Die Traumburg
Can Borges
Mike lag in seinem einfachen Holzbett des kleinen Hauses in der ärmlichen Arbeiteransiedlung, jenseits des Londoner East End, wo Häuschen an Häuschen zusammengezimmert war. Obwohl seine Mutter ihn mit einer Extradecke für die Nacht zugedeckt hatte, fror er noch immer. Durch das kleine Fenster seiner winzigen Kammer
erleuchtete das fahle Licht des Vollmondes ein wenig das Zimmer und er konnte durch die Butzenscheiben auf den samtig weißen Anzug des gegenüberliegenden Hauses schauen.
Noch vor wenigen Stunden, als er seine Mutter von der Arbeit in der kleinen Schneiderei abgeholt hatte, in der sie manchmal aushalf, waren die Straßen Londons unbedeckt und einfach nur bitterkalt gewesen, wie schon seit etlichen Tagen. Es war der kälteste Winter, an den sich Mike in seinem jungen Leben erinnern konnte. Erst auf dem Rückweg, als er gemeinsam mit seiner Mutter vor dem Schaufenster des Spielzeugladens stand, rieselte sanft der
erste Schnee des Jahres herab und überzog bedächtig die fast menschenleeren Straßen mit einer dünnen Schicht wie aus Puderzucker. Mike lächelte. Puderzucker, den er so sehr auf dem Kuchen liebte, welchen es dieses Jahr in der Vorweihnachtszeit aber so selten bei ihnen gegeben hatte.
Seine Mutter vermied schon seit geraumer Zeit den Weg vorbei am Spielzeugladen so gut sie konnte, wenn sie mit Mike zusammen unterwegs war. Doch an diesem Abend war es einfach zu kalt und so hatte sie die kürzeste Strecke für den einstündigen Nachhauseweg gewählt. Und erneut schnitten ihr die freudigen Blicke Mikes
mitten in ihr Mutterherz, als er wieder auf diese einfache, aus vielen Klötzchen bestehende Holzburg starrte und kindlich erregt seiner Fantasie freien Lauf ließ. Für ihn war dieses schlichte Holzgebilde ein wahres Traumschloss, in dem stolze Ritter für ihre wunderschöne Königin und den mächtigen König kämpften. Prunkvolle Bälle spielten sich darin ab, Ritterspiele wurden im Hof gegeben, Mägde und Knechte erfüllten sie mit Lachen und der Stall war voller edelster Pferde.
In den letzten Jahren konnte die Mutter Mike immer seinen Lieblingswunsch erfüllen. Sie hatten nie viel Geld dafür übrig, aber Mikes Wünsche waren auch
niemals besonders anspruchsvoll und teuer. Durch seine Fantasie wurden die einfachsten Sachen zu einem wunderbaren Spielzeug. Dieses Jahr sah aber alles anders aus. Mikes Vater arbeitete für gewöhnlich als Tagelöhner im Themsehafen, aber diesen Herbst und Winter hindurch war so wenig zu tun gewesen, dass er nur selten dort Beschäftigung fand. Fast den ganzen Dezember hindurch war der Hafen von eisigen Ketten gefesselt, sodass es gar keine Arbeit mehr gab. Das Wenige, was er durch andere Jobs verdienen konnte, hatte er nahezu vollständig in die Hafenkneipen getragen, was zuvor niemals seine Art gewesen war. Er tat
dies alleine aus Frust, Sorge und Scham darüber, seine kleine Familie nicht mehr ordentlich versorgen zu können. Er verschlimmerte die Situation dadurch zwar noch mehr, wusste sich aber nicht anders zu helfen. In den Jahren seit Mikes Geburt hatte er durch die schwere Arbeit im Hafen nie Reichtümer anhäufen können, aber die Familie war zumindest immer mit dem Nötigen versorgt. Ab und an war sogar das Geld für einen deftigen Sonntagsbraten oder einen guten Kuchen übrig gewesen.
