Zauber der Neugier
Treffer.
Die alte Dame sah sich verwirrt um. Etwas Hartes hatte sie am Kopf getroffen. Da sie aber nichts Auffälliges entdecken konnte, tat sie es als erstes Anzeichen der Senilität ab und machte sich keine weiteren Gedanken.
Damit fand allerdings die Langeweile erneut Einkehr bei ihrem scheinbar dauerhaften Besitzer. Lou war schrecklich angeödet. Fast schon mechanisch griff er in die dunkle Wolke, auf der er saß, und förderte eine Hand voll Hagelkörner zu Tage. Eines nach dem anderen warf er ziellos auf die Welt, die sich unter seinen in der Luft baumelnden Beinen
erstreckte.
Daneben.
Ganz knapp nur hatte er den Schutzengel eines kleinen Mädchens verfehlt. Der schaute kurz in Lous Richtung und rief ihm von dort unten etwas zu, das nicht gerade als freundlich bezeichnet werden konnte. Wörter, die Engel normalerweise nicht kennen sollten, aber schon längst ihren Weg in die Alltagssprache gefunden hatten. Lou verstand, trotz der Entfernung zwischen Himmel und Erde, jede nicht unbedingt jugendfreie Silbe – schließlich durfte er sich selbst auch einen Schutzengel nennen. Statt sich aber zu entschuldigen, deutete er ein Lächeln an. Der andere entgegnete nur ein
Kopfschütteln – ein verständnisloses, sicherlich gereiztes. Trotzdem schien er ehrlich desinteressiert an einem Streit mit Lou zu sein