Prolog
"Vater, die Nornen kommen", der Allvater sah von seinem Mal auf und ließ den Blick auf seinem jüngsten Sohn ruhen. Er war ein hübscher Bursche aber ein listiger. Die Mädchen in Asgard hielten sich fern von ihm, obgleich sie seinen Bruder feierten, als würde er selbst bereits auf dem Thron sitzen. "Odin Allvater", drei alte Frauen standen nebeneinander vor Odins Tafel und verneigten sich, die rechte Faust auf dem Herzen ruhend, vor dem alten Gott. Er verneigte sich ebenfalls vor ihnen. Loki, der listige tat es ihm gleich. Er gab seinem Bruder Thor einen Hieb mit
der fachen Hand, da er nicht sofort verstand. Nun verneigte auch er sich. Erst als der Allvater sich erhob, blickten auch alle anderen Anwesenden wieder auf. "Es ist so weit", Urd, eine der Nornen trat einen Schritt an die Tafel herran und warf eine Hand voll Steine auf den Tisch. "Wie könnt ihr es wagen-", "Still! Dumkopf, das sind Runensteine", Odin musste sein Lachen herunterschlucken. Thor war ein großer Krieger und sein Erstgeborener und damit der Anwärter auf den Thron. Doch was den Verstand anging, so hatte Loki den Löwenanteil und war seinem Bruder überlegen. Sein scharfer Blick, der die Farbe von Smaragden hatte nahm alles in
sich auf. Er erkannte die Runensteine sofort als solche. Nicht zuletzt, dachte Odin, weil er die Gesellschaft eines dicken Buches derer eines schönen Mädchens vorzog. "Was ist so weit?", wollte er von der Greisin wissen."Das Mädchen, es ist so weit. Sie braucht euren Schutz", "Welches Mädchen?", fragten die ungleichen Brüder wie aus einem Munde. "Ist es denn sicher sie her zu bringen? Sicher für Asgard meine ich?", ungeachtet seiner Söhne Frage hielt er weiter Rat mit den Frauen. "Die Gefahr ist größer, Ihr lasst sie unwissend auf Midgard, Allvater. Sie ist bei den Kindern Midgards gerade erst mündig. Sie hat Gaben, derer sie sich
nicht bewusst ist, in ihrer Welt würde das bedeuten, dass man sie für verrückt hält. Noch ist Zeit. Doch ihr solltet darauf vorbereitet sein, sie zu Euch zu holen. Einer von euch ganz besonders", Urd blickte bedeutungsschwanger auf die Runensteine. Ein einzelner lag abseits der anderen. DAGAZ.
Anfang
Sie sitzt dort, in dieser viel zu kleinen, weißen Kammer. Alles ist weiß. Der Boden, die Decke, die Wände. Keine Farben. Viel zu kalt. Klein ist sie, ich muss an meine eigene Kindheit denken, an meinen Vater. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Jedes Mal ist es mir, als sähe ich sie zum ersten mal. Sie will mir einfach nicht im Gedächtnis bleiben. Langes braunes Haar fällt über ihre Schultern, über ihren Busen. Mein Blick verweilt dort, unabsichtlich. Sie ist kein Mädchen mehr. Ich mache mir nichts aus den Menschen, doch wenn der alte Gott will, dass ich ein Auge auf sie habe,
dann will ich ihm diesen Gefallen erweisen. Der Sessel auf dem sie sitzt ist schwarz und aus Leder. Sie hält etwas in der Hand, ein kleines Steinchen. Von meinem Platz am Fenster kann ich es nicht genau erkennen. Die Tür öffnet sich, fast erschrecke ich, ehe mir einfällt, dass er mich nicht würde erkennen können. Um das Mädchen mache ich mir keine Sorgen. Ihr Blick ist so leer, dass sie mich nicht erkennen würde, wenn ich direkt vor ihr stünde. Der Mann ist alt und unsympathisch. Mager sieht er aus und grauweißes Haar klebt schwitzig an seinem ansonsten kahlen Schädel. Er setzt sich in den Sessel ihr gegenüber. „Guten Tag, Meyla.
Wie geht es dir heute?“, Meyla, so heißt sie. Meyla bedeutet so viel wie ''kleines Mädchen''. Das passt. Sie antwortet nicht. Das tat sie niemals. Es geht ihr schlecht, dafür brauche ich keine Zauber. Aber er fragt immer wieder. „Was hast du da in deiner Hand, Kind?“, er tut immer so, als wäre er ihr Vater, ein Vertrauter. Das ist er nicht.
„Einen Runenstein“, ihre Antworten sind immer kurz. Sie spricht nur das Nötigste zu ihm.
