Kurzgeschichte
Ein guter Tag

0
"Ein guter Tag"
Veröffentlicht am 16. Dezember 2013, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Autor und Moderator bei den Fabelhaften Couchpoeten in München - die Bühne für Literatur und Musik im Stemmerhof jeden 3. Dienstag im Monat mit wechselnden Künstlern
Ein guter Tag

Ein guter Tag

Ein guter Tag

Alles in allem ein guter Anfang! Die Kaffeemaschine war nicht explodiert und die Milch bildete heute beim Erwärmen keine ekelhafte Haut auf ihrer Oberfläche. Seine Hämorrhoiden hatten netterweise auf ein blutiges Gemetzel beim morgendlichen Stuhlgang verzichtet und der rechte Strumpf auf der Wäscheleine hatte seinen linken Partner wiedergefunden.

Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Hartmut nahm die farblosen Stücke von

der Leine und faltete die weichgespülte Unterwäsche seiner Frau mit akkurater Perfektion, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte.

Die Kinder würden alle kommen das stand fest, sogar Angelika würde aus dem hohen Norden anreisen. Sie saß schon im Zug und hatte gesimst:  

„Bin pünktlich abgefahren, Papa, hol mich bitte am Bahnhof ab, Ankunft 16 Uhr 13.“  Seine Zweitjüngste war noch Single. Die drei Söhne waren unter der Haube Kai, der Große, hatte ein Model geheiratet und  war  angesichts seines Berufes als Steward bei der Lufthansa selten zu Hause. Er hatte mit der langbeinigen Esther drei Vorzeigekinder

in die Welt gesetzt und sie ließen keinen Laufsteg der Welt aus, das auch demonstrativ zu zelebrieren.

Sven, der zweite, war schwul und lebte seit fünf Jahren mit einem Amerikaner in fester Partnerschaft. Endlich war Ruhe eingekehrt, nur der überaus zärtliche beidseitige Wangenkuss bei der Begrüßung von Michael, Svens Partner, war gewöhnungsbedürftig. Hartmut schämte sich jedes Mal seiner leichten Erregung und versuchte sich nichts anmerken zu lassen, wenn der glattrasierte, wohlduftende Mann ihn fest an sich drückte.

Lediglich sein Kleiner machte ihm

Sorgen. Die wässrigen Augen von Pit sahen an ihm vorbei, immer wenn er die lasche Hand seines jüngsten Sohnes nahm, und bei der Hochzeit mit Leila in der Wagenburg waren die ganze Nacht über seltsame Kräuterdämpfe über den Platz gekrochen.

„Wie früher“ sollte alles werden, hatte er mit seiner Frau Regina beschlossen, und für das Weihnachtsessen hatten sie sich nach alter Familientradition auf Kartoffelsalat mit Würstchen geeinigt.

„Bring noch die Tofuwürstchen mit - Angelika kriegt sonst wieder einen Wutanfall “, hatte er ihr nachgerufen, als sie das Haus verließ, um die

Weihnachteinkäufe zu erledigen.  Seine Frau war immer die Erste gewesen, die die seismischen Wellen in den Essgewohnheiten ihrer Kinder wahrgenommen hatte.  

Mit exotischen Abfallhölzern aus seiner Modellbauwerkstatt im Keller dekorierte er den Baum und statt goldglänzendem Alltagsschmuck und silbrigem Langweilerlametta hingen misslungene Propeller aus Mahagoni, unproportionierte Seitenruder aus Palisander und aufgeplatzte Formteile   von Rümpfen aus Pappelholz an der krummgewachsenen Tanne, die seine Frau gestern aus Mitleid unter den drei

Verbliebenen am Stand des Christbaumverkäufers zu einem sensationellen Preis erworben hatte. Die LED-Beleuchtung hatte er vor Tagen raffiniert programmiert und zur Stunde der Bescherung würde das Farbwechselspiel zur Höchstform auflaufen.

