Zufälle sind unvorhergesehene Ereignisse, die einen Sinn haben.
Diogenes von Sinope
Ist das Schicksal im Spiel, braucht man niemanden und nichts zu suchen, sondern wird gefunden.
Christa Schyboll
Egal, ob Zufall oder Schicksal: Manchmal sind beide grandios!
Wie viele Worte braucht die Liebe?
Luise war spät dran mit ihren Vorbereitungen. Morgen war der erste Advent und sie hatte noch nichts geschmückt. Kein Tannengrün, keine Kerzen zierten das Haus. Diese elende Grippe hatte Schuld, durch sie war Luise über zwei Wochen ans Bett gefesselt gewesen.
Auch jetzt fühlte sie sich noch schwach,
ermüdete schnell und es fehlte ihr an jeglicher Energie. Paul war im Moment keine große Hilfe. Er arbeitete intensiv an einem Projekt, ein Schulzentrum wurde geplant, und noch vor Weihnachten sollten die ersten Entwürfe eingereicht sein. Dementsprechend kam er fast jeden Abend spät nach Hause. Während Luises Krankheit hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, mit Robin, seinem Partner, nach der Arbeit Essen zu gehen. Das hatte er nun auch nach Luises Genesung beibehalten, um ihr das Kochen zu ersparen.
Luise seufzte. Eine vorweihnachtliche Stimmung wollte sich nicht einstellen. Das trübe Wetter unterstrich ihre
düsteren Gefühle und die Lustlosigkeit. Aber es nützte ja nichts. Luise gab sich einen Ruck. Vielleicht würde es helfen, die Dinge anzupacken.
Sie ging auf den Speicher, wo sie den Adventsschmuck aufbewahrte. Kalt war es hier, sie hätte besser ihre dicke Strickjacke angezogen. Fröstelnd kämpfte sie sich ihren Weg durch die großen Kartons, die hier seit dem Tod ihrer Mutter unausgepackt lagerten. Luise schaffte es nicht, sich von all diesen Dingen zu trennen, Erinnerungen hingen daran, die bis weit in ihre Kindheit zurückreichten. Das Licht hier oben war trübe, sie sollte mit Paul sprechen, dass er eine stärkere Glühbirne
in die Leuchte schraubte. Trotz der Kälte roch die Luft abgestanden und der Staub lag nicht nur auf den alten Möbeln und Kisten, sondern gleichsam auch auf all den beinahe vergessenen Erinnerungen, die an diese Dinge geknüpft waren.
Luise stiegen plötzlich die Tränen in die Augen. Was war nur mit ihr los? Seit dieser verfluchten Grippe schien sie nicht mehr die Alte zu sein. Dabei neigte sie sonst gar nicht zu Sentimentalitäten, zumindest konnte sie meist erklärten, warum sie traurig war.
„Reiß dich zusammen, Luise!“, befahl sie sich und ihre Stimme klang brüchig, verhallte ungehört zwischen den Dachbalken und Ritzen der
Fußbodenbohlen. Luise versuchte, die Kiste mit dem Adventsschmuck hervorzuzerren. Der große Karton mit den Ostersachen stand darauf und es wollte ihr nicht gelingen, ihn anzuheben. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie wischte mit dem Ärmel darüber. In diesem Moment fiel ihr Blick auf eine offene Schachtel, die zwischen zwei Wäschekörben hinter der Osterkiste eingeklemmt war. Ihr stockte der Atem.
Nein, das konnte nicht sein. Sie erblickte die hellblauen und grünen Briefumschläge, die, etwas durcheinander und nicht mehr sorgfältig gebündelt in dem gelben Seidentuch eingebettet lagen. Dies sollte sie nicht
erstaunen, hatte sie doch selbst vor Jahren diese Briefe hier in den Karton gelegt. Sie musste ja alles aufheben! Es waren alte Briefe aus der Zeit, als sie Paul noch nicht begegnet war. Briefe an Max, ihre zweite große Liebe und, wie sie damals geglaubt hatte, auch ihre letzte. Briefe voller Liebesschwüre, mit Worten des Sehnens, geschrieben auf hellblauem Briefpapier, das sie damals extra gekauft hatte. Nach der Trennung hatte Max ihr die Briefe kommentarlos zurückgeschickt und nun verstaubten all die Liebesworte, die keine Bedeutung mehr hatten, auf dem Speicher. Die grünen Umschläge waren die Briefe von Max, nicht minder gespickt mit
Schwüren, Beteuerungen und erotischen Anspielungen. Luise konnte sich an keine genau erinnern, zu viele waren es und jetzt zogen nur Fetzen davon durch ihre Gedanken.
Was ihr den Atem nahm, war ein roter Briefumschlag zwischen all den blauen und grünen, mit ihrem Namen darauf.
Mit zitternden Fingern öffnete sie das Couvert. Langsam entfaltete sie einen grünen Briefbogen. Worte, in Pauls großzügiger Schrift, sprangen ihr entgegen und sie begann zu lesen.
Meine geliebte Luise, es ist nicht fein, dass ich die Briefe gelesen habe. Aber
ich konnte nicht widerstehen. Ich weiß, es war vor meiner Zeit. Du hast sie aufgehoben. Seine Worte ... deine Worte, so voller Leidenschaft und Zärtlichkeit. Nie habe ich von dir solche Worte gehört, geschweige denn einen solchen Brief bekommen.
Ich weiß:
Du sagst es nicht, aber du hältst meine Hände, wenn sie zittern.
Du sagst es nicht, aber du lächelst ermunternd, wenn ich traurig bin.
Du sagst es nicht, aber du umarmst mich, wenn ich lache.
Was will ich denn? Worte können so verlogen sein, nicht aber Gesten.
Dennoch: Einmal solche Worte von dir ...
Das wäre schön.
Immer dein Paul
Langsam ließ sie den Briefbogen sinken. Vor ihren Augen verschwamm alles. Eine Träne bahnte sich ihren Weg und als Luise die Nässe von ihren Lippen leckte, schmeckte sie das Salz einer leisen Verzweiflung.
Warum hatte Paul das getan? War es wirklich so, dass sie ihm nie solche Worte gesagt hatte, wie sie in den Briefen standen? Gesagt vielleicht schon, aber sicher nie geschrieben. Es gab kaum
Briefe an Paul. Luise erinnerte sich an einige Ansichtskarten, die sie ihm geschrieben hatte, als sie mit einer Freundin durch Griechenland getrampt war.
Luise verstand die Welt nicht mehr. Sie waren doch glücklich und das seit beinahe zwanzig Jahren. Gut, es hatte schwere Zeiten gegeben, wo die Sprachlosigkeit alles erstarren ließ. Das war, als sie endgültig einsehen mussten, dass sie keine Kinder haben würden. Nach vielen Untersuchungen stand es fest. Es lag an Paul, er war unfruchtbar.
Luise vermochte heute nicht mehr zu sagen, für wen es schlimmer gewesen war. Für sie schien damals die Welt
stehen zu bleiben. Paul hatte sich in Arbeit vergraben. Man merkte ihm seinen Kummer nicht an. Nach quälenden Wochen schließlich hatten sie sich endlich ausgesprochen. Eine Adoption war Thema, wurde dann aber wieder verworfen, Paul konnte sich nicht damit anfreunden. Irgendwann kam Luise zu einem Entschluss. Das Schicksal hatte es nicht gewollt, dass sie Kinder hätten, so meinte sie schließlich und sagte das auch ihrem Mann. Warum nicht sich dreinschicken und es akzeptieren?
Letztendlich hatten es beide geschafft und waren mit sich ins Reine gekommen. Sie hatten ein gutes Leben, waren beide zufrieden in ihren Berufen, waren
finanziell unabhängig und leisteten sich viele Reisen. Immer noch, nach all den Jahren, war ihre Beziehung von Zärtlichkeit geprägt, auch die Erotik kam nicht zu kurz und darüber hinaus waren Achtung und Respekt ein solider Grundstein ihrer Ehe.
Was nun hatte Paul bewegt, ihr diesen Brief zu schreiben? Sie sollte ihn finden, dessen war sie sicher. Paul wusste, dass sie den Adventsschmuck hier aufbewahrte und es war klar, dass sie spätestens vor dem 1. Advent hier heraufkommen würde.
Was sollte sie nur tun? Mit Paul reden? Ihm den Brief kommentarlos vor die
Nase halten? Es einfach ignorieren? Ihm auch einen Brief schreiben?
Fragen, für die Luise keine Lösung parat hatte, noch nicht. So beschloss sie, zunächst einmal zu Ende zu bringen, weshalb sie auf den Speicher gekommen war.
Abends herrschte in ihrem Zuhause eine weihnachtliche Atmosphäre, es duftete nach Tannen und Bienenwachs, auf dem Tisch stand eine mit roten Kugeln liebevoll dekorierte Schale und an der Eingangstür hing der Kranz mit den Tannenzapfen und den roten Schleifen.
