Heringssalat, eine gitarre und ein Stern
Es war im Jahr 1962, der Winter hatte früh Einzug gehalten, schon im November war der erste Schnee gefallen und es war bitterkalt. Die letzten Tage vor dem Fest waren mit leicht hektischer Betriebsamkeit angefüllt, ich war ungeheuer aufgeregt und freute mich, denn wir sollten über Weihnachten Besuch bekommen, nicht nur Oma und Opa, sondern auch Ernst, Mutters Bruder, der seit einiger Zeit als Presseattaché in Afghanistan weilte. Und er würde seine Frau Laura mitbringen, die er vor Kurzem dort geheiratet hatte. Ich war sehr gespannt. Endlich ein Weihnachten
mit viel Familie. Die beiden Jahre zuvor hatte ich das Fest im Kinderheim und im Krankenhaus verbringen müssen. Diesmal würde es anders werden, da war ich mir sicher.
Wir lebten damals in einer Wohnung mit zwei kleinen Zimmern, für meine Mutter und mich ausreichend. Aber wo sollten wir den vielen Besuch unterbringen?
„Also, Oma und Opa schlafen im Wohnzimmer auf der Ausziehcouch“, sagte Mama, „und Ernst und Laura können es sich im anderen Zimmer einrichten. Das wird gehen.“
Ich überlegte, irgendetwas stimmte da doch nicht.
„Mensch, Mama, und wir beide? Gehen wir auf den Balkon? Das ist aber kalt.“
Meine Mutter lachte. „Nein, mein Schatz, wir...“, sie machte ein geheimnisvolles Gesicht, „wir schlafen auf dem Speicher.“
Das war wohl ein Witz. Da oben, wo es Spinnen gab und lauter Gerümpel herumlag? Nee, das wollte ich nicht. Ich zog eine Schnute.
„Lass dich einfach überraschen“, meinte Mama und grinste. „Aber jetzt an die Arbeit, es gibt noch viel zu tun.“
Wir brachten die Wohnung auf Hochglanz. Dieses Jahr durfte ich zum
ersten Mal helfen, den Baum zu schmücken. Er war groß und stand genau vor der Balkontür. Es gab keinen anderen Platz im Wohnzimmer, aber Mama meinte, dass wir sowieso nicht auf den Balkon müssten, jetzt bei der Kälte. Mit Begeisterung hängte ich die bunten Holzfigürchen an die Zweige, schmückte alles noch mit Strohsternen aus und ließ hier und da eine glänzende rote Kugel durchblitzen. Meine Mutter befestigte die Kerzen. Schön bunt sah der Baum aus, wie ich fand.
Am Abend fuhren wir mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof, um Oma und Opa abzuholen. Laura und Ernst
kamen am nächsten Morgen, dem Tag des Heiligen Abend. Unsere kleine Wohnung war nun mit Leben gefüllt.
Oma machte den Heringssalat, der traditionell dazugehörte. Für mich war das ein Gräuel, ein Gerapfel aus Fisch, roter Bete, Äpfeln und was weiß ich noch. Ich schüttelte mich schon bei dem Gedanken. Mama tröstete mich. „Du bekommst Würstchen und ich mache noch Kartoffelsalat.“
Wir saßen in der Küche, es gab Kaffee, Kakao und Mamas selbst gebackenes Rosinenbrot. Opa und ich spielten eine Runde Schach und ich war stolz, dass ich ihn richtig in Bedrängnis brachte. Mein
Onkel erzählte von Afghanistan und dem Leben dort. Er hatte auch Fotos, die eine atemberaubende Landschaft zeigten. Es war richtig gemütlich. Einzig der Geruch von Omas Heringssalat störte mich.
„Kann der blöde Salat nicht weg?“, fragte ich, auf die große Schüssel starrend. Ich verspürte leichten Ekel.
„Das Kind hat recht!“, rief Oma, „er sollte kalt stehen.“
Nun war guter Rat teuer. Wir hatten zwar einen kleinen Kühlschrank, der war aber restlos überfüllt mit all den Köstlichkeiten für die Feiertage. „Stell das Teil doch auf den Balkon“, meinte Laura, „da ist es schön kühl.“
Ein kluger Vorschlag, wie meine Mama
fand und so gelangte die Schüssel durchs Küchenfenster auf den Balkon. Ich war zufrieden.
