Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte Im Supermarkt um die Ecke herrschte, während ich meinen Einkauf tätigte, wenig Betrieb. Es lag wohl an der Uhrzeit, denn normalerweise kaufte auch ich nicht mehr abends gegen neunzehn Uhr meine Lebensmittel ein. Es befanden sich nur noch eine Hand voll Kunden und wenige Verkäufer in diesem Geschäft. Ob es sich lohnt, bis zwanzig Uhr geöffnet zu haben? Ich hatte schon lange meinen Zweifel daran, jedoch somit genügend Zeit, vor allem Platz, um mich in den Gängen frei bewegen und in friedvoller Ruhe die
Preise vergleichen zu können. Einer von diesen Jugendlichen, die nicht erkannt werden wollen, indem sie sich in ihrer Kleidung verstecken, übergroße Jeans, die in den Kniekehlen hängen, schlabberige schwarze Sweatshirts mit Kapuze, die den Kopf bedecken, darunter ein Base-Cap, welches tief ins Gesicht gezogen wird, um nicht einmal annähernd die Nasenspitze preiszugeben, Turnschuhe, deren Schnürsenkel nicht gebunden sind, so wie wir es einmal gelernt hatten, schlurfte mit gesenktem Kopf an mir vorbei. Sein Augenmerk schien das Zeitschriftenregal in der Nähe der Kasse am Ausgang zu sein. Ich schenkte dem Jugendlichen keine
Beachtung mehr und setzte meinen Einkauf fort. Wenig später begab ich mich zur Kasse, legte meine Waren auf das Band und warf noch einen Blick auf das Regal mit den Zeitschriften. Der junge Mann stand wie angewurzelt dort, interessierte sich wohl ausgiebig für einen Comic, denn er blätterte bedacht und schien darin vertieft zu sein. Ich entschied mich aber meinen Einkauf mit der Bezahlung hier zu beenden und den Einkaufswagen schiebend verließ ich den Markt. Draußen vor dem Eingang hielt ich inne, überlegte noch kurz, ob ich auch nichts vergessen hatte, als mich plötzlich jemand unsanft an die Seite schubste. Im Vorbeieilen erkannte
ich den Jungen, der sich hier aus dem Staub machte. In seiner rechten Hand hielt er etwas fest, sicherlich das Comic, dass er so interessiert studierte, als ich ihn aus den Augenwinkeln von der Kasse aus beobachtet hatte. Aufgrund seiner Eile vermutete ich, dass er das Heft wohl nicht auf ehrlicher Weise erwarb und deswegen fluchtartig den Supermarkt verließ. Kurz darauf stürzte auch einer der Verkäufer aus dem Laden, hetzte hinter dem Dieb her um ihn stellen zu wollen, jedoch ohne Erfolg. Der Dieb war ohne Zweifel geübter im Rennen, als der angesäuerte Verkäufer des Supermarktes, denn er verschwand in der Dunkelheit dieses
trüben Herbstabends. Keuchend und mit schlaffen Schultern stolperte der Mann im weißen Kittel zurück zu seinem Arbeitsplatz. Gedankenverloren und froh, bald zu Hause zu sein, setzte ich meinen Weg fort. Diese trübseligen Abende verbringt man doch besser in heimischer Umgebung, gemütlich auf der Couch sitzend und Tee schlürfend, denn das Schmuddelwetter, welches uns seit Jahren beschert wurde, ließ uns das Ende des Jahres nicht unbedingt verlockend erscheinen, auch wenn Weihnachten quasi vor der Tür stand. Aber zu einem Weihnachtsfest gehören nun einmal Schnee und Kälte. Wegen eines Widerstandes, der das linke
Vorderrad meines Einkaufswagens blockierte, wurde ich aufgehalten. Ich hegte zuerst nicht die Absicht mich zu bücken, um es an die Seite zu befördern, entschied mich aber dann doch dieses zu tun, damit nicht der nächste Kunde darüber straucheln sollte. Überrascht stellte ich fest, dass es sich um eine Geldbörse handelte. Eine abgegriffene, schwarze, aus Kunstleder bestehende Geldbörse, die nicht sonderlich wertvoll aussah. Vielleicht hatte sie ja auch jemand achtlos weggeworfen. Diesen Gedanken verwarf ich aber wieder und öffnete diese, um den Besitzer ausfindig zu machen, der den Verlust seiner Börse
bestimmt schon bedauerte. Geld war darin nicht zu finden, umso mehr überraschte es mich, als der Ausweis des geflüchteten Jugendlichen zum Vorschein kam. Robin, so hieß also der Dieb, und er war gerade erst 16 Jahre alt geworden, für seine Tat aber absolut verantwortlich. Welch ein Jammer, wegen eines Comics, den keiner vermisste, und auch die Tat, die als solche keinen finanziellen Schaden anrichtete, zum Dieb zu werden. Jedoch war die Rechtslage eindeutig. Nun, was sollte ich tun? Zurückgehen, in den Supermarkt, um den Jungen zu verraten? Nein, ich entschied mich dagegen, steckte das Portemonnaie in