„Was ist ein Runenstein?“, er weiß es. Wieso fragt er sie? Sie hatte schon öfter einen bei sich.
„Ein Stein oder ein Stück Holz, in das eine Rune geritzt ist. Sie beschützen
einen“
Der Alte schüttelt den Kopf. Er ist mit der Antwort nicht zufrieden.
„Was für eine Rune ist es diesmal?“, fragt er mit geheuchelt interessiertem Blick.
„Das ist Dagaz“, ich sehe auf, beim Wortlaut meiner Rune. Dagaz sieht aus, wie eine Sanduhr, die auf der Seite liegt. „Sie beschützt mich. Sie zeigt mir, was Wahrheit und was Lüge ist“, murmelt sie kaum hörbar. Ich würde lachen, ließe diese Gestalt dies zu. Wenn diese Tochter Midgards nur wüsste, dass ich hier bin. Sie lässt Dagaz durch ihre Finger gleiten. Sie blickt aus dem Fenster und mir
geradewegs in die Augen. Fast schon fühle ich mich ertappt, als sie ganz seicht, kaum merkbar zu lächeln anfängt. „Ein Kätzchen!“, entfährt es ihr und sie läuft zum Fenster und mich einzulassen. Ehe der alte Mann etwas erwidern kann, sitzt sie schon wieder in dem Sessel und ich auf ihrem Schoß. Sie hatte mich schon ein, zwei Mal in dieser Gestalt entdeckt und jedes mal nahm sie sich meiner an, gab mir Nahrung und die Wärme ihres Schoßes und erzählte mir von den Göttern.
Meyla hatte nie Geschwister. Ihre Mutter starb, als sie ein kleines Mädchen war. Ihre Großmutter, die ebenfalls Meyla hieß, kümmerte sich
rührend um sie. In dieser Zeit kam ich zu ihr. Sollte auf sie Acht geben und sie vor den Gefahren Midgards schützen. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich sie das erste Mal sah. Sie war vielleicht vier Winter alt und saß in einem weißen Raum wie diesem hier. Sie hatte aufgeschlagene Knie und heulte Rotz und Wasser. In der Hand hielt sie eine kleine Strohpuppe und um ihren kleinen Hals baumelte eine Schutzrune. Ihr hübsches Kleid war zerrissen und ihr damals noch rostfarbenes Haar war verklebt von Blut und Laub. Eine ältere Frau lief zu Männern und Frauen in weißen und blauen Gewändern. Sie schrie sie an. Ich hörte nichts von dem
was sie sagte. Ich saß neben dem Mädchen auf dem Bett, nur für sie sichtbar.
„Wer bist du?“, fragte die kleine unter Tränen. „Ich bin Loptr, aber meine Freunde nennen mich Loki, also darfst auch du mich Loki nennen.“, „Also bist du mein Freund?“, die kleine blickte erstaunt auf „Ich hatte noch nie einen Freund“, sagte sie traurig. „Die anderen finden mich komisch, weil ich mit diesen Steinen rede“, sie deutet auf die Rune, die ihr um den Hals hing. Dagaz war schon damals ihre liebste. „aber Oma hat gesagt, dass wenn ich Angst habe oder traurig bin, dass ich mir dann einen der Steine nehmen soll und mit
ihnen reden soll. Sie sagt immer, dass die Götter mich dann besser hören können und mir dann helfen.“
„Deine Oma ist eine kluge Frau“, sagte ich ihr und strich ihr sachte über den kleinen Kopf. „Weißt du, ich bin ein Gott. Ich bin der Gott, dem diese Rune gehört!“, erschrocken sah sie von dem Steinchen zu mir. „Ich wusste nicht, dass sie jemandem gehört. Bitte nimm sie mir nicht weg! Ich mag sie!“, ich lachte, was die Kleine nicht so recht verstand. „Nein, nein“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Behalte sie nur. Dann weiß ich immer, wann du mich brauchst. Ich passe auf dich auf!“
„Du bist also ein Gott? Bist du der mit