Sie trafen der Größe nach ein: Kai, Esther und die schönen Kinder fuhren mit dem geländegängigen, höher gelegten BMW direkt unter die überdachte Auffahrt, um keine der vereinzelten Schneeflocken, die sich an dem trüben Nachmittag auf die Erde verirrten, von der penibel geglätteten Kleidung wischen

zu müssen. Sven und Michael hatten ihren Kleinwagen mit dem „Gib Aids keine Chance“ - Aufkleber direkt am Marktplatz  abgestellt und gingen demonstrativ Hand in Hand durch den Christkindlmarkt, bis sie mit einem lauten „Hi, Dad“ Hartmut schon von weitem begrüßten, der gerade besonders schöne Buchenholzscheite für den Kamin aus dem Keller geholt hatte und über die Terrasse hereintrug.

Während seine Frau die Zutaten fürs Weihnachtsessen schnibbelte, fuhr er zum nahegelegenen Bahnhof und rettete seine verwöhnte Lieblingstochter aus dem völlig überfüllten Zug.

Pit und Leila kamen mit der Geländemaschine und sahen aus wie extraterrestrische Kämpfer aus einer fernen Galaxie, als sie von ihrem schlammbespritzten Stahlross abstiegen. Sie warfen ihre Kluft in den mit Terrakotta gefliesten Gang, zogen die dicken Wollsocken aus, setzten sich im Schneidersitz auf den weißen Flokati im Wohnzimmer, starrten Hartmuts Tannenbauminstallation an und verfielen in Trance. Ab und zu war ein leichtes Summen zu vernehmen und Hartmut erkannte die Melodie, die ihn während der Pubertät seiner Kinder oft zur Raserei gebracht hatte: „Völlig losgelöst von der Erde, schwebt das

Raumschiff…“

Bis zu den Würstchen verlief alles harmonisch und unblutig. Angelika liebte den rheinischen Kartoffelsalat ihrer Mutter mit Eiern, Äpfeln und sauren Gurken über alles und trat die Tofuwürstchen an die beginnende Veganerin Leila ab. Kai, Esther und die Kinder führten nach der Bescherung eine selbstironische Modenschau auf und verkleideten sich mit  den Resten der Geschenkpapiere. Den Parcour zwischen Hartmuts Baumobjekt und den aufgerissenen Geschenkschachteln erklärten sie zum Catwalk. Regina unterhielt sich mit Michael über neueste Trends in der Parfumszene und Sven

kraulte hingebungsvoll den schwarzhaarigen Chow-Chow „Monopterus“, von dem bisher nicht die Rede war, der aber dazugehörte wie das Schaf zur Krippe.  

Nur Pit lag gedankenverloren auf dem Sofa und blickte mit glasigen Augen zu den fünf milchigen Schalen der Deckenlampe, die an die olympischen Ringe erinnerten. Als die nahen Kirchenglocken begannen, zur vorgezogenen Christmette um 22 Uhr zu rufen, sprang er plötzlich auf, tanzte auf einem Bein durch das Wohnzimmer und schrie wie verrückt:

„Spaltungsspiel, Spaltungsspiel, Spaltungsspiel. Die Klübers spielen

Spaltungsspiel!“

Jeder wusste sofort, was gemeint war. Das „Spaltungsspiel“ funktionierte folgendermaßen: Eine Person wird per Los ermittelt und darf ein Scheit vom Brennholzstapel heraussuchen. Mit der Axt, die im Winter immer griffbereit am Kamin liegt, und einem möglichst gleichmäßig gewachsenen Holzstück begibt sich die Familie nach draußen auf die Terrasse zum Spalten an den Hackklotz. Pit hatte als Jugendlicher im Gymnasium die Aufgabe bekommen, die Herkunft des Familiennamens herauszufinden und stieß auf die wahre Bedeutung. „Klüber“ war eine Berufsbezeichnung und bedeutet

„Holzspalter“. Seitdem wurde das Spiel bis zum Auszug aller Kinder gepflegt. Der Jüngste beginnt und hat den ersten Schlag. Die Zweitjüngste sucht sich eine Hälfte des gespaltenen Stückes aus und darf damit weitermachen. Wer die letzte Zweiteilung erfolgreich ausführt, gewinnt und bekommt einen von Omas selbstgemachten und hochbegehrten Elisenlebkuchen, die in äußerst geringer Stückzahl per Post immer pünktlich zum Fest eintreffen. Das Spiel dauert so lange, bis alle Lebkuchen verteilt sind.