Bildete es sich Luise nur ein, oder schaute Paul sie an diesem Abend immer wieder auf eine besonders kritische
Weise an? Konnte es sein, dass der Gute-Nacht-Kuss kühler ausfiel als sonst oder war Luise auf Grund ihrer neuen Erkenntnisse nur besonders sensibilisiert? Sie selbst konnte es nicht sagen.
Die Wochen bis Weihnachten vergingen wie im Fluge. Luise hatte sich langsam von ihrer Krankheit erholt und konnte die nötigen Vorbereitungen ohne große Probleme treffen. Die wenigen Geschenke waren besorgt, einige Karten geschrieben, das Weihnachtsessen geplant und alles eingekauft. Immer noch trug Luise in ihren Gedanken Pauls Brief mit sich herum und sie war zu keiner
Lösung gekommen. Am Tag vor dem Heiligen Abend schmückte Paul wie immer den kleinen Christbaum. Luise ging in ihr Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch, nahm einen Bogen Papier und einen roten Umschlag und legte beides vor sich hin. Längere Zeit grübelte sie, kaute an ihrem Stift, schrieb, zerknüllte das Briefpapier, nahm einen neuen Bogen. Doch dann schien sie plötzlich zufrieden, klebte den roten Umschlag zu, beschriftete ihn und versah ihn mit einer Schleife.
Am nächsten Abend saßen Paul und Luise im Wohnzimmer. Die Kerzen am Christbaum brannten und aus dem Radio
ertönte leise weihnachtliche Musik. Wie jedes Jahr lagen lieb verpackte Päckchen unter dem Weihnachtsbaum. Paul und Luise waren überein gekommen, sich nur noch kleine Geschenke zu machen und so waren es auch nur wenige Päckchen. Als diese alle geöffnet waren, lag noch ein roter Briefumschlag unter dem Baum.
Paul hob fragend die Augenbrauen.
Luise nickte: "Ja, Paul, das ist auch noch dein Geschenk. Schau, dein Name steht darauf."
Unschlüssig drehte Paul den Umschlag in den Händen. Er nagte an der Unterlippe, die Augen gesenkt. Zögernd öffnete er die Schleife, zog sie vom Umschlag und ließ sie zu Boden fallen. Luise hielt den
Atem an. Eine knisternde Spannung lag im Raum. Außer der leisen Radiomusik war kein Ton zu hören. Die Sekunden verstrichen, dann Minuten.
"Paul ...", flüsterte Luise schließlich. Mit einem Ruck hob er den Blick, schaute sie an.
"Luise, es tut mir leid". Er räusperte sich, seine Stimme klang belegt.
"Ich wollte das nicht, ich wollte die Briefe nicht lesen und dir auch nicht schreiben. Es war eine unüberlegte Handlung, weil ... egal, als ich meinen Brief wieder holen wollte vor drei Wochen, war er fort, du hattest ihn gefunden. Jeden Tag, die ganze Zeit habe ich gewartet, dass du reagierst."
"Schsch ...", flüsterte Luise. "Willst du ihn nicht aufmachen?"
Wieder drehte Paul den Umschlag. Doch dann, ganz plötzlich, legte er ihn mit energischer Geste auf den Tisch. "Nein, Luise, ich werde ihn nicht öffnen. Was auch immer drinstehen mag, es ist nicht wichtig. Ich weiß doch, dass du mich liebst ... und dieser Mann ... Max, er hat dir deine Briefe zurückgeschickt. Also waren all die Worte nichts wert. Verzeih mir!"
Luise schluckte. "Ich habe lange überlegt, wie viele Worte die Liebe, unsere Liebe, braucht. Sicher braucht sie keine Liebesschwüre, Beteuerungen. Aber wir empfinden unsere Liebe mit
allen Sinnen, wir spüren uns, sehen uns, ja wir riechen und schmecken uns", hier musste Luise lächeln und ein kleiner Schalk trat in ihre Augen, "warum sollten wir also nicht hören, dass wir uns lieben, wenigstens ab und zu. Dann sind unsere Sinne satt von der Liebe. Lesen brauchen wir diese Worte so bestimmt nicht mehr."
Nun musste auch Paul lächeln. "Frohe Weihnachten, mein Schatz", sagte er und nahm sie in den Arm. Welche Worte noch gesprochen wurden, mag der Leser erahnen, ebenso, was in dem Umschlag war. Möglich, dass Worte der Liebe ihren Weg auf das Papier gefunden haben, vielleicht aber war der Umschlag auch
leer?