Kurzgeschichte
Und verzeiht uns unsere Schuld - Eine Geschichte aus den winterlichen Bergen

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"Letztendlich geht es auch beim Verzeihen um eine Form des Loslassens...(Dörthe Huth)"
Veröffentlicht am 19. Dezember 2013, 20 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: MerleSchreiber
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Über den Autor:

Unter dem Pseudonym MerleSchreiber veröffentliche ich seit dem Jahre 2012 Gedichte und kleine Kurzgeschichten. Neben Alltagsthemen möchte ich auch tabuisierte Lebenswelten so aufbereiten, dass sie das Interesse und den Zugang zu den Herzen der Leser finden.
Letztendlich geht es auch beim Verzeihen um eine Form des Loslassens...(Dörthe Huth)

Und verzeiht uns unsere Schuld - Eine Geschichte aus den winterlichen Bergen

Und verzeiht uns ...

Mit dem Bus war Robert bis zum Dorfplatz neben der Kirche hochgefahren, die letzten zwei Kilometer musste er nun zu Fuß gehen. Je höher er kam, desto stiller wurde es. Nur der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Und es schneite immer weiter. Der raue Ostwind blies ihm große, dicke Flocken ins Gesicht.


Er blieb stehen, nahm den Rucksack ab und suchte nach einem Taschentuch. Während er seine Brille säuberte, sah er hinunter ins Tal. Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon hier war, dachte er. Fast immer war es Sommer gewesen. Dann, wenn die Bauersleute, bei

denen er mit seinen Eltern jedes Jahr zur Sommerfrische war, mit der Ernte alle Hände voll zu tun hatten. Nur einmal, ein einziges Mal hatten sie ihn alleine in das abgelegene Dorf in den Bergen geschickt. Damals, als die Eltern - beide schwer erkrankt - für viele Wochen in einem Lungensanatorium bleiben mussten und nicht wussten, wohin mit ihrem Achtjährigen. Da hatte Erna, die herzensgute Bäuerin geschrieben: Schickt uns den Buben. Wir kümmern uns um ihn. Freunde der Eltern setzten ihn in Frankfurt in den Zug und dann durfte er, das Großstadtkind, von Anfang September bis zum Jahresende hier bleiben, gemeinsam mit den fünf Kindern der Familie die Tiere versorgen, mit auf die Almen gehen, sogar die hiesige Dorfschule besuchen. Es

wurde die bis dahin schönste Zeit seines Lebens. Bis, ja bis dann das Schreckliche, das Unfassbare geschah....


Robert schob die Gedanken an die Vergangenheit beiseite, schnallte sich seinen Rucksack wieder auf den Rücken und stapfte weiter durch die immer tiefer werdenden Schneewechten.

Mit dem Zug war er auch diesmal gekommen, zwei Jahrzehnte später. Aber jetzt war er ein Flüchtender. Auf der Flucht vor den Gedanken an Verena, die Frau, die ihre Beziehung verraten hatte. Er, der gefragte Werbegrafiker, hintergangen und betrogen mit Einem, der sich "Freund" genannt und sich einen Platz zwischen ihnen erschlichen hatte. Alles war

zerstört, was vor einem halben Jahr noch so heil, so wohl geordnet schien.

"Bitte verzeih mir", hatte Verena ihn nach ihrem Geständnis angefleht. Und dass es ein Fehler gewesen sei, der ihr unendlich leid täte.

Nein, so einen Verrat konnte er nicht verzeihen. Niemals!

Er verwies sie der Wohnung, die ihm gehörte und stürzte sich wie ein Besessener in die Arbeit. Nahezu exzessartig hatte er dies betrieben, bis er dann - ein paar Monate nach der Trennung - Anzeichen eines Burnouts wahrgenommen hat. Das Herz war aus dem Rhythmus geraten, Schweißausbrüche, Angstattacken, Depressionen. Er konnte nicht mehr, wurde vom Arbeitgeber nach Hause geschickt. Den ganzen Tag saß er nun alleine

in der ebenso großen wie luxuriösen Wohnung. Plötzlich kotzte ihn dieser Luxus und die sterilen weißglänzenden Wände und Böden an. Gespenstische Stille breitete sich in den Räumen aus. Und in ihm sprach eine Stimme unaufhörlich davon, dass er nun ganz alleine wäre. Seine Eltern waren schon vor Jahren gestorben, Geschwister hatte er keine. Ja, Businesspartner, Berufskollegen, Sportfreunde im Tennis- und Golfclub zuhauf, alles nur oberflächliche Beziehungen. Mit Verena hatte er eine Partnerin gehabt, bei der er sich in jeder Situation hatte fallen lassen können. 