Nachmittags gegen vier machten Mama, Opa und ich uns auf zur Kirche. Die anderen würden in der Zwischenzeit alles vorbereiten und ich wusste, bei unserer Rückkehr gab es die Bescherung. Als wir nach dem Gottesdienst die Kirche verließen, hatte es wieder angefangen zu schneien, ganz leichte, winzige Flocken, die im Licht der Straßenlaternen glitzerten. Ja, so musste Weihnachten sein. Ich war einfach glücklich, dass es dieses Jahr ein richtiges Familienfest
würde.
Zu Hause hatten sich alle in der Küche versammelt. Opa ging ins Weihnachtszimmer und schon kurz darauf läutete das Glöckchen. Als wir das Zimmer betraten, sangen wir „Ihr Kinderlein kommet“. Ich fand es wunderschön, wie der Christbaum strahlte und natürlich warf ich beim Singen auch schon einen Blick auf die Päckchen unter dem Baum.
Dann endlich durfte ich Weihnachtsmann spielen und die Geschenke verteilen.
Neben neuen Puppenkleidern, die Mama genäht hatte, und einem wunderbar weichen Pullover, bekam ich meine erste
Gitarre von Ernst und Laura geschenkt. Ich war hin und weg. Ich konnte mich nicht mehr auf das konzentrieren, was die anderen auspackten, sondern saß inmitten einem Chaos aus Weihnachtspapier auf dem Boden und klimperte. Es gab auch ein Buch dazu mit ersten Anleitungen, die ich auch sofort versuchte umzusetzen. Die anderen waren gnädig, ließen mir meine Freude und ertrugen tapfer mein Geklimper.
Doch dann meinte Mama, es sei Zeit zum Essen. Den Tisch hatten wir am Mittag schon gedeckt. Nun mussten nur noch die Schüsseln mit den Speisen aufgetragen
werden.
„Enya!“, rief Oma, „krabble doch mal rasch auf den Balkon und reich mir den Heringssalat.“ Ich spürte schon wieder dieses komische Gefühl im Magen, aber natürlich kletterte ich durchs Küchenfenster, um den Salat zu holen. Die Balkontür war ja durch den Christbaum verstellt. Ich erstarrte, als ich mich draußen umschaute. Auf dem kleinen Hocker, auf dem die Schüssel gestanden hatte, war nichts zu sehen.
„Er ist weg!“, rief ich zum Fenster hinein.
„Wie weg?“, fragte Oma erstaunt. Nun schaute auch sie aus dem Fenster und sah den leeren Hocker. Mein Blick fiel auf
den Boden, der vom Licht aus der Küche spärlich beleuchtet wurde, und ich erschrak. Im selben Moment stieß Oma einen Schrei aus, der den Rest der Familie zum Fenster trieb.
„Mein schöner Heringssalat!“ Oma brach in Tränen aus. Ich stand immer noch wie angewurzelt und schaute auf die Bescherung. Die Schüssel lag zerbrochen auf dem Boden und zwischen ihren Scherben ergoss sich ein Rest von rötlich aussehender Soße mit einigen undefinierbaren Bröckchen. Mitten in all das Entsetzen hinein tönte plötzlich ein lautes Lachen.
„Tja, Pech, dass ihr im Parterre wohnt“, meinte Ernst. „Ihr hattet wohl einen
hungrigen Weihnachtsgast.“
Er deutete nach links, wo man vor der Brüstung tatsächlich Spuren im Schnee sah. Pfotenabdrücke.
„Meine Güte!“, rief Mama, „das Peterle! Das habe ich ja ganz vergessen.“
Peterle war ein Kater, der in der Nachbarschaft lebte, uns aber hin und wieder auf dem Balkon einen Besuch abstattete. Tja, da war es nun um den schönen Heringssalat geschehen, auf den sich fast alle gefreut hatten.
