Wintermärchen
Der Tod jagte durch die Nacht, der Wind zerrte an den schwarzen Roben, die um seine dürre Gestalt flatterten. Schnee wirbelte auf, und wo immer er hintrat, verstummten die Lieder, wenn den Menschen ein ferner Schauer über den Rücken lief. Sie spürten, wo er nahte, auch wenn sie ihn nicht sehen konnten. Doch der Tod kam heute Nacht nicht zu ihnen. Er hatte ein anderes Ziel.
Leiser Gesang drang aus der fernen Kirche, getragen durch die gefrorene Luft. Sie lag im Schnee, die Lumpen fest um sich geschlungen. Ihre Glieder waren
taub und verweigerten ihr den Gehorsam. Zu lange saß sie schon hier, doch es gab auf der Welt keinen Ort, wo sie sonst hätte bleiben können.
Sie wäre gern näher an der Kirche gewesen, um die hübschen bunten Lichter zu sehen, und vielleicht, vielleicht hätte man ihr eine kleine Münze gegeben, doch das würde nie geschehen. Denn an der Kirche war der Mann, der mit Gott sprach.
Er, mit der schweren Kette und den braunen Roben, er scheuchte sie weg, wann immer sie kam. Er sagte, das sie schmutzig war, und dass sie nicht
kommen durfte. Und er musste rechthaben, oder? Schließlich sprach er mit Gott.
Der Tod rauschte durch die Straßen, immer dem Licht folgend. Menschen drängten sich in kalten, hohen Gemäuern, ihre Hände gefaltet, ihre Gesichter voller Hoffnung, Angst und Ehrerbietung. Sie wollten glauben, besonders heute Nacht.
Schneeflocken tanzten durch die Luft, landeten auf ihren Wimpern. Zögerlich wollte sie sie berühren, doch sie spürte ihre Finger nicht. Sie hatte Angst. Glöckchen klingelten durch die Stille,
Pferdehufen donnerten durch die Nacht. Irgendwo rauschte ein Schlitten vorbei. Es war eine Welt voller Wunder, doch in dieser Welt war kein Platz für sie.
Sie wusste, was mit ihr geschah, tief im Innersten, doch sie konnte nicht länger kämpfen. Zu einlullend war der Frieden des Nichtsseins, die wohlige, trügerische Wärme, die sich durch ihren Körper brannte.
Das einzige, was ihr blieb, war die Hoffnung. "Die Armen sind selig", dachte sie. "Ich komme in den Himmel... bestimmt komme ich in den Himmel". Der Mann hatte es gesagt, als sie
gelauscht hatte. Also musste es die Wahrheit sein.
Ihr Gesicht war bleich und hart wie Wachs, die Tränen auf ihren Wangen schon lange zu Eis erstarrt, als der Tod sie fand.
Ein Engel kniete vor ihr mit einem gütigen Lächeln auf dem hellen Antlitz, machte sich bereit, ihre Hand zu ergreifen, um ihre Seele in die nächste Welt zu führen.
Der Tod sah sie an, mit seinen leeren Augenhöhlen, in denen sich die Unendlichkeit spiegelte. "Nein", sagte er
einmal, laut.
Der Engel starrte ihn verwundert an, die goldenen Augen leer, unbegreifend.
"Nein", sagte der Tod wieder, unnachgiebig, und seine dürre Klaue schloss sich um die Hand des Engels, zerrte sie weg von dem erfrorenen Mädchen.
Der Engel leuchtete in einem unirdischen Licht auf, Flügel peitschten aufgebracht durch die Luft. Mit einem gezielten Hieb mit seiner Sense schleuderte er die geflügelte Gestalt zur Seite. Das seltsame Licht erlosch, und das
wundersame Geschöpf kippte bewusstlos zur Seite.
Der Tod beugte sich über das Mädchen, streichelte ihren Kopf. "Lebe", sagte er schließlich. "Das sei dein Geschenk". Ein leiser Atemzug entfuhr der kleinen Kehle, zögerlich, doch stetig. Er wickelte seine schwarzen Roben um sie, dann fuhr er mit seiner Klaue durch die Luft. Schatten legten sich erneut um ihn, und er verschmolz mit der Nacht.
Die bunten Lichter in der Kirche flackerten und gingen aus. Heiser sprach der Priester von Güte und Gerechtigkeit, als seine Kehle ganz erstarb. Sein Mund
klappt auf und zu, doch kein Laut kam heraus. Dann stürzte er zu Boden. "Erbarmen", sagte der Tod, leise und voller Zorn. "Liebe". Er sah den Mann an, in seinen braunen Roben wirkte er wie ein Vogel, der vom Ast gefallen war. "Gerechtigkeit", sagte der Tod, und nahm ihn mit sich.