meine Tasche und mit dem Gedanken ihn aufzusuchen, um ihm sein Eigentum zurückzugeben, fuhr ich schlielich nach Hause. Dort angekommen legte ich die fremde Geldbörse auf meinen Schreibtisch und nahm mir vor, im Laufe der nächsten Tage ihren Besitzer aufzusuchen. Im Wirrwarr meiner persönlichen Dinge auf dem Schreibtisch verlor ich das Portemonnaie aus den Augen und leider auch aus dem Sinn. Die Feiertage rückten näher, und noch immer hatte ich nichts geplant für den Heiligen Abend. Auch nach Weihnachtsputz war mir nicht zumute und noch nie wirklich gewesen. Für wen sollte ich auch
putzen? Ich erwartete niemanden. Die letzten Jahre lebte ich schon lange allein. Die genaue Zahl war mir entfallen. Zu lange schon, doch seit meine Frau gegangen war. Sie, die Gute, hatte ihren letzten Aufenthaltsort schon vor langer Zeit gefunden. Seither legte ich weniger Wert auf Reinlichkeit, auf das Leben, und alles, was damit verbunden wurde. Die Einsamkeit frisst Herz und Seele und lässt schwermütige Gedanken aufkommen. Weihnachten, das Fest der Liebe und der Geschenke, für Kinderaugen unverzichtbar, für mich jedoch endlos lange Tage, die das Alleinsein noch unerträglicher machen. Mein Schreibtisch, unabhängig davon,
hatte eine Aufräumaktion bitter nötig. Schon lange schob ich die Dinge darauf hin und her, um Verlorenes oder Verlegtes wieder zu finden. So fand ich auch die Geldbörse wieder. Die, die ich ja schon längst seinem Besitzer aushändigen wollte. Der nächste Tag würde der Tag sein, an dem der Junge endlich sein Eigentum wieder erlangen sollte. Dabei übersah ich, dass der Kalender bereits den 24. Dezember ankündigte. Dieser Tag war wie all die anderen Tage in den letzten Wochen. Nichts Besonderes schien sich zu ereignen. Darum beschloss ich nun, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ich zog meinen grauen Wintermantel an,
setze meinen Hut auf, der nicht unbedingt wärmte, steckte die Geldbörse ein, streifte die alten gestrickten Handschuhe über, die meine Frau einst so liebevoll anfertigte, und verließ meine Wohnung. Seine Adresse hatte ich mir eingeprägt, es war auch nicht sonderlich schwierig, denn ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, ich kannte jede Ecke, jeden noch übrig gebliebenen Baum und jede Straße, immerhin lebte ich nun schon 53 Jahre hier. Oh Mann, wie doch die Zeit verging. Damals stand dort nur eine alte Mühle, darum bekam die Straße auch den bewährten Namen, Mühlenstraße. In dieser Gegend wohnte Robin also, keine
schöne Ecke um Kind zu sein. Das Viertel dieser Stadt bestand aus lauter Hochhäusern, die mit zehn oder zwanzig Stockwerken erbaut waren und weit in den Himmel ragten. Dagegen wirkten die Reihenhäuser mit zwei Stockwerken, in denen ich eine Wohnung besaß, wie Streichholzschachteln. Der Supermarkt, in dem der Junge zum Dieb wurde, war nicht weit entfernt, somit war es kein Wunder, dass er so schnell in der Dunkelheit verschwinden konnte. Ich erreichte gegen siebzehn Uhr die Mühlenstraße. Längst dunkelte es um diese Jahreszeit, und der Wind pfiff um die Häuserecken. Jetzt musste ich nur noch das passende Hochhaus zu der
Hausnummer ausfindig machen, die in seiner Adresse im Ausweis vermerkt war. Hier sah jeder Eingang wie der andere aus, aber die Hausnummern halfen einem, sich nicht zu verirren. Schließlich stand ich vor dem richtigen Komplex. Eine Menge Klingeln lachten mich aus, denn auf welche sollte ich nun drücken? Die Hälfte davon war unleserlich gekennzeichnet, oder der Rest der Klingeln war namenlos. Ich trat ein. Der Geruch, der mir entgegen strömte, ließ mich Schlimmes erahnen. Die Wände beschmiert mit Schriften, Mustern, oder einfach nur willkürlich mit Farbe versehen. Schmutz und Abfall auf der Treppe lagen bestimmt schon
