Ein Herz für Zwei
Es schneite seit mehr als zwei Stunden ununterbrochen. Dicke Flocken tanzten auf dem Wind, bis sie erschöpft auf die Erde fielen und einen wunderschönen weißen Teppich über die weite Landschaft legten.
Maike stand am Fenster ihres kleinen Backsteinhauses, dass sie von ihren Eltern geerbt hatte und blickte gedankenversunken hinaus, über die Felder hinweg, bis zum Wald. Hier hatte sie immer die Ferien ihrer Kindheit verlebt und all die Jahre im Kreise der Familie das Weihnachtsfest gefeiert.
Bei den Gedanken an diese glücklichen Stunden liefen Tränen über ihre Wangen. Wie
sehr hatte sie sich immer auf die Zeit in dem alten Haus gefreut. Und wie sehr hatte sich ihr Leben verändert, seit diesem für sie alles verändernden Telefonanruf vor nunmehr fast neun Monaten. Niemals würde sie den Moment vergessen, als ihr eine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung mitteilte, dass ihre Eltern an einem schweren Verkehrsunfall beteiligt waren und man sie dringend in der nahegelegenen Uni - Klinik erwartete.
Die Zeit danach erlebte sie irgendwie in Trance. Sie verließ völlig verstört ihren Arbeitsplatz - kam jedoch sonderbarer Weise heil auf der Intensiv - Station des Krankenhauses an, wo ihr ein junger Arzt schließlich die ganze Wahrheit mitteilte.
Für ihre Mutter kam jede medizinische Hilfe zu
spät. Sie verstarb noch am Unfallort. Ihr Vater erlitt schwerste Schädelverletzungen und lag in Koma. Hirntod lautete die letzte Diagnose. Damals empfand sie gar nichts - alles in ihr war wie aus Stein. Selbst als man sie drängte, einer Organspende zuzustimmen, um das Herz ihres Vaters zur Transplantation frei zu geben, reagierte sie wie ein Roboter. Ohne jeglichen Schmerz, überhaupt ohne jewedes
Empfinden.
Das alles lag nun viele Monate zurück. Die Trostlosigkeit ihrer Gefühle, die der Verlust ihrer Eltern mit sich brachte, war nach der Beerdigung wie eine Lawine über sie hinweg gerollt und begrub das wärmende Licht ihres Lebens unter einer grauen, atemraubenden Masse, die sie rundum einhüllte und immer
noch gefangen hielt.
Ihre Eltern hätten nicht gewollt, dass die sprühende Lebensfreude, die ihrem Wesen so eigen war, in dem Abgrund bodenloser Traurigkeit verschwand. Sie wollte wieder leben, wollte endlich Freude empfinden können. Mit diesem ganz persönlichen Weihnachtswunsch im Herzen stand sie hier am Fenster ihrer Vergangenheit und versuchte die Zukunft zu erkennen. Genug der trübsinnige Gedanken, schalt sie sich. Es gab noch einiges zu tun, denn schließlich war morgen Heiliger Abend.
Maike ging zu Fuß in den kleinen Ort, um noch einige Lebensmittel einzukaufen. Nichts hatte sich in den Jahren verändert. In dem winzigen Tante - Emma - Laden stand die
wohlbeleibte Besitzerin des Geschäftes immer noch selbst hinter der Theke und bediente ihre Kundschaft mit viel Herz und einem liebevollen Lächeln auf ihrem runden Gesicht. Hier schien die Zeit wahrlich stehen geblieben zu sein. Maike fühlte sich spontan an die verklärte Schokobonbon - Werbung aus dem Fernsehen erinnert. Einige der anwesenden Kunden erkannten sie sofort und sprachen ihr herzliche Beileidswünsche aus. Maike bedankte sich, lehnte allerdings die sicher nett gemeinten Einladungen zu einem weihnachtlichen Kaffeetrinken ab. Die Menschen hier im Ort waren warmherzig und stets um den anderen bemüht, was gerade jetzt wieder deutlich spürbar war. Langsam schlenderte Maike durch die verschneiten
Strassen, vorbei an den geschmückten Fenstern mit schönen holzgeschnitzten Lichterbögen und Figuren, bis zu der kleinen Kirche, die mittig auf dem Dorfplatzes errichtet war. Davor stand, wie jedes Jahr, eine große Krippe mit alten handgeschnitzten Figuren. Eine kleine Schar Kinder stand davor und machten sich aufgeregt Gedanken über das Jesuskind. Fast hätte sie laut gelacht, als ein kleiner Junge meinte, er würde gerne wissen, was wohl aus dem Baby geworden sei. Eine seltsam heitere Stimmung erfasste ihr Herz, dass sich plötzlich in geheimnisvoller Weise auf Weihnachten zu freuen begann.