dem einem Auge? Nein, du hast ja beide noch. Oder der mit dem Hammer? Hast du ihn dabei? Zeig ihn mir!“, das Mädchen suchte an mir nach etwas, das mit verriet, doch sie fand nichts, keinen Hammer der Mjölnir hieß und kein Galljahorn. Enttäuscht und fragend blickte sie mich an. Sie kannte also Odin, meinen Blutsbruder und Thor, Odins Sohn, der mir wie ein Bruder geworden ist. „Ich bin der schlaue“, gab ich zu „der Listige, der der aus allem einen Ausweg findet und der, der alle zum Lachen bringt.“ Die kleine sah überhaupt nicht nach lachen aus. „Wenn du schlau bist, dann weißt du doch viel?“, „Das ist richtig“, bestätigte ich
ihre Vermutung. „Weißt du dann auch, wo meine Eltern sind?“, jetzt wirkte sie wieder so unendlich traurig. „Ja, ich weiß wo sie sind“, gab ich vorsichtig zurück und überlegte, wie ich es dem Mädchen erklären sollte. „Wo sind sie? Warum sind sie nicht hier? Ich will zu ihnen!“, jetzt fing sie zu heulen an. Mir brach es das Herz die kleine so zu sehen. „Sie sind bei Helja in Helheim. Du kannst sie leider nicht besuchen kommen. Aber es geht ihnen sehr gut. Helja ist meine Tochter weißt du, sie ist schon groß und kümmert sich um all diejenigen, die nach Helheim gelangen.“
In dem Moment kam die alte Frau, ich vermutete die Großmutter der Kleinen in
da Zimmer gestürmt. Unter tränen nahm sie sie in den Arm. „Oh meine kleine, süße, Meyla! Es tut mir so leid, wie geht es dir? Bist du in Ordnung?“, über die Schulter ihrer Großmutter blickte das kleine Mädchen mich mit großen Augen an. „Ich habe einen Gott kennengelernt, Oma. Er heißt Loki und sagt das Mama und Papa in Helheim sind. Ist das weit von hier weg?“
Die Alte drehte sich um und blickte in meine Richtung. Ich wagte mich ihr zu erkennen zu geben. Sie nickte mir wissend zu, dann ging sie aus dem Zimmer und ich verbarg mich wieder. Ich sollte sie etwas alleine lassen. Ihre Großmutter scheint wahrhaft eine kluge
Frau zu sein. Sie erschrak nicht, als ich vor ihr auftauchte und glaube ihrer Enkelin gleich als diese ihr von mir erzählte. Sie ist eine gute Frau und sie wird gut auf das Mädchen Acht geben.
Die Tage vergingen und die große Meyla erzählte der kleinen Meyla alles über Helheim. Früher hieß dieser Ort Ginnungagap. Dort in der Schlucht wanderten einst die Toten. Seelen, die in der Schlucht zwischen der Feuerwelt Musplheim und der Eiswelt Niflheim weilten. Ich hatte drei Kinder die mir genommen wurden. Helja war die jüngste, sie wurde mit ihren Brüdern entführt, alle drei galten – und gelten
immer noch – als Unheil Bringer. Man wollte das Mädchen nicht töten, doch konnte man sie auch nicht am Leben lassen. So brachte man sie geradewegs in die Totenwelt. Als Kind schon besaß sie zwei Seiten an sich. Die eine, die Helle und die andere die Dunkle Seite. Jetzt, da sie in Ginungagap war, gehörte sie nicht mehr zu den Lebenden, doch war sie auch keine Tote. So kam es, dass sie sich der Toten annahm. Menschen und Asen, Riesen und Zwerge, Elfen und Wanen. Allesamt konnten sterben und gelangten an den Ort den man nun Helheim – Das zuhause der Helja – nannte. Auch von meinen anderen Kindern erzählte sie ihr später. Ebenso
von den Asengöttern und den neun Welten. Eines Abends, die beiden wärmten sich am Herdfeuer, denn es war kalt draußen, fragte klein Meyla wie denn nun alles begann? Da erzählte die alte es ihr:
Einst war in der Welt nichts als zwei Welten. Die eine war Muspelheim, im Süden. Das war die Welt des Feuers und der Riesen. Die andere war Niflheim im Norden. Hier gab es nur Eis und Kälte. Zwischen den beiden Welten war ein großer Abgrund, den man Ginungagap nannte.