Nachdem ich mich von dem ersten Schock erholt hatte, frohlockte ich insgeheim. Ich würde sowohl vom Anblick als auch vom Geruch verschont bleiben. Natürlich hütete ich mich, dies
laut kundzutun. Meine Mutter scheuchte mich rein. „Ab mit dir, es ist viel zu kalt. Eine Lungenentzündung können wir nicht gebrauchen. Tröste mal deine Omi, für sie ist es wirklich schlimm!“
Ich kletterte also wieder durchs Fenster in die warme Küche, während Mama sich mit Lappen, Schippe und Handfeger bewaffnete, um die „Schweinerei“, wie sie es nannte, zu entfernen. Ernst grinste immer noch und auch Laura schien das Unglück eher von der heiteren Seite zu nehmen. Opa blieb völlig ungerührt, war dabei sich eine Pfeife zu stopfen und meinte nur: „Na, da hat wenigstens einer genussvoll gespeist heute Abend.“
Einzig Oma saß noch am Küchentisch
und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. „Nein, all die Arbeit. Unser schöner Heringssalat ...“ Und wieder flossen ein paar Tränchen. Ich strich ihr über den Rücken, das schien mir ein angemessener Trost.
„Macht doch nichts, Oma. Wir haben ja noch Kartoffelsalat und Würstchen. Und denk nur, das Peterle hat sich bestimmt sehr gefreut. So ein leckeres Weihnachtsessen bekommt er nicht so schnell wieder.“
Nachdem meine Mutter den Balkonboden von den armseligen Resten des Salats befreit hatte, holte sie all das aus dem Kühlschrank, was dieser zu bieten hatte.
Außer dem Kartoffelsalat und den Würstchen fanden sich noch Roastbeef und verschiedene Käsesorten.
„Wir werden satt“, so Mamas Kommentar. Alle halfen, die Sachen ins Wohnzimmer zu bringen und bald saßen wir um den Tisch und ließen es uns schmecken. Irgendwann hatte sich sogar Oma beruhigt und langte tüchtig zu. Ich dachte an Peterle und freute mich für ihn. In meiner kindlichen Vorstellung sah ich das als gerecht an, denn bestimmt würde der Kater bei seiner Familie nicht ein so leckeres Weihnachtsessen bekommen.
Später spielten wir „Herzchen“, ein Kartenspiel, bei dem man möglichst die
Herzen nicht bekommen durfte. Meist gewann Oma, doch an diesem Abend schien sie unkonzentriert und verlor einige Male.
Ich spielte noch ein wenig auf der Gitarre, wurde aber dann langsam müde und zog mich in eine Sofaecke zurück. Ernst las eine Geschichte vor. Ich glaube, es war „Eine Weihnachtserinnerung“ von Truman Capote.
Ich verstand nicht alles, lauschte aber gern der Stimme, die mich noch schläfriger werden ließ.
Es war wohl recht spät, als sich alle entschlossen, ins Bett zu gehen. Im
Wohnzimmer mussten wir ein wenig Platz schaffen, damit für die Großeltern die Couch ausgezogen werden konnte. Ich schlüpfte rasch ins Badezimmer, um mich für die Nacht fertig zu machen.
Nach vielen Gute-Nacht-Küssen, die ich damals noch ziemlich ungerührt über mich ergehen ließ, stapften Mama und ich, in dicke Bademäntel gehüllt und mit zwei Wärmflaschen bewaffnet, hinauf zum Speicher.
Mama schloss die kleine Kammer auf, die unseren Vermietern gehörte und in der ihr Sohn mal eine Zeitlang übernachtet hatte.
Außer einem Stuhl und einem Bett, auf dem zwei riesige Daunendecken thronten,
stand nichts darin. Das wäre auch unmöglich gewesen, denn die Kammer war wirklich klein. Es war schrecklich kalt und Mama und ich kuschelten uns aneinander, eingehüllt in dicke Federbetten, die Wärmflaschen an den Füßen. Langsam merkte ich, wie die Wärme mich wohlig durchzog. Durch die Dachluke über uns konnte man ein Stück Himmel sehen. Es hatte wohl aufgehört zu schneien und die Luft schien klar, denn ich sah einen Stern, winzig, aber blinkend.
„Wie der Stern von Bethlehem, gell Mama?“, meinte ich und da ich damals sehr fantasievoll war, schmückte ich das Bild gleich mit meinen Gedanken aus
und sah mich als kleinen Hirten, damals in der Nacht, als Jesus geboren wurde.
„Wie gut, dass wir es warm haben“, sagte ich und kuschelte mich noch tiefer unter die Decke.
„Schlaf gut, Enya“, flüsterte Mama. „Das war doch ein richtig schöner Abend, oder?“
„Ja“, murmelte ich. „Und ganz ohne Heringssalat.“
Mit diesem Gedanken musste ich wohl eingeschlafen sein, glücklich und restlos zufrieden.