sehr lange dort, ohne dass sich jemand darum scherte. Der Aufzug schien intakt zu sein, aber anhand der Signaturen in der Farbe hatte auch er gelitten. Ich entschied mich, die Treppe zu benutzen. Jede Wohnungstür schritt ich ab, bis ich endlich im dritten Stock den Nachnamen von Robin an einer dieser renovierungsbedürftigen Holztüren las. Der Klingelknopf ließ sich problemlos betätigen, und ich wartete mit Spannung auf das Öffnen der Türe. Es dauerte eine Weile, bis ich jemanden hinter dieser hören konnte. Dann endlich wurde sie quietschend geöffnet, und eine alte blinde Frau krächzte glücklich: „Robin, endlich, ich wusste doch, dass
du deine Oma zu Weihnachten nicht vergisst.“ Sie breitete ihre knochigen Arme aus, um ihren Enkel umarmen zu können. Ich wusste nicht, warum ich es tat, aber ich tat es. Ich antwortete: „Ja Oma, ich bin gekommen, damit du heute nicht alleine sein musst.“ So drückte ich die Alte und schob sie zurück in ihre Wohnung. „Komm, komm mein Junge“, sagte sie glücklich, „ich hoffe du bringst etwas Zeit mit.“ Der Anblick der Wohnung lud mich zwar nicht gerade ein, aber was konnte man von einer alten blinden Frau erwarten. Ich glaubte, dass Robins Oma es wusste, dass ich nicht ihr Enkel war, denn an meiner Stimme und an meiner Statur
musste sie es erkannt haben, daran gab es keinen Zweifel. Jedoch verharrte ich in der Rolle ihres Enkels. Wir kochten und schwatzen. Sie berichtet aus vergangenen Zeiten und blühte noch einmal für eine kurze Weile auf. Dabei deckte ich den Tisch für uns beide, sogar eine Flasche Rotwein spendierte Oma Mia, um dem Weihnachtsessen eine besondere Stimmung zu verleihen. Es war ein perfektes Essen. Wir lobten uns gegenseitig für die gute Küche und amüsierten uns noch eine lange Zeit über dies und das. Schließlich holte die Müdigkeit Oma Mia ein, ich half ihr, in ihrem, die Jahre überdauerten Ohrensessel Platz zu nehmen, deckte sie
zu und spülte danach das Geschirr. Als ich wieder zu ihr hin trat, schlief sie friedlich mit leicht geröteten Wangen und leise schnarchend in dem alten Sessel. Ich vermutete, dass es an dem Rotwein lag. Leise verabschiedete ich mich von ihr, legte Robins Geldbörse auf den Küchentisch, verließ die Wohnung und trat meinen Heimweg an. In meinen eigenen vier Wänden sinnierte ich noch eine lange Zeit über das Erlebte und war mir sicher, dass Oma Mia seit langer Zeit wieder ein schönes Weihnachtsfest erlebt hatte, so wie ich. Eine größere Freude hätte Robin ihr nicht machen können. Ich überlegte, ob ich Oma Mia noch einmal aufsuchen
sollte, vielleicht, um mit ihr über das Geschehene zu plaudern, ihr zu sagen, wer ich wirklich war, ein Mann im gestandenen Alter, und dass ich mich Paul zu nennen pflegte. Dieses Mal wollte ich aber nicht so viel Zeit verstreichen lassen, denn mir tat die alte Dame leid, so alleine in der unschönen Bleibe. Auch wenn sie blind war, sollte sie doch im Alter ein Heim unter Menschen haben. Ich beschloss nach den Feiertagen, sicherlich hatten ihre Angehörigen diese Tage mit ihr verbracht, Oma Mia ein weiteres Mal zu besuchen. Mein Gewissen plagte mich, obwohl ich nichts Verbotenes getan hatte. Ich schlief unruhig des Nachts
und auch tagsüber ließen meine Gedanken mich keineswegs ohne Oma Mia sein. Kurz entschlossen zog ich meinen Wintermantel an, vergaß den Hut und die Handschuhe und eilte hinaus in die Kälte. Silvester sollte Oma Mia nicht alleine sein. Ich eilte durch die Straßen, durch die Dunkelheit, und außer Atem erreichte ich, immer noch rechtzeitig, um mit ihr ein Abendessen zu zaubern, den Block, in dem die alte Dame ihr trauriges Dasein verbrachte. Schnellen Schrittes bezwang ich die Treppen bis in den dritten Stock, den langen Gang entlang und blieb erschöpft vor Oma Mias Wohnungstüre stehen. Ich klingelte, wartete, klingelte erneut und
wartete eine weitere Weile, nichts rührte sich. Aus der gegeüberliegenden Wohnung blickte mich neugierig eine Frau mittleren Alters an. Ich grüßte höflich und fragte nach Oma Mias Befinden und warum sie nicht öffnete. Die Nachbarin sah mich vorwurfsvoll an und erwiderte: „Sie kommen leider zu spät mein Herr, man trug sie gestern aus dem Haus.“
Enya2853 Eine Geschichte, die wirklich anders ist und die mich sehr nachdenklich stimmt. Hinter wie vielen Türen mögen Menschen leben wie Oma Mia und wie oft kommt ein "Robin" zu ihnen? Eine traurige Wahrheit... Oma Mia hatte wenigstens noch einen wunderbaren Abend. Toll geschrieben. Lieben Gruß Enya |