In Niflheim gab es einen Brunnen, der Hvergelmir hieß. Elf Ströme entsprangen
von ihm, die man Elivagar nannte. Sie flossen in den Abgrund und schoben das Eis immer weiter in den Spalt. Auf der anderen Seite übte Surt, der Anführer der Feuerriesen mit seinem Flammenschwert. Als einmal die Funken des Schwertes über den Abgrund hinweg und auf das Eis zuflogen, erweckten sie es zum leben und Ymir entstand. Er war ein gigantischer Riese. Auch die Kuh Audhumla entstand auf diese Weise. Ymir ernährte sich von den prall gefüllten Eutern der Kuh und Audhumla leckte an den Salzigen Steinen, denn Graß und Klee gab es noch nicht. Aus dem Stein leckte die Kuh einen Mann frei, der den Namen Buri trug. Er war der
Vater von Bor und der war der Vater von Odin, Vili und Ve und damit war Buri der Vater aller Asengötter. Surt übte weiter mit dem Schwert und erneut flogen Funken hinüber die den Riesen Ymir zum schwitzen brachten. Aus seinem Schweiß entstanden ein Mann und eine Frau und auch seine Füße paarten sich und schufen so den mehrköpfigen Riesen Thrudgelmir. So waren die Asen geschaffen und die Riesen. Doch keinen Ort an dem sie Leben konnten, denn die Eiswelt war zu kalt und Muspelheim zu heiß und unerreichbar. So geschah es, dass Odin und seine Brüder Vili und Ve den Riesen Ymir töteten und aus seinem Körper die
Welt erschufen. Aus seinem Fleisch formten sie Midgard, aus den Knochen die Berge, aus den Zähen die Steine und aus dem Schädel den Himmel. Aus dem Gehirn machten sie die Wolken und aus den Augenbrauen sollte eine Mauer werden, die Midgard umgibt. Die Sterne und der Mond und die Sonne machten sie aus Funken, die aus Muspelheim zu ihnen herüber wehten.
Neun Welten schufen sie aus dem Riesen. Sein Blut jedoch, spülte alle Riesen in den Abgrund, nur Bergelmir und seine Frau konnten fliehen und wurden so in Jötunheim die Ureltern der Riesen. Da kam es, das ein gewaltiger Baum aus den Welten entwuchs. Eine
Esche, genannt Yggdrasil. Der Weltenbaum, der alle Welten miteinander verband.
Das Feuer war fast herunter gebrannt und der Mond stand hoch. „Und wo sind die Menschen? Und wo ist Loki? Und wo sind die Riesen jetzt?“
„Das sind ja viele Fragen“, lachte die Alte. Sie hob das Mädchen hoch und trug es in ihre Kammer wo sie sie liebevoll zudeckte und küsste. „Wie geht es denn weiter? Wo ist Loki? Mein lieber Freund Loki?“
„Dein Loki kam erst viel später auf die Welt. Aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt schlafe, meine
kleine“
Als die Alte das Zimmer verließ, surrte ich als Fliege hinein. Sie war wirklich gut aufgehoben hier. Auch der Allvater Odin empfand dies so.
Meine Besuche wurden seltener. Die Großmutter lehrte das Mädchen alles was sie wissen musste über die Götter und das Leben. Ich kam nicht mehr zu ihr. Hatte meine eigenen Abenteuer zu erleben. Es gab anderes zu tun. Sollte sie mich jemals brauchen, würde ich sie hören. So ging ich und sie vergaß mich. Sie erinnert nicht, dass wir uns je begegnet sind.
Eines Tages fand ich Odin alleine in
seiner Halle vor. Er saß auf Hlidskialf, dem Thron, von dem aus er alles sehen konnte. Ich verneigte mich vor ihm zum Gruß. Er Ahnte meine Frage bevor ich sie stellte. „Odin Allvater-“, „Loki, wir sind Brüder, rede offen mit mir, es ist wegen dem Mädchen.“
„Ich frage mich bloß, warum man Acht auf sie geben muss und warum ich es bin, der dazu erwählt ist.“
„Das Mädchen ist etwas besonderes. Du wirst es noch erfahren, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Warum du es bist, wissen nur die Nornen“
„Wäre es nicht einfacher, Heimdall auf sie blicken zu lassen? Er sieht und hört ohnehin
alles“
„Nein“, der alte Gott schüttelte den Kopf „Heimdall kann den Bifröst nicht verlassen für so lange Zeit. Es ist wichtig, dass jemand sie beschützt, falls es notwendig wird. Die Entscheidung ist auf dich gefallen Loptr.“
„Nenne mich nicht so!“, es ist mir zu wider von dem Allvater so genannt zu werden. Mein Vater Farbauti gab mir diesen Namen. Er ist ein Sturmriese, doch bin ich nur ein leichtes Lüftchen, denn das bedeutet Loptr. Es ist eine Kränkung, von meinem Freund und Blutsbruder so genannt zu werden. Ich ging aus der Halle hinaus und meiner Wege.