Wenn der Mutter an diesem Weihnachtsvorabend nicht ein Baumverkäufer seine letzte Fichte geschenkt hätte, weil sonst niemand
dieses schiefe und etwas verkrüppelte Bäumchen hatte haben wollen, wäre nicht einmal dafür Geld übrig gewesen. Doch selbst diese kleine Fichte musste in diesem Jahr völlig auf Kerzen und aufwendigen Schmuck verzichten. An Schokolade für Mike, welche die Jahre zuvor immer im Christbaum hing, war schon gar nicht zu denken. Und noch viel weniger an die einfache Holzburg aus dem Spielzeugladen.
Das Schaufenster des Spielzeugladens war, wie an so vielen Abenden, von innen noch immer gut ausgeleuchtet, da aus einem hinter der Ladentheke liegenden Raum ausreichend Licht auf die Auslage fiel. Der schon etwas ältere
Ladenbesitzer arbeitete dort in seiner Werkstatt oft noch nach Ladenschluss an selbsthergestelltem Spielzeug, manchmal die ganze Nacht hindurch. Er tat dies an sich auch sehr gerne, aber in diesem Jahr musste er zu viel Spielzeug selbst herstellen. Die Geschäfte liefen zu schlecht, als dass er viel hätte zukaufen können, wie er es in den letzten Jahren üblicherweise getan hatte. Dementsprechend leer war dieses Weihnachten auch die Schaufensterauslage. Neben der Holzburg gab es dort nur noch wenige andere Spielzeuge: ein Schaukelpferd, wenige Puppen, ein paar Holzfahrzeuge und Zinnsoldaten, ein spärlich
ausgestatteter Bauernhof und nicht viel mehr. Wie die Burg waren auch diese nahezu unverkäuflich, weil sie für reiche Leute zu simpel waren, und die Ärmeren sich in diesem schlechten Jahr auch so etwas Einfaches kaum leisten konnten. Die meisten hätten den Laden sicher schon seit Langem aufgegeben, da er schon in guten Jahren nicht gerade viel einbrachte. Der Ladenbesitzer hatte aber keine eigene Familie und kam deshalb noch ganz gut über die Runden. Auch liebte er die glänzenden Kinderaugen und die Freude in ihren Gesichtern, wenn sie ein langersehntes Spielzeug endlich in Händen hielten, viel zu sehr, als dass er
sich von seinem Laden hätte trennen können, der schon so viele Jahre sein Leben war.
Mike hatte er, sowohl alleine als auch zusammen mit seiner Mutter, schon oft vor seinem Laden stehen sehen und ihn heimlich dabei beobachtet wie er sich seine kleine Nase an der Schaufensterscheibe platt drückte. Aber an diesem Vorweihnachtsabend konnte er Mikes leuchtende Kulleraugen, gemeinsam mit den merklich traurigen Blicken der Mutter, wenn sie Mikes Freude über ein Spielzeug wahrnahm, dass sie ihm nicht kaufen konnte, nicht ertragen.
Die Mutter drängte Mike bald dazu
weiterzugehen, und das nicht nur, weil es so bitter kalt war. Auf dem restlichen Nachhauseweg bemerkten weder Mike noch seine Mutter, dass jemand den gesamten Weg bis zu ihrem Haus hinter ihnen herschlich. Genauso fiel niemandem auf, dass im späteren Verlauf des Weihnachtsvorabends wieder einmal das Licht in der Werkstatt des Spielzeugladens nicht erlosch.
Vor dem Zubettgehen hatte Mike gemeinsam mit seiner Mutter den kümmerlichen Weihnachtsbaum mit dem wenigen, was ihnen dafür zur Verfügung stand, geschmückt. Etwas Watte, ein paar gesammelte und mit Draht befestigte Tannenzapfen, einige bunte
Wollreste, die zu nichts anderem mehr zu gebrauchen waren, und ein Holzengel, der nur noch einen Flügel hatte und an die Spitze kam.
Auch in der Stube, die gleichzeitig als Küche diente, war es nur mäßig warm, da sie für diesen Winter weder ausreichend Holz für den Herd noch genug Kohlen für den kleinen Ofen kaufen konnten. Sonst gab es in dem kleinen Häuschen nur noch die engen Schlafräume, seinen und den der Eltern. Dort wurde gar nicht geheizt, bestenfalls bezogen die Kammern ihre Wärme über die dünnen Wände zur Stube.
