die flucht
Ali und Nino sind zuhause in einem Land, das oft von Naturkatastrophen gebeutelt wird. Ein paar winzige Felder und eine kleine Ziegenherde ermöglichen ihnen in diesem Gebirgsland ein bescheidenes und doch zufriedenes Leben.
Eines Tages, während eines verhältnismäßig milden Winters, ereignet sich ein Erdbeben in ungeahnter Stärke. Es bringt sie an den Rand des Ruins. Sie verlieren fast alles. Nur eine Hand voll Ziegen sind ihnen geblieben. Ihr Haus zerstört, die kleinen Felder total verwüstet. Für einen Wiederaufbau
reicht das Geld nicht, wenn man schon sonst fast ums Überleben kämpft. Im Nachbardorf, das glimpflich davon gekommen ist, bekommen sie für den Rest des Winters ein notdürftiges Quartier.
Inzwischen ist es Frühling geworden und sie können umher ziehen, ihr Tiere weiden und die wenige Kleidung schützt sie einiger maßen.
Dann bricht dieser unselige Krieg aus. Sie sind beide Angehörige verschiedener Volksstämme und deshalb nicht mehr akzeptabel in dem Land, das noch vor kurzer Zeit ihre Heimat war.
Aber sie sind jung und stark. Und sie haben sich, ihre unverbrüchliche Treue,
ihren festen Zusammenhalt und ihre tiefe Liebe, die in der Not noch stärker geworden ist. So beschließen beide, die Heimat zu verlassen und begeben sich auf die Flucht. Ruhelos ziehen sie umher mit dem Ziegenpärchen, das ihnen als letztes geblieben ist. Der eine oder andere hat ihnen aus Mitleid hier und da Unterschlupf gewährt, sein Brot mit ihnen geteilt und ihnen das eine oder andere Kleidungsstück geschenkt. Auf diese Weise schlagen sie sich mühsam durch bis zur Grenze. Sie wollen hinüber in das Nachbarland, in dem schon etliche von ihnen eine neue Heimat gefunden haben sollen. So hat man es ihnen offensichtlich
erzählt.
Ende des Sommers beginnt sich Ninos Leib zart zu wölben. Aber sie wagt nicht, Ali alles zu erzählen. Allmählich rückt die Grenze näher und näher. Der Herbst mit seiner Pracht überzieht die Laubwälder, befeuert alles mit seinen Farben und die immer noch milde Luft gibt den beiden die Hoffnung, vor dem Wintereinbruch ihre neue Heimat zu erreichen.
Nur mehr einen Pass haben sie zu überqueren, dann ist es geschafft. Ninos Zustand hat sich nicht länger verbergen lassen und nun weiß auch Ali, dass sie bald zu dritt sein werden.
Nach weiteren zwei Tagen mühsamen
Wanderns haben sie die Grenze überschritten und ziehen nun bergab ins Tal hinunter. Über Nacht erleben sie einen heftigen Temperatursturz und die beiden können sich, eng aneinander und an die Tiere gekuschelt, kaum warm halten.
Im klaren Licht des neuen Tages entdecken sie in erreichbarer Entfernung die schwarzen Ziegenhaarzelte von Hirtennomaden. Dorthin wollen sie zunächst.
Das erste Zelt, das sie gegen Abend erreichen, steht abseits von den anderen. Als sie sich bemerkbar machen, bittet sie eine alte Frau, ihre Gäste zu sein. Ihr Gesicht ist gezeichnet
von Wind und Wetter und vom ständigen Kampf ums Überleben. Aber ihre Augen strahlen. Eine Wärme und Liebe verbreitet ihr Blick, dass den beiden Flüchtlingen die Tränen in die Augen steigen.
Nachdem sie sich an das Dämmerlicht im Zelt gewöhnt haben, bemerken sie einen ebenso alten Mann, der mit dick verbundenem Bein auf einem weichen Kissenlager ruht. Auch er heißt sie herzlich willkommen als seine Gäste. Sogleich bekommen sie, wie es hier für Gäste üblich ist, heißen Tee serviert. Während seine Frau die Abendmahlzeit zu bereitet, im Tontopf gekochte Bohnen mit Fleisch vom Schaf, Joghurt
und etwas Fladenbrot, erzählt der Mann, dass er beim Schafe und Ziegen Zusammentreiben schwer gestürzt ist und nun dringend Hilfe braucht. Sofort bieten sich Ali und Nino an und übernehmen bereitwillig diesen Dienst.
Mehrere Wochen leben und arbeiten die jungen Leute bei den beiden Alten und haben inzwischen deren volles Vertrauen gewonnen. Bei Nino rückt der Geburtstermin immer näher und als draußen ein Schneesturm um das schwarze Zelt aus Ziegenhaar tobt, bringt sie mit Hilfe der alten Frau ihr Kind zur Welt. Es ist ein Junge und die frommen Eltern nennen ihn ISA, das heißt Jesus. Als das Kind zum ersten Mal
lächelt, ist das Zelt von einem goldenen Lichtschein erhellt, der alle Herzen erfüllt.
In diesem Augenblick bricht der alte Mann sein Schweigen und mit Tränen in den Augen erklärt er: „Meine Frau und ich sind Hirtennomaden. Wir haben euch genau beobachtet. Ihr seid ehrlich, treu und sehr fleißig. Wir sind kinderlos und so haben wir beschlossen, euch für immer als unsere Kinder anzunehmen. Und der kleine Isa soll unser Enkel sein.“
Alle umarmen sich, weinen ein bisschen zusammen und in dem Zelt ist es auf einmal noch heller und wärmer geworden.
So geschehen in jener Nacht, in der in
vielen Teilen der Welt die Geburt des Christkindes gefeiert wird.