Am Morgen des Heiligen Abend schien die Sonne und die Schneedecke, die in der Nacht
noch dicker geworden war, funkelte und glitzerte, als lägen abermillionen Diamanten auf dem Weiß.
Maike nahm sich vor, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang zu machen, um danach das kleine Tannenbäumchen zu schmücken, das sie gestern noch schnell gekauft hatte. Gegen Mittag frischte der Wind merklich auf. Es begann erheblich zu Schneien. Immer stärker wurde der weiße Niederschlag, sodass Maike ihren Ausflug in die Natur beendete und den Rückweg antrat. Der Wind wurde eisig. Er trieb taumelnde Schneeflocken vor sich her, fegte sie zusammen und türmte Flocke für Flocke zu kunstvollen Hindernissen jenseits des Weges auf. Die Kälte drang durch ihre Kleidung und
sie freute sich schon auf ein Glas Glühwein am Kamin, Weihnachtslieder und Spekulatius.
Inzwischen war es dunkel geworden. Maike saß mit einem Getränk, Gebäck und Wolldecke in dem großen Sessel. Vor das knisternde Feuer gekuschelt wartete sie darauf, dass ihr Körper sich langsam wieder aufwärmte, und auch ihr Herz schien im Klang der alten Lieder zu tauen.
Ein lautes Pochen an der Tür ließ Maike im Sessel hochschrecken. Sie musste wohl eingeschlafen sein und wußte für einen kurzen Moment nicht, wo sie war. Wieder klopfte es. Langsam stand sie auf - die Decke um ihre Schultern geschlungen - ging zur Tür und öffnete.
Im Schneegestöber stand ein junger Mann,
völlig verfroren und schaute sie auf eine merkwürdig fragende Weise an.
"Was kann ich für sie tun? Brauchen sie Hilfe?" erkundigte sich Maike besorgt.
"Ich glaube schon. Ja, ich brauche ihre Hilfe," meinte er nachdenklich. Maike sah ihm in die Augen. Etwas Vertrautes glaubte sie darin zu erkennen und ohne weiter darüber nach zu denken, trat sie beiseite und ließ den Fremden eintreten.
"Ich danke ihnen. Wirklich sehr freundlich," murmelte er im vorbeigehen. Maike schloss die Tür, drehte sich zu ihm um und sah, dass er immer noch schneebedeckt und wie angewurzelt in der Mitte des Wohnzimmers stand. Er tropfte. Um ihn herum bildete sich zusehends ein kleiner See aus Tauwasser zu
seinen Füßen.
" Kommen sie mit ins Badezimmer, sonst schwimmen wir hier gleich weg," schlug sie mit einem Lächeln vor.
" Hier können sie die nassen Klamotten ausziehen und über die Stange hängen. Ich bringe ihnen gleich etwas zum Anziehen, ok!" Sie schaute ihn an. Er nickte nur und begann seine Jacke zu öffnen.
Maike überlegte kurz und steuerte dann den Kleiderschrank ihres Vaters an. Seine Freizeitkleidung hatte sie nicht angerührt. Wegwerfen konnte sie seine Sachen nicht. Noch nicht. Spontan griff sie sich einem Jogginganzug, T -Shirt und ein Paar warme Wollsocken und legte das kleine Bündel vor der Tür des Bades ab und klopfte.
"Ja, kommen sie rein" rief es von der anderen Seite.
" Nein, ich habe ihnen hier ein paar Sachen vor die Tür....". Weiter kam sie nicht, denn plötzlich stand er vor ihr und lächelte.
" Sie können ruhig reinkommen, ich beiße nicht," versuchte dieser Mann sie zu beruhigten, der nun, wie selbstverständlich, halbnackt vor ihr stand. Sie wußte gar nicht, wo sie hinschauen sollte. Röte trat ihr ins Gesicht und sie zog es vor, so schnell wie möglich seinen Dunstkreis zu verlassen.
"Ich warte im Wohnzimmer auf sie. Nehmen sie sich ruhig Zeit," beendete Maike den Satz und war auch schon verschwunden. Was machte sie hier eigentlich, fragte sie sich
bestimmt. War sie verrückt geworden, einen fremden Kerl in ihr Haus zu lassen? Wie hieß er eigentlich? Nicht einmal das hatte sie ihn gefragt und trotzdem stand er jetzt in ihrem Bad: nackt! Maike war stets eine vernünftige Person gewesen, doch nun passierte ihr sowas. Dafür musste es einen guten Grund geben. Es gab immer einen Grund, wenn etwas Sonderbares passierte, obwohl er meist nicht sofort erkennbar war. Sie glaubte an die Macht des Schicksals, auch wenn es bisher für sie eher nur mit Leid verbunden war. Doch nun schummelte sich ein Lichtstrahl in ihre Gedanken. Heute ist der Heilige Abend. Was wäre, wenn es ihr vorbestimmt war, genau diesem Mann zu begegnen? Genau heute.
Noch in ihre Überlegungen vertieft, drang
seine dunkle Stimme zu ihr durch: " Danke nochmal! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Andreas.... Andreas Wiesner, männlich, achtundzwanzig Jahre alt, ledig und total verwirrt, " meinte er belustigt, denn sie starrte ihn die ganze Zeit, während er redete, mit offenem Mund an.
Maike sammelte sich.
"Nett sie kennen zu lernen, Andreas," meinte sie etwas verhalten.
" Maike Hansen, siebenundzwanzig Jahre alt, weiblich, unbemannt und ebenfalls verwirrt." Nun lachten beide.
Nachdem sie Andreas und sich einen Glühwein erhitzt hatte, saßen sie am Kamin und plauderten. Er erzählte ihr seine ganze
Geschichte, sprach davon, auf der Heim - reise nach Hamburg gewesen zu sein, als plötzlich die Elektronik seines Wagens ausgefallen sei und trotz aller Wiederbe-lebungsversuche seinerseits, wollte der alte Karren anscheinend nicht weiter fahren. Genau wie sie glaubte auch er daran, dass es vielleicht ein Wink des Schicksals war, der beide zueinander geführt hatte. Sie sahen sich lange an. Die Stille, die sich nun im Raum ausbreitete, wurde angenehm spürbar und hüllte beide Herzen in einen seidenen Kokon.
"Meinst du nicht, dass es von einer höheren Macht vorbestimmt ist, wen wir lieben?" fragte er Maike ganz unvermittelt. Sie überraschte sowohl die Frage, als auch die Tatsache,
dass er sie dutzte. Doch das DU gefiel ihr.
Es dauerte einen Moment, bis sie ihm antwortete.
" Ich glaube, dass wir ein Mal im Leben dem Menschen begegnen, den zu Lieben uns vorbestimmt ist. Nur manchmal lassen wir das Glück vorübergehen, anstatt es für immer fest zu halten," meinte sie ernst. Andreas stand auf, nahm einfach ihre Hand in Seine und küsste sie sanft.
" Danke ...Auch wenn du es nicht verstehst, Maike - ich weiß, dass es so ist. Frage mich nicht, ich erkläre es dir ein bisschen später!"
Sie wußte gar nicht, wie ihr geschah. Er hielt noch immer ihre Hand. Seine warmen Lippen brannten noch auf der Haut und sein Blick tauchte tief in ihr Wesen ein. Wie tief konnten
Blicke sein?
Gemeinsam fühlten sie sich sehr wohl, kochten zusammen, aßen zusammen und so verging der Heilige Abend in trauter Zweisamkeit. Andreas schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer. Der ersehnte Schlaf hatte lange gewartet, bis er sie in ihrem kalten Zimmer aufsuchte. Mitten in der Nacht wachte Maike auf, plötzlich hellwach - dennoch auf eine wundersame Weise verhangen. Sie hatte geträumt.