Die Mutter hatte sich beim Anblick des
fertig geschmückten, schiefen Bäumchens gar nicht glücklich gefühlt und war sehr niedergeschlagen darüber gewesen, dass sie ihrem Sohn nichts Besseres bieten konnte. Für Mike hingegen stand die kümmerliche Fichte den Weihnachtsbäumen der Vorjahre in nichts nach. Seine Fantasie machte aus ihm das am schönsten geschmückte Bäumchen aus der ganzen Stadt, auch wenn es nicht wirklich der Fall war. Und so war er zumindest mit einem warmen Gefühl zu Bett gegangen. Dass er am Weihnachtsmorgen keine Geschenke erwarten sollte, hatte ihm seine Mutter schon vor ein paar Tagen schonend und behutsam beibringen
müssen. Sie hatte es nicht übers Herz bringen können, damit bis zum allerletzten Tag zu warten. Er hatte zwar in seinem jungen Alter nicht richtig verstanden, warum dies so war, und auch nicht, warum sie in diesem Winter so oft hatten hungern müssen, aber er wusste ganz genau, dass seine Mutter daran ganz gewiss keinerlei Schuld trug, und fand sich daher damit ab.
Zum Glück war er schon eingeschlafen, als sein Vater aus der letzten noch geöffneten Hafenkneipe nach Hause fand und bekam von dem Streit der Eltern, den es in letzter Zeit so oft gegeben hatte, nichts mehr mit. Auch nicht
davon, dass sein Vater noch über eine Stunde weinend vor dem lauwarmen Herd gesessen hatte, bis er schließlich müde, noch etwas trunken und sehr niedergeschlagen auch ins Bett zu seiner Frau geschlichen war.
Mike erwachte von einem Geräusch, das sich anhörte wie das Schließen der alten und völlig verzogenen, hölzernen Haustür, durch die es nicht nur fürchterlich zog, sondern die man auch nur noch mit sehr viel Kraft schließen konnte. Dies war leise gar nicht mehr möglich. Das Knarren hatte ihn aus einem wunderschönen Traum geholt, den er gemeinsam mit vielen stolzen Rittern in seiner Traumburg verbrachte.
Die Dämmerung war draußen schon angebrochen und die erste eindringende Helligkeit tauchte seine Kammer in ein schummriges Zwielicht. Deshalb wusste er auch im ersten Moment nicht so genau, ob er schon richtig wach war oder sich noch in seiner geliebten Burg aufhielt. Es war zwar jetzt kuschelig warm unter der Bettdecke, aber dennoch überwog nach ein paar Minuten schon die kindliche Neugier. Außerdem schien es seltsamerweise so, als ob es in seiner Kammer deutlich wärmer sei, als es noch in der vorigen Nacht gewesen war. Hatte der Vater schon die Stube geheizt, obwohl sie kaum noch Kohlen besaßen? Und hatte er danach schon so früh
morgens das Haus verlassen?
Obwohl die Stube auch nur ein kleines Fenster besaß, drang ein heller Schimmer durch jede Ritze seiner Kammertüre! Mike gab seiner Neugierde nach und entwich der wohligen Wärme seines Bettes, war aber sehr überrascht darüber, danach in einer angenehm warmen Kammer zu stehen. Das hatte er in diesem harten Winter noch niemals erlebt! Das verunsicherte ihn ein wenig und deshalb überkam ihn auch ein wenig Scheu davor, die Tür zur Stube sofort zu öffnen, und er verharrte erst noch einige Momente davor.
