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Ich stand da wie angewurzelt und konnte einfach nicht glauben was gerade geschah, wollte es nicht wahrhaben. Mein Verstand wehrte sich mit aller Macht, es zu verarbeiten. Alles um mich herum schien zu verschwimmen, sich in einer Geschwindigkeit zu bewegen, die außerhalb meines Bewusstseins lag. Menschen riefen durcheinander, ihre Stimmen verschmolzen mehr und mehr zu einer, hoben und senkten sich wie Wellen und ließen mich schwindeln. Ich wurde angerempelt doch spürte ich es kaum. Ich fühlte überhaupt nichts, da war nur eine sich langsam ausbreitende
Leere in meinem Inneren, die Alles verschlang, Alles mit sich riss und nur ein klaffendes Loch in meinem Herzen hinterließ. Ich bekam keine Luft, konnte nicht richtig Atmen. Ich fing an zu zittern. Erst langsam, dann flutwellenartig am ganzen Körper . Schließlich gaben meine Knie unter mir nach und ich sank kraftlos zu Boden. Ein Schluchzen entfuhr mir, dann liefen die ersten Tränen meine Wangen hinab.
Das Alles musste ein Traum sein. Ein Angsteinflößender, zerstörerischer Albtraum, aus dem ich schweißgebadet erwachen würde, aber dennoch nichts weiter als ein Traum. Es konnte nur so sein, eine andere Möglichkeit gab es
einfach nicht. Ich würde jeden Moment aufwachen. Voller Erleichterung und ich würde mich an Mian schmiegen, mich vergewissern, dass er wirklich und wahrhaftig neben mir lag, dass er atmete und es ihm gut ging .Dann würde ich diesen Traum nach und nach vergessen, bis er schließlich ganz aus meinem Gedächtnis verschwunden war.
Von weit weg, hörte ich undeutlich eine Stimme. Sie mischte sich nicht mit den anderen, sondern stach heraus. Ich versuchte angestrengt mich auf das Gesagte zu konzentrieren, es zu verstehen, die Bedeutung dahinter zu entschlüsseln, doch es wollte mir einfach nicht gelingen.Es war ohnehin
unwichtig, ohne Sinn. Nichts schien mehr einen Sinn zu haben.
Plötzlich und unerwartet sanft legte sich eine Hand auf meine Schulter, jemand kniete sich neben mich. Quälend langsam drehte mein Kopf sich, wie automatisch zur Seite. Ich fixierte die Gestalt neben mir, versuchte zu erkennen wer es war. Ich nahm dunkelbraune zerzauste Haare wahr, Augen ebenso braun wie die meinen die mich anblickten, voller Schmerz und Mitleid. Ich kannte dieses Gesicht. Es war mir vertraut.
„Finn“, murmelte ich krächzend. Mehr brachte ich nicht zu Stande, dazu fehlte mir einfach die Kraft. Mein
Zwillingsbruder zögerte nicht und nahm mich in die Arme, hielt mich fest während ich zu zerbrechen drohte.
„Es tut mir so leid“, sagte er mit zitternder Stimme. Es tut mir so leid. Fünf Wörter. Wörter die mir Mian nicht zurückbringen würden, die die Leere nicht ausfüllen, mein Entsetzen nicht mindern und nichts gut machen konnten.
Ich würde ihm nie wieder sagen können wie sehr ich ihn liebe, ihn nie wieder lachen hören, ihn nie wieder berühren, oder ihn küssen können, nie wieder seine Stimme hören, nie wieder in seine strahlend blauen Augen blicken können und seinen liebevollen Blick sehen. Der Schmerz überrannte mich mit rasender
Geschwindigkeit, zerriss gewaltsam mein Inneres, ließ mich aufschreien, vernebelte meine Sinne. Woher ich die Kraft nahm aufzuspringen, konnte ich hinterher nicht mehr sagen. Ich merkte nur dass ich mich aus Finns Umarmung wand und auf einmal wieder auf meinen Füßen stand. Ich stolperte mehr als das ich ging, auf die Trage zu, auf der Damian lag. Das einzige, das ich wahrnahm als ich vor ihm stand war das Blut. Sein Gesicht, seine Arme, die Beine, die klaffende Wunde an seinem Bauch, alles war blutverschmiert. So viel Blut, das es mir unmöglich vorkam, dass es nur seines war. Konnte es wirklich so unendlich viel
sein?
Vor meinen Augen begann sich Alles zu drehen und unwillkürlich musste ich würgen. Einmal, ein zweites Mal, bis ich mich umdrehte und meinen Magen auf dem Boden entleerte.
Als ich mich wieder Mian zuwandte, übermannte mich von neuem ein unendlicher Schmerz und ich fing unkontrolliert an zu Schluchzen. Weinkrämpfe schüttelten mich und meine Schreie wurden immer lauter. Ich grub die Fingernägel in meine Kopfhaut und sank abermals zu Boden.
„Es ist deine Schuld“, sagte eine kleine gemeine Stimme in meinem Kopf.
„Mian ist deinetwegen tot!“
Es war unwiderlegbar. Ich atmete noch, mein Herz schlug noch, ich war noch da, lebte noch. Ich existierte noch, während mir Mian genommen worden war, getötet bei dem Versuch mich zu beschützen.
„Meine Schuld“, wisperte ich. „Ich bin schuld daran!“
Ich wiederholte diesen Satz, bis meine Stimme schließlich zu einem Kreischen angestiegen war. Ich konnte nicht mehr rational denken. Fühlte es sich so an wenn man den Verstand verlor?
Etwas stach in meinen Arm, kaum wahrnehmbar und plötzlich wurde mein Körper unendlich leicht, fühlte sich an
als würde er schweben.
Meine Sinne schwanden und mir wurde schwarz vor Augen, dann verlor ich das Bewusstsein.