Märchenfiguren wie Könige, Prinzessinnen, Zauberer und dergleichen sind etwas ganz Besonderes – sie sind unsterblich. Sie leben weiter und weiter, auch wenn ihre Märchen längst ein glückliches Ende gefunden haben. Manche von ihnen, wie ´Die Prinzessin auf der Erbse´ oder ´Dornröschen´ haben sich mit ihren Prinzen weit ins Traumland zurückgezogen und geistern nur manchmal, an ganz besonderen Tagen, durch die Phantasie verträumter Kinder. Räuber und Hexen wiederum leben oft noch immer mitten unter uns, auch den ´Froschkönig´ gibt es noch heute, denn er lässt sich so gerne von hübschen Mädchen küssen. Viele andere Tiere der Märchenwelt – allen voran die ´Bremer Stadtmusikanten´ - haben hoch oben im Norden in den langen, dunklen Winternächten, in denen Himmel und Erde zusammenschmelzen, eine neue Heimat gefunden.
Der Esel, der älteste der Stadtmusikanten, lebt in einer großen Mühle und lässt sich vom Müller, der ihn einmal mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt hat, fürstlich bedienen. Sein Freund, der alte Hund ist der Musik treu geblieben und gibt Gesangsunterricht in einer Hundeschule. Die Katze war schon immer ein bisschen geltungssüchtig, jetzt ist sie im Showgeschäft tätig und arbeitet bei einem Kostümverleih. Bei jedem Karnevalsumzug sitzt sie auf der Schulter der bösen Hexe. Den aussichtsreichsten Job jedoch hat der Hahn. Er hat einen Vertrag mit der Stadtverwaltung und sitzt als Wetterhahn auf der Kirchturmspitze. Ab und zu besuchen sich die alten Freunde gegenseitig, um ein wenig über ihre schöne, gemeinsam verbrachte Zeit als ´Bremer Stadtmusikanten´ zu plaudern.
Heute ist der Hund beim Esel zu Besuch. Bei einem Gläschen Wein sitzen die beiden gemütlich am Fenster, sehen genüsslich dem Müller bei seiner schweren Arbeit zu und kramen tief in der Erinnerungskiste.
„Kannst du dich noch an unsere erste Begegnung erinnern?“ beginnt der Esel das Gespräch. „Ich hatte kein Fleisch mehr auf meinen alten Knochen und war müde vom vielen Säcke schleppen. Mein ganzes Leben lang hab ich mich abgerackert für meinen Herrn, dem Müller. Zum Dank dafür hat er mich dann davongejagt, nur weil mir einmal ein Sack mit Mehl heruntergefallen ist. Ja, war schon eine schwere Zeit damals, doch inzwischen weiß er selbst, wie schwer so ein Sack Mehl sein kann. Sieh nur, wie krumm sein Rücken schon ist. Wie habe ich mich gefreut, als ich dich kurz darauf an der Weggabelung traf. Es war wohl ein Wink des Schicksals. Du hast mich von Anfang an verstanden, denn dir ging es auch nicht viel besser. Hast als treuer Wachhund für deinen Herrn und sein Haus oft und oft dein Leben riskiert, doch statt Lob bekamst du eine Tracht Prügel. Ja, so ist die Welt. Kaum bist du alt und kannst nicht mehr so richtig, wirst du eine Last für die Menschen. Doch seien wir dankbar, uns beiden hätte damals wirklich nichts Besseres passieren können. Als wir dann noch auf die Katze und den Hahn trafen, begann erst unser richtiges Leben. Gemeinsam waren wir stark. Wir verjagten die Räuber aus dem alten Spukhaus und kassierten unser erstes Geld. Was wohl aus den Halunken geworden ist? Weißt du vielleicht mehr darüber?“
„Und ob ich etwas über sie weiß“, antwortet der Hund. „Stell dir vor, die sitzen jetzt alle im Finanzamt. Auch der, dem die Katze das Gesicht zerkratzt hat. Als Steuereintreiber müssen sie jetzt bis ans Ende ihrer Tage Geld zählen. Aber du hast recht, mit den Räubern begann erst unser sagenhafter Aufstieg. Unser erster gemeinsamer Auftritt als Animal-Band war schon beeindruckend. Du standest vor dem Fenster, auf deinen Schultern war ich, ober mir die Katze und dann der Hahn – der Anblick und unser Kampflied lehrte sie alle das Fürchten. Ich könnte heute noch vor Vergnügen heulen, wenn ich an den Huftritt denke, den du später einen von ihnen verpasst hast. Und erst unsere Freundin, die Katze – sie fauchte, kratzte und biss mit ihren letzten Zähnen, bis auch der letzte Gauner aus dem Haus war. Das Geld und die Vorräte, alles ließen sie für uns zurück. Besuchen dich der Hahn und die Katze auch noch ab und zu?“
„Leider nur sehr selten, aber sie rufen oft an. Die Katze ist meist auf einem Karnevalsumzug, das macht ihr nämlich unglaublichen Spaß. Es soll doch tatsächlich Menschen geben, die glauben eine schwarze Katze bringt Unglück. Na ja, den richtigen Durchblick hatten die meisten von ihnen ja noch nie. Dem Hahn bleibt auch wenig Zeit bei seiner verantwortungsvollen Tätigkeit. Jeden Tag die richtige Windrichtung bestimmen ist jetzt, mitten im Winter, bei den rauen Winden, sicher nicht leicht. Iaah! Iaah! , antwortet der Esel.
„Hoffentlich passiert ihnen nichts und sie können zu meiner nächsten Geburtstagsfeier am St. Nimmerleinstag ins Tierparadies kommen. Eingeladen habe ich beide, denn ich würde sie wirklich gern einmal wieder sehen. Du bist selbstverständlich auch herzlich eingeladen. Bitte mach mir die Freude.“ Langsam steht der Hund auf und geht zur Wand, um nachdenklich die vielen Töpfe und Schüsseln zu begutachten, die dort fein säuberlich nach der Größe geordnet, angebracht sind.
„Natürlich komme ich gerne zu deiner Feier. Du kannst dir inzwischen ein Geburtstagsgeschenk aus meiner Trophäensammlung aussuchen. Hier vielleicht diese rote Schüssel. Erinnerst du dich noch, diese Schüssel voll Wasser hat uns einmal der Pfarrer nachgeworfen, bei einem unserer nächtlichen Konzerte. Leider hat er schlecht getroffen und nur den Nachtwächter erwischt. Der musste dann pitschnass die ganze Nacht Dienst versehen. Armer Teufel! Oder hier hätte ich noch ein Stück vom Nachttopf des Bürgermeisters. Wutentbrannt schleuderte er ihn damals samt Inhalt aus dem Fenster. Wirklich jammerschade, dass er dabei in tausend Stücke zerbrach. Ich sehe den guten Mann noch heute vor mir, neben ihm händeringend die Bürgermeisterin im Spitzenhäubchen. War wirklich lustig damals, bei den Leuten in Bremen.. Immer wenn es hieß, die Stadtmusikanten kommen, wurden in der ganzen Stadt die Fenster geöffnet und die Leute warfen alte Töpfe und Schüsseln auf die Straße. Ich habe schnell alles eingesammelt und heute sind die Sachen ein Vermögen wert. Ja, mit Antiquitäten lässt sich derzeit ein gutes Geschäft machen.“
„Du würdest mir wirklich so eine Kostbarkeit schenken? Nein, das ist zu viel, das kann ich nicht annehmen. Du bist doch so stolz auf deine Sammlung und sie soll auch vollständig bleiben. Doch wenn du einmal ein klein wenig Zeit erübrigen könntest, um mit mir in alten Erinnerungen zu kramen, würde mich das sehr freuen. Ich möchte nämlich langsam beginnen, meine Memoiren zu schreiben und unser lustiges Musikantenleben, soll darin viel Platz einnehmen.“
„Das ist die beste Idee seit langem. Da mache ich gerne mit. Unsere Abenteuer sollen für die Nachwelt erhalten bleiben. Generationen von Kindern sollen von unseren Heldentaten erfahren und von der guten alten Zeit träumen.“
Bald darauf beginnen die Freunde zu schreiben, und sie schreiben und schreiben und wenn sie noch nicht fertig sind, so schreiben sie noch heute.