Ihm schlug eine ungewohnte Wärme entgegen und er musste sich erst die
Augen reiben, ob der wunderschönen und gleichzeitig seltsamen Dinge, die sein Blick in der Stube erfassen konnte. Es brannten Kerzen nicht nur am festlich geschmückten Christbaum, auch an den anderen Orten im Raum, wo man sie abstellen konnte. Auf der Kommode, im Fenstersims, neben den Kammertüren und auf dem Küchentisch. Im Baum hingen bunte Kugeln, filigrane Strohsterne, Äpfel, Nüsse, sogar ein wenig Schokolade und über allem thronte ein glitzernder Weihnachtsengel an der Spitze. Die vielen Lichter gaben selbst diesem kärglichen Zimmer einen gemütlichen Anschein. Der Herd und der kleine Ofen waren nicht nur gut geheizt,
daneben standen auch Holz und Kohlen für mehrere Tage. Den ganzen Raum durchzog ein wunderbarer Duft von Gebäck und Speisen, die allesamt auf dem kleinen Stubentisch standen und diesen annähernd bedeckten. Als seien dies nicht schon Wunder genug, stand die größte Überraschung in einer dunklen Ecke neben dem Weihnachtsbaum, die er nicht sogleich hatte einsehen können. Aber nun sah er sie und sein kleines Herz raste vor Glück: seine Traumburg! Nur war diese noch viel schöner als die aus dem Schaufenster. Sie ähnelte ihr zwar sehr stark, jedoch waren alle Teile mit den schönsten Farben verziert, der Innenhof
mit vielen stolzen Rittern aus Zinn belebt und sogar ein kleiner Wald, mit geschnitzten Hirschen und Rehen in ihm, umsäumte die Burg.
Hatte seine Mutter ihn mit Absicht belogen, nur um ihn anschließend überraschen zu können?
Voll überschwänglicher Freude und Dankbarkeit stürmte er in die Schlafkammer seiner Eltern. Aber nicht nur seine Mutter lag dort noch in tiefem und festem Schlaf, auch sein Vater! Wer hatte dann die Wohnung verlassen und ihn mit dem lauten Geräusch der Tür geweckt? Eifrig hüpfte er auf dem Bett seiner Eltern auf und ab und versuchte sofort, als er eine Regung des
Erwachens erkannte, ihnen alles mitzuteilen, was in der Stube Herrliches geschehen war. Heraus kamen allerdings nur sich überschlagende Wortfetzen, mit denen weder Vater noch Mutter etwas anzufangen wussten. Sie sahen beide nur ihren völlig aufgelösten und hektisch umherhüpfenden Sohn, fühlten die ungewöhnliche Wärme im Raum, sahen das helle, flackernde Licht aus der Stube in ihren Schlafraum dringen und waren daraufhin sofort hellwach, da sie daraus nur schließen konnten, dass in der Stube ein Feuer ausgebrochen war. Ihren gemeinsamen Ansturm in Richtung der Stube stoppten sie aber schon im Türrahmen jäh wieder ab, wo
sie wie angewurzelt stehen blieben, aufgrund der seltsamen Überraschungen die sie dort in Augenschein nehmen konnten.
Es wurde das wunderbarste und glücklichste Weihnachtsfest, das sie jemals erlebt hatten. Obwohl sie nicht einmal wussten, durch wen sie dieses unbeschreibliche Glück erfahren hatten und wem sie dafür hätten danken können.
Kurze Zeit nach dem Fest ging die Mutter noch im Dunkeln des frühen Morgens durch die wunderschön verschneiten Straßen Londons, zu ihrer Arbeit in der kleinen Schneiderei, vorbei am Schaufenster des Spielzeugladens.
Durch das Schneegestöber konnte sie nur erkennen, dass der angestammte Platz der Holzburg leer war und in der Werkstatt des Spielzeugmachers helles Licht brannte.
Eine einzelne Träne lief ihr über die kalte Wange, fiel hinunter in den unberührten Schnee und gefror dort unmittelbar zu einem kleinen Kristall, auf den ein Lichtstrahl aus der Werkstatt traf und ihn kurz aufleuchten ließ wie einen winzigen Stern am nächtlichen Firmament.
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roxanneworks Eine wirklich gut erzählte Weihnachtsgeschichte, atmosphärisch dicht und in schöne Bilder verpackt. Gefällt mir sehr gut. Ganz liebe Grüße roxanne |