Viel Zeit verging, bis ich den Ruf eines zerrissenen Herzens vernahm. Es zog mich nach Midgard, in ein Gebäude, in dem alles weiß war. In den Kammern stehen Betten und Menschen in weißen und blauen Gewändern schreiten umher. Ich erinnere mich an diesen Ort. Ich wandelte, vor der Menschen Blicke verhüllt durch die langen Gänge, bis das Rufen und Wehklagen lauter wurde. Da sah ich die alte Meyla in einem der Betten liegen. Sie schlief, oder so schien es mir zunächst, doch war keine Wärme mehr in ihr. Sie war nach Helheim gegangen. Die Menschen
werden so schnell so alt. Ich schritt in das Kämmerchen und ließ mich in einem der Stühle zu ihrer Seite nieder. Da erst bemerkte ich das Häufchen Elend, welches zusammengesunken auf der anderen Seite des Bettes saß. Ihr Kopf lag im Schoß der Alten und sie wimmerte und murmelte. Dunkelbraunes, dickes Haar wuchs aus ihrem Haupt wie Unkraut auf den Feldern. Die Haut an ihren Armen war weiß, wie das Eis in Niflheim. Sie hob den Kopf und sah mich an. Nein, sie sah durch mich hindurch.
„Loki, lieber, weiser Loptr, zeig mit den Sinn“, flüsterte sie leise. Eine junge Frau saß da vor mir. Augen so grün wie
der Wald und Wangen, vom heulen gerötet. Dieser Blick, diese Trauer darin, als hätte ich dieses Menschenkind schon einmal gesehen. Sie griff an ihren Busen und ließ ein Steinchen in ihre Hand fallen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Meyla. Das kleine Mädchen Meyla, das ihre Eltern verlor. Sie war kein kleines Mädchen mehr, viel Zeit war vergangen. Ihre Augen veränderten sich, als sie die Männer erblickte, die in das Zimmer kamen. Sie nahmen sie mit. Sie weigerte sich, blieb stur, wollte bei dem Leichnam ihrer Großmutter bleiben. Sie schrie, wurde biestig. Ich sah ein funkeln in ihren Augen, welches ich bis
dahin noch nie bei ihr vernahm. Doch war auch sie lediglich ein Mensch und auch sie hatte ihre dunkle Seite.
Ein heulen zerrt mich aus meinen Erinnerungen. „Versteh doch Kind! Es sind lügen, Ammenmärchen die man kleinen Kindern erzählt, die die Welt noch nicht verstehen.“, der Mann redet auf sie ein. Meyla ist schwach geworden. Als Kind war sie vielversprechender. Doch jetzt heult sie vor diesem Mann. Es ist nicht rechtens, dass er das immer wieder tut. Es macht mich wütender, von ihm zu hören, dass es mich nicht geben soll, als dass das Mädchen weint. Sie weint so oft. Sie ist
nicht mehr das süße, liebe Mädchen von damals. Naiv ist sie immer noch, doch füllt sich ihr Herz mit Hass und Misstrauen. Sie redet mit den Menschen, als spucke sie Gift und Galle. Zu mir ist sie lieb. In meiner Gestalt als Kätzchen mag sie mich. Sie mag die Tiere. Als ich schon wieder fast in meine Gedanken verfalle, greift sie mich fest und hebt mich hoch. Ich erschrecke so sehr, dass ich mich in ihre Brust verkralle. Es stört sie nicht, sie bemerkt es nicht einmal. Sie läuft in ihre Kammer, die Treppen hoch. Legt sich aufs Bett und zieht mich nah an sich heran. Das Gestaltwandeln wandelt nicht nur den Körper sondern auch das Empfinden. So lasse ich es – als
Kätzchen – geschehen, dass sie leise in mein Fell weint und mich dabei am Kopf krault.
Ich bleibe bei ihr so liegen, bis sie einschläft. Dann schleiche ich mich aus ihrer Kammer und erkunde das Haus. Es muss ein Gefängnis sein. Viele Menschen sind hier in winzigen Räumen und die Menschen, die mit ihnen reden, bringen sie zum heulen und zum jammern. Es muss eine Art der Folter sein, doch der Sinn will sich mir nicht erschließen. Auch verstehe ich nicht, was Meyla getan hat um hier zu landen. Sie ist unausstehlich und ich bin nur noch hier, weil Odin es mir befohlen hat, doch ist Meyla wahrhaftig nicht das,
was man in einem Kerker erwarten würde. Als ich hier keine neuen Erkenntnisse erlangen kann, beschließe ich zurück nach Asgard zu gehen. In meiner eigenen Gestalt kann ich meine Gedanken besser ordnen. Als Kind mochte sie etwas besonderes gewesen sein, doch warum sie immer noch meinen Schutz benötigt, ist mir unklar. Viele Male streite ich mit den Allvater darum und auch mit den Nornen, die das Schicksal aller Wesen weben und die in dieser Zeit so oft dem Rat beiwohnten, doch bleiben sie mir alle eine Antwort schuldig.