Ihr Vater lag mit Schläuchen und Geräten verbunden im Bett und hielt ihre Hand. Sie weinte. Du musst nicht weinen, Maike. Mein Herz wird immer bei dir sein, das verspreche ich dir...flüsterte er, gab ihr einen Kuss auf die Hand und hatte seine Augen geschlossen.
Dann war sie aufgewacht. Sie weinte wirklich. Tränen liefen in kleinen Rinnsalen an der Nase entlang, über ihre Lippen und stürzten sich von dort in die Tiefe. Schluchzend wischte Maike sich über das Gesicht und sprach lautlos: Papa, Papa....wenn das doch wahr wäre...
Lange Zeit später fiel sie in einen unruhigen traumlosen Schlaf.
Beim Frühstück erzählte sie Andreas von ihrem Traum. Er hörte wortlos, fast schon verängstigt ihre Gedanken und folgte den klaren Schilderungen. Stille. Beide blickten sich an, sprachen kein Wort. Lange saßen sie schweigend.
" Ich muss dir etwas beichten, Maike!" platzte
Andreas in die Sprachlosigkeit.
" Beichten? Wieso beichten? Hast du etwas kaputt gemacht oder warum?"
" Nein. Es ist etwas anderes. Ich wollte mir und dir noch Zeit geben, aber ich denke, der Traum sollte auch mir etwas sagen."
"Wovon redest Du denn? Wieso sollte der Traum dir auch etwas sagen? Hast du heute schon Glühwein getrunken?" frotzelte sie ihn an, um die Stimmung aufzulockern, denn irgendwie war Andreas seit ihren Schilderungen sehr ernst geworden. Vielleicht hatte er ja auch schon einmal solche Erfahrungen gemacht, überlegte Maike. Trotzdem verstand sie ihn nicht. Er sprach in Rätseln.
" Hör mir einfach zu, bitte Maike. Nur zuhören!
Ich war seit meiner Geburt krank. Mein Herz war nicht gesund und es war eine Frage von Jahren, wann mein Körper in eine lebensbedrohliche Situation kam. Ich brauchte ein neues Herz und stand schon über zwei Jahre auf der Spenderliste. Es ging mir sehr schlecht und Anfang des Jahres gaben die Ärzte keinen Pfifferling mehr für mein Leben. Dann geschah für mich ein Wunder. Es wurde ein Herz gefunden und ich sollte es bekommen. Die OP war nicht ohne Risiko, doch ich habe alles gut überstanden und schon kurze Zeit später hatte ich ein neues Leben. Zum ersten Mal, seit ich lebte, konnte ich lange Spaziergänge machen, konnte ohne Luftnot oder anderer Probleme, all das tun, was ein junger Mann so tat. Man
hatte mir mein Leben geschenkt. Verstehst du mich. Begreifst du, was ich dir sagen will, Maike?"
Sie saß ihm gegenüber und schaute auf seinen Mund. Was sagte er da? Was nur sollte sie begreifen? Langsam schüttelte sie den Kopf.
" Du machst es mir sehr schwer. Gut. Ich wollte also wissen, wem ich mein Leben zu verdanken hatte und fragte nach. Es war nicht einfach, heraus zu finden, wer sein Leben lassen musste, um Meines zu retten. Als ich erfuhr, dass es nur noch eine Angehörige des Spenders gab, wollte ich mich bei diesem Menschen bedanken. Ich weiß nicht warum, aber es war wie ein innerer Zwang, der mich trieb. Also suchte ich nach
der Tochter des Mannes, der mir sein Herz gegeben hatte...."
" Nach der Tochter des Mannes, der dir sein Herz.....", wiederholte Maike ganz langsam.
" Nein! Du hast ....der Traum.. oh Gott, jetzt verstehe ich. Aber wie? Warum....?"
Sie stotterte, fand keinerlei Worte, keine zusammenhängenden Gedanken.
Was hatte ihr Vater im Traum gesagt: Mein Herz wird für immer bei dir sein, das verspreche ich dir. Sie schloss die Augen und schluchzte , schluchzte....
Andreas nahm ihre Hände in seine und legte sie auf sein Herz.
" Lass mich bei dir sein, Maike. Er hat es dir versprochen!"
©roxanneworks 2013 / 12
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