„Und Sie haben mit Erin Dexter gesprochen, ja?“
Emma Kingsley schaute mich überrascht an. Als wäre es das Normalste der Welt. Gut, zugegeben, dass ich einen Anwalt brauchte war mir schon bewusst, doch das ausgerechnet Dexter jemanden vorbeischickte, überrumpelte mich ein wenig. Er spielte wieder einmal mit mir.
„Machen Sie sich keine Sorgen. In weniger als vierundzwanzig Stunden sind Sie hier raus. Ich habe beim zuständigen Richter bereits einen Antrag gestellt.“
Emma durchblätterte ihre Akten. Vielleicht kam es mir nur so vor, aber
ich hatte eher das Gefühl, dass sie mich überhaupt nicht wahr nahm. Die Atmosphäre in diesem Raum war mit Spannung aufgeladen. Ein falsches Wort und man konnte nicht sagen, in welche Richtung es gehen würde.
Ich lehnte mich ein Stück nach vorn. Eine kleine Provokation dürfte nicht schaden. Vielleicht würde sie mir gleich ihre Grenzen aufzeigen.
„Was ist, wenn ich gar nicht möchte, dass Sie mich vertreten?“
„Versuchen Sie es gar nicht erst, Detective Jennings. Sie setzen das Leben Ihres Sohnes aufs Spiel. Und das wollen Sie doch nicht oder?“
Ich runzelte die Stirn. Soweit war es
also schon. Dexter hatte Emma im Griff und sie scheinbar mich.
„Was haben Sie da eben gesagt?“
Ich hielt es nicht für möglich, dass mich diese Frau einschüchtern konnte, aber tatsächlich schaffte sie es, dass meine ganze Aufmerksamkeit nun ihr galt.
„Ich befolge nur meine Anweisungen, nichts weiter.“
„Warum arbeiten Sie ausgerechnet für Erin Dexter?“ wollte ich wissen.
„Ich muss wieder gehen!“ lenkte sie ab.
Als sie aufstehen wollte, hielt ich sie am Arm fest. Emma war wie ausgewechselt. Plötzlich sah ich die Angst in ihren Augen. Scheinbar versuchte sie, es so gut wie möglich zu überspielen. Ich
jedenfalls glaubte nicht mehr daran, dass sie freiwillig hier war.
„Bedroht er Sie?“ stellte ich die alles entscheidende Frage.
„Wenn wir beide am Leben bleiben wollen, dann sollten Sie mich loslassen!“
Emma lächelte leicht. Allem Anschein nach hatte sie etwas auf dem Herzen, aber irgendetwas hielt sie davon ab, es mir zu erzählen. Jede Wette, dass Dexter dahinter steckte. Es würde mich nicht wundern. Er hatte genügend Zeit, um all das hier durch zu planen.
„Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas Neues in Erfahrung gebracht habe. Bis dahin müssen Sie keine Frage beantworten. Und wenn Ihnen doch so
ist, dann rufen Sie mich an.
Sie wissen ja wie das läuft. Bauen Sie keinen Mist.“
Emma legte ihre Karte auf den Tisch und verließ den Raum.
Diese Frau gab mir Rätsel auf. Obwohl Sie am Anfang so einen abgeklärten Eindruck auf mich gemacht hatte, ließ mich der Gedanke nicht los, dass sie überhaupt nicht so kalt war, wie sie sich mir gegenüber gab.
Meine Überlegungen wurden schier gestört, als McDavon mit vollem Schwung zur Tür hereinspaziert kam.
„Alles in Ordnung, Sir?“ fragte ich nach.
Auf McDavons Stirn bildete sich bereits ein leichter Schweißfilm. Er sah nicht
wirklich gut aus und ich war gespannt, was er auf dem Herzen hatte.
„Die Mordkommission ist fertig mit ihrer Arbeit.“
Ich nickte ihm zu.
„Und das heißt?“
„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Glauben Sie, dass Sie das schaffen? Ich meine, auch ohne Ihre Anwältin?“
Ich überlegte kurz. Für einen Moment dachte ich darüber nach, Emma Kingsley vielleicht doch anzurufen, aber das hier war der Polizeipräsident und ich vertraute ihm. Schließlich wusste ich selbst, wie ich mich zu verhalten hatte. Und wenn sie mir einen Vorwurf machen würde, bitte schön, sollte sie es doch
tun.
„Kommen Sie mit guten Neuigkeiten?“
„Diese Sache scheint wirklich sehr mysteriös zu sein, Jennings. Das, was ich Ihnen jetzt erzähle, bleibt unter uns. Niemand darf davon erfahren, ist das klar? Jeder, der in diesem Haus war, unterliegt einer Schweigepflicht.“
McDavon spannte mich auf die Folter. Ich mochte es nicht.
„Jetzt erzählen Sie schon!“ forderte ich ihn auf.
„Also gut. Als Sie das Haus betreten haben, was genau ist da passiert?“
„Was? Aber das wissen...“ Doch ehe ich weiter reden konnte, unterbrach er mich.
„Nein!! Jennings. Ich will es aus Ihrem
Mund hören. Na los.“
„Na schön. Die Tür stand offen und ich bin rein gegangen, hab überall das Blut gesehen und meine Waffe gezogen. Dann bin ich in der Küche angekommen. Lina saß auf einem Stuhl...“.
Ich musste kurz aufhören, denn diese Erinnerungen waren schrecklich.
„Okay!“ McDavon bemerkte, dass es unzumutbar für mich war.
„Haben Sie genau gesehen, dass es Lina war?“
„Natürlich war sie es.“
„Ich möchte, dass Sie genau darüber nachdenken, Jennings. Konnten Sie ihr Gesicht erkennen?“
Jetzt irritierte er mich völlig. Aber diese
Frage konnte ich ehrlich gesagt nicht beantworten. Gut, es konnte möglich gewesen sein, dass ihr die Haare ins Gesicht hingen. Aber ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass es Lina war.
„Ich weiß es nicht!“ gab ich leise zu und senkte den Kopf.
„Ich sag Ihnen jetzt mal was. Und ich hoffe, Sie flippen nicht total aus. Die Frau, die wir in Lina Ryans Haus gefunden haben war defintiv nicht Lina.“
Ich sprang vom Stuhl. Ich hätte weinen können vor lauter Glück.
„Ja aber das bedeutet, dass sie noch am Leben ist!“ sagte ich überschwänglich.
„Freuen Sie sich nicht zu früh. Setzen
Sie sich.“
„Nein, kapieren Sie denn nicht? Wir müssen eine Fahndung heraus geben!“
McDavon seufzte.
„Sie haben mir gerade bewiesen, dass es nicht falsch war, ihre Dienstmarke zu kassieren. Und nun setzen Sie sich verdammt nochmal. Sie rauben mir den letzten Nerv.“
„Tut mir leid, aber diese Nachricht ist einfach unglaublich!“ Ich beruhigte mich ein wenig.
„Ich verstehe Ihre Freude und dennoch müssen wir vorsichtig sein. Wir wissen nicht, ob Lina vielleicht doch entführt wurde. Außerdem stehen Sie immer noch unter
Mordverdacht.“
Ob Dexter mir nur eins auswischen wollte? Ob er sehen wollte, wie zerbrechlich ich war? Ob mir überhaupt jemand zur Seite stand, wenn ich so einen Schicksalsschlag erleiden würde. Es gab nur eine Möglichkeit, um das heraus zu finden.
Ich musste reinen Tisch machen. Mir blieb nichts anderes übrig. McDavon musste nicht alles wissen, aber vielleicht doch das Wichtigste.