Die erste Runde war nach zwei Schlägen beendet, da die vom Los bestimmte Esther ein völlig ungeeignetes Scheit

auswählte, das von eingewachsenen Ästen nur so strotzte. Pit konnte als Jüngster und erfahrener Spieler noch ein zahnstochergroßes Stück abtrennen, aber schon bei Angelika blieb das Beil in dem verwachsenen Holz stecken, ohne eine weitere Teilung herbeigeführt zu haben.

Runde zwei lief glatt durch: Hartmut hatte erfolgreich ein daumendickes Stück als Letzter spalten können und genehmigte sich nach seinem umjubelten Sieg ein drittes Glas Glühwein. Nachdem er es in einem Zug geleert hatte, bekam er von Regina einen kräftigen Stoß in die Rippen und einen warnenden Zeigefinger vor die Nase gehalten.

In der dritten Runde lief alles wieder

durch bis zu Hartmut. Diesmal waren die zur Verfügung stehenden Hälften so klein, dass sie nicht von alleine auf dem Hackklotz stehen blieben. Hartmut musste das bleistiftdicke Stäbchen mit der Linken halten und gleichzeitig mit der Rechten das Beil ansetzten. Es galt, genau die Millisekunden zu koordinieren, in der die linke Hand das Holz losließ und die rechte mit der Axt auf das Spaltgut niedersauste. Hartmut dachte einen Moment zu lange an das Morgen.

Die Zahnseide würde wieder abreißen und sich zwischen seinen engen Lücken verkeilen, „Monopterus“ würde einen Hausschuh von ihm versteckt haben und erst nach stundenlangem Suchen würde

er ihn in der offenen Waschtrommel finden, Omas kostbarer Lebkuchen würde in den Kaffee fallen und ihm das frische Hemd versauen und Regina würde lächeln, wie immer.

Er schlug zu. Der linke Daumen flog nach rechts in die Schwärze der   Weihnachtsnacht. Koordination misslungen!

Die Sanitäter kamen schneller als erwartet - im Vergleich zum Warten aufs Christkind war es ein Klacks auf der Zeitachse.

Sein spontan entstandener größter Weihnachtwunsch wurde nicht erfüllt.

Trotz intensiver Suche aller Familienmitglieder fand in der Heiligen Nacht   niemand mehr das abgetrennte Körperteil im Schnee. Als der jüngste Sohn von Kai den Daumen am nächsten Morgen in einem verwaisten Vogelnest in der Buchshecke liegen sah, war es zum Annähen bereits zu spät.

Aber alles in allem war es ein guter Tag gewesen. Was machte schon ein Daumen mehr oder weniger. Zum Nasenbohren waren die beiden Zeigefinger geeigneter und Opa Klüber war seit seinem Unfall an der Bandsäge mit den verbliebenen 9 Fingern ein äußerst glücklicher Mensch geworden.

0

Hörbuch

Über den Autor

Lindwurm
Autor und Moderator bei den Fabelhaften Couchpoeten in München - die Bühne für Literatur und Musik im Stemmerhof jeden 3. Dienstag im Monat mit wechselnden Künstlern

Leser-Statistik
24

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Heidrun Eine makabere Satire an die Unvollkommenheiten des Clans!

Deine Heidrun
Vor langer Zeit - Antworten
Loohsa Fast schon BlackStory. Sehr unterhaltsam. "Schöne" Geschichte.
LGE
Vor langer Zeit - Antworten
Montag Alles in allem ein schöner Tag. Ein guter Satz, auch wenn das Spaltungsspiel weniger schön endete. Das nenne ich positives Denken!
ich wünsche eine schöne Weihnachtszeit.
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
3
0
Senden

102252
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung