.
Mit einem eleganten Satz landete er vor dem noch im Gebüsch kauernden Kind und schlang es ohne Ansprache im Ganzen hinunter. Den Filzhut ließ er liegen, er stank zu sehr nach Imprägnierung. Dann begab sich der Wolf auf den Weg zum Hause der Großmutter. Dies zu finden gestaltete
sich kinderleicht, das Navi im Cadillac gab präzise Auskunft.
Die Großmutter stand in der Küche und bereitete das Mittagessen, „Schlesisches Himmelreich“, eine Spezialität, die sie noch nach ihrer Großmutter Rezept zu kochen verstand. Der Wolf hatte leichtes Spiel. Wie in vielen Dörfern der Lausitz herrschte auch hier der Glaube an das Gute vor, die Schlüssel stecken außen an den Haustüren als sichtbares Zeichen „Wir sind zu Hause, höchstens im Garten oder beim Nachbarn zum Schwätzchen“.
Der Unhold öffnete also die Tür, schlich sich an die alte Frau und verspeiste sie ebenfalls.
Dann legte er sich, wie bekannt, aufs Ohr.
Nun kam allerdings nicht der Jäger, um nach der Großmutter zu sehen. Nein, die Nachbarschaftshilfe der Weidgenossen lässt derzeit deutlich zu wünschen übrig.
Dafür fand das Nachbarhaus neue Besitzer, die Omas Knallerbsenstrauch der weißen Beeren wegen, Omas Hahn seines morgendlichen Krähens wegen und der schwarze Kater Peter seiner Erscheinung wegen störte. Diese riefen unverzüglich die Polizei, als sie der grässlichen und überdezibelen Schnarchgeräusche gewahr wurden.
Polizeiobermeister Wächter wiederum griff geistesgegenwärtig und mutig zum Telefonhörer und verständigte den Chirurgen des örtlichen Klinikums, da er sich nach überstandener erster Schrecksekunde beim Zappeln im Bauch des Wolfes an die Märchen seiner Kindheit erinnerte.
„Kann ich nichts machen.“ Der Arzt hob bedauernd die Arme. „Nichts machen? Die alte Frau braucht dringend Hilfe, wer weiß, wie lange die durchhält:“ Wächter sah fassungslos auf den Mediziner. „Das ist ein Natur geschütztes Tier, wenn ich es aufschneide ist das Körperverletzung. So sind die Gesetze. glauben Sie, ich möchte meine Approbation verlieren? Es
haben schon viel kleinere Tiere viel größere Leute gestürzt. Tut mir leid.“
Wächter war ratlos.
Zur gleichen Zeit aber streifte die Dame des Kontaktbüros „Lupus“ durch den Wald. Ihr fiel der weiße Cadillac auf, der dort nicht hingehörte. Nein, der Sold der hier Verpflichteten gab ein derartiges Automobil einfach nicht her.
Als sie in unmittelbarer Nähe das rote Hütchen fand, schlug ihr Herz schneller. Sollte tatsächlich einer ihrer Schützlinge über die Strenge geschlagen haben?
Wir wollen doch alle friedlich Hand in Pfote zusammenleben! Mit mulmigen Gefühl fuhr sie in Richtung des
Häuschens der Großmutter und fand dort die beiden Herren in blau und weiß.
„Es dauert zu lang, ehe wir den Gerichtsbeschluss bekommen“, seufzte sie nach Schilderung der Umstände. „Heute, am Freitag, fällt dort ohnehin Mittag die Klappe. Ich muss es wohl oder übel auf mich nehmen, mag kommen was will. Setzten Sie die Schere an, aber vorsichtig!!!“
Der Chirurg tat, was ihm geheißen. Zu seiner Verwunderung sprang als erstes ein junges Mädchen aus dem Bauch des Wolfes, dann halfen sie gemeinsam der Oma ans Tageslicht.
„Mein Gott, war das dunkel, und diese
Dämpfe. Er muss Laxoberal genommen haben.“
Der Chirurg nähte den Wolf wieder zu, auf Wackersteine verzichteten sie des Tierschutzes wegen. Sie gaben ihm nach erfolgreicher OP einen leichten Klaps, sodass er erwachte und entließen ihn zu seiner Sippe.
Die Großmutter lud nach überstandenem Schrecken alle zu ihrem „Schlesischen Himmelreich“ ein und versprach, in Zukunft ihr Häuschen besser zu sichern. Rotkäppchen aber wollte die Oma von nun an öfter besuchen, doch wann immer sie das nächste Mal zur Toilette muss hält sie bei einer Raststätte an.
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