HATTE!!!

Vorbei, alles vorbei!

Es gab kein Zurück!  

Und plötzlich war dieser Gedanke dagewesen und hatte sich eingenistet. Der Gedanke an den kleinen Ort in den Bergen und an die Schlucht, in die schon so Viele in den Tod gestürzt waren.


Nach einer Wegbiegung konnte Robert das kleine Gehöft erkennen. Nichts, aber auch gar nichts hatte sich verändert in all` den Jahren. Der Stall, die Scheune, das Wohnhaus mit dem fast bis zum Erdboden reichenden Dach, alles war ihm vertraut. Auch die herunterhängenden, dicken Eiszapfen, die den Gebäuden eine bizarr anmutende Optik  verliehen. Erna stand unter der Haustüre und begrüßte ihn mit der ihr eigenen Selbstverständlichkeit.

"Da bist Du ja wieder", sagte sie, so als ob er gestern oder vor ein paar Tagen erst fort gegangen wäre. Dann wischte sie sich die Hände an ihrer bunten Kittelschürze ab und umarmte ihn. Sie nahm ihn mit in die warme Stube, wo Ernas Mann Barthel und Marta, die alte weißhaarige Großmutter am Tisch saßen.

Er setzte sich zu ihnen und fragte nach dem Großvater und nach seinen Spielgefährten von damals. Der Großvater wäre vor drei Jahren gestorben, erzählten sie ihm. Einen schönen Tod habe er gehabt. Hingelegt hat er sich und ist dann einfach eingeschlafen. Und die Kinder, ja die wären alle längst aus dem Haus. Hatten selber Familien oder studierten in Innsbruck und in Bozen. 

Robert tat interessiert, obwohl er mit seinen

Gedanken ganz woanders war.

Dann fragte er, ob er denn über Nacht bleiben dürfe.

"Ja, freilich, sagte der Barthel "bleib, so lange Du willst."

"Nein, nein, nur eine Nacht."

Robert bemühte sich um eine möglichst ruhige Stimme, obwohl er innerlich seine Anspannung kaum im Zaume halten konnte. 

"Ich würde morgen früh gerne weiter zur Schliernlatzer Hütte."

"Fürchte, da wird Dir das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen", warnte der Barthel und ging dann mit der Erna nochmal hinaus in den Stall, um nach dem Vieh zu sehen.  

Die Großmutter hatte noch gar nichts gesagt,

sah Robert nur unverwandt von der Seite an und lächelte vor sich hin.  

Als sie jetzt alleine waren, deutete sie auf den Platz neben sich.

"Komm, setz` dich ein bisserl her zu mir." 

Und dann fügte sie hinzu:

"Gell, Bua. Dir geht`s nicht gut."

Robert schluckte und sah auf das gerahmte Bild im Herrgottswinkel mit der brennenden Kerze davor. 

Die Großmutter folgte seinem Blick.

"Weißt du`s noch, wie es damals war?" fragte sie.

"Ja, es war am Nikolaustag", erinnerte sich Robert. "Wir Kinder waren alle in der Küche und du hast auf uns aufgepasst, weil die Erna und der Barthel im Hof draußen Schnee weg

geräumt haben."

"Damals haben wir auch so viel Schnee g`habt wie heuer, weißt es noch?"

Robert nickte und sprach weiter: 

"Und deshalb ist der Großvater noch einmal in den Wald hinaus und hat den Tieren Heu gebracht. Die würden ja wegen der dicken Schneedecke kein Futter mehr finden, hat er gesagt."

"Ja, so war das. Und dann....."

Marta brach ab, denn Robert war einfach aufgestanden und zur Tür gegangen.

"Marta, es tut mir leid. Aber ich möchte mich jetzt gern ausruhen. Ich hab` morgen einiges vor."

"Schlag Dir das aus`m Kopf, Bua. Über`m Berg zieht schon ein Wetter auf.", warnte die

Großmutter.


Aber Robert antwortete nicht mehr, war schon aus der Tür und auf der hölzernen Stiege in das obere Stockwerk zur hinteren Kammer hinauf. Dort setzte er sich an den klobigen Tisch, der unter dem Fenster stand. Ich hätte nicht her kommen dürfen, dachte er bei sich. Hätte gleich hinauf gehen sollen, zur Schlucht. 

Sie machen es mir so schwer. Sind so fürsorglich. Haben ein ehrliches Interesse, dass es mir gut geht.

Dieses Gefühl, angenommen zu sein, hatte ihm auch Verena immer vermittelt. Bis er dann verraten und verkauft wurde von ihr. Schon der Gedanke daran ließ ihn innerlich

aufheulen. Der Schmerz wurde nicht leichter je mehr Zeit verging. Der Schmerz wurde immer fordernder, hatte von ihm und seinem Denken Besitz ergriffen und zwang ihm seinen Willen auf. Robert beschloss, sich in der Nacht, wenn alle schlafen würden, auf den Weiterweg zur Schlucht zu machen. Er stellte sich seinen Wecker auf

Mitternacht und legte sich mitsamt seinen Kleidern ins Bett. Dann lauschte er dem Takt der vom Wind in Bewegung gehaltenen Fensterläden, bis ihn die Übermüdung in einen kurzen unruhigen Schlaf fallen ließ.


Robert konnte sich noch so sehr bemühen, Geräusche zu vermeiden. Ein jeder seiner Schritte auf der Treppe nach unten

verursachte ein Knarzen der alten Fichtenbretter. Er war schon fast an der Haustüre, als er zusammenzuckte.

"Da bist du ja. Ich hab schon gewartet auf Dich."

Ertappt drehte er sich um und sah, dass die Küchentüre einen Spalt breit offen stand. Marta saß am Tisch und schälte Äpfel. 

Ich könnte einfach gehen, wie sollte sie mich aufhalten, dachte Robert.

Aber er ging nicht, er setzte sich zu ihr und sie drückte ihm einen Apfel und ein Schälmesser in die Hand.

"Hilf mir, hast doch auch mein Apfelkompott immer so gern mög`n."

Schweigend schälten sie einen Apfel nach dem anderen, bis Marta die Stille durchbrach:

"Wir haben heut` Nachmittag gar nicht mehr weitergeredet, Robert. Wie`s damals war."

"Das ist doch auch schon so lange her"

"Ja, schon. Aber oft einmal ist es gut, wenn man etwas, das schon vorbei ist, noch einmal anschaut. Ja, der Großvater ist in den Wald hinaus, damals am Nikolaustag", sagte sie.

Und Robert ergänzte:

"Und wie er dann heim gekommen ist, hat er gesagt, ihm sei der Nikolaus begegnet und wenn wir nicht folgsam wären, würde er uns in seinen Sack stecken."

"Ja, und da habt ihr euch alle miteinander ganz brav zusammengesetzt. Nur der kleine Georg nicht. Der war ja gerade mal ein Jahr alt. Er ist mit seinem Gehwagerl in der Kuchl umeinander gerutscht. Ich hab in einem Eimer

mit heißem Wasser Windeln ausgewaschen und dann wäre auf dem Ofen beinah` die Milch übergekocht. Da hab ich mich umgedreht und einen Moment hab ich nicht auf ihn aufgepasst. Und da hat sich der Georg den Windeleimer mit dem heißen Wasser über sich drüber geschüttet."


Die Bilder von dem damaligen Geschehen waren für Robert jetzt total präsent. Plötzlich hatten alle geschrien, der kleine Georg, die Großmutter und die Geschwister. Und dann waren der Barthel und die Erna von draußen hereingerannt und der Großvater hatte von der Treppe aus gerufen, was passiert wäre und ob denn nun der Nikolaus eines der Kinder mitgenommen hätte.

Fast schien es, dass Marta Roberts Gedanken lesen konnte, denn sie sagte:

"Ja, am Nikolaustag wurde uns tatsächlich eines der Kinder genommen. Denn der Georg hat das nicht überlebt. Und ich war schuld dran, ich hab einen Fehler gemacht. Einen ganz furchtbar schrecklichen Fehler."   

Robert sah, wie Martas verknöcherten Hände jetzt zitterten, als sie weitersprach:

"Ich bin mit dem Unglück nicht fertig geworden. Hab mich nimmer zu den anderen an den Tisch hingesetzt, weil ich der Erna und dem Barthel nimmer in die Augen hab schauen können. Ich wollt nimmer leb`n. Hab oft dran gedacht, dass ich hinauf geh auf`n Berg zur Schlucht......Und dann hat der Barthel eines Tages g`sagt zu mir: Marta, der

Georg wird nicht wieder lebendig, wenn du dir was antust. Wir haben dir schon lang verziehen. Jetzt verzeih du dir selber auch endlich. Wir gehören doch zusammen und wir brauchen einander."


Bei Martas letzten Worten lief Robert ein Schauer über den Rücken. Eindringlich sah sie ihn jetzt an, als sie sagte:

"Ich weiß, bei dir ist das jetzt etwas ganz anderes. DU musst verzeih`n, damit du wieder Luft zum Atmen bekommst. Geh du auch nicht da hinauf! Denk nicht immer daran, was dir jemand anderer angetan hat, sondern denk daran, was dir für dein Leben wichtig ist. Wirst sehn, dann weißt du auch, was du tun musst."

Robert nickte. Ob sie wohl noch in derselben

Straße wohnte, überlegte er. Und ob sie wohl noch manchmal an ihn dachte?


Mit dem ersten Zug fuhr er am Morgen in die Stadt zurück.

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Über den Autor

MerleSchreiber
Unter dem Pseudonym MerleSchreiber veröffentliche ich seit dem Jahre 2012 Gedichte und kleine Kurzgeschichten. Neben Alltagsthemen möchte ich auch tabuisierte Lebenswelten so aufbereiten, dass sie das Interesse und den Zugang zu den Herzen der Leser finden.

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hingekritzelt Eine wundervoll geschriebene Geschichte, die einfühlsam und leise daher kommt und - bei allem Schmerz - den Ausblick auf ein positives, lebensbejahendes Weiterleben in sich birgt.
Eine angenehme Frühlektüre - und allemal besser als die Nachrichtenbilder im TV gerade, die einmal mehr zeigen, wozu Menschen fähig sind (Silvester).

Mach's Dir gemütlich! :-)
LG Uli
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Der Schmerz, körperlich und seelisch, gehört zum Leben. Das ist mir eine der liebsten meiner Geschichten, Uli.
Danke, dass du hier warst.
Ich hab`s gemütlich ;-)
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Lieber Merle, verzeih den "kitschigen" Ausdruck, aber ich weiß nicht wie ich's sonst sagen soll: Eine herzzerreissende Geschichte, mit so viel kluger Lebenserfahrung. Wunderbar geschrieben. Ira

p.s. S. 3: Schneewächten
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Du hast recht, Schneewächten - seit der Rechtschreibreform.
Danke dafür und für`s "wunderbar" !
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Nereus 
bei deinen geschichten findet das leben obdach
danke
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber So schön, diese Rückmeldung von Dir, Markus!
DANKE und liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Und verzeiht uns..."
Wie ich schon "vor langer Zeit" sagte...
...immer noch eine starke Geschichte,
die man wieder lesen kann!...
LG Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Hast du bemerkt, dass ich auf Deine Anregung hin Martas Sätze dialektmäßig entschärft habe, Louis?
Danke für`s Wiederlesen, es freut mich sehr!
Schöne Sonntagsgrüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Gänsehaut ... überall!
Wenn doch nur jeder zur richtigen Zeit den richtigen Menschen an der Seite hätte.
Daumen hoch und liebe Grüße zu dir, liebe Merle,
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Da war doch mal was mit einem Schutzengel oder so ;-)))
Vielen Dank, liebe Sabine und schöne Grüße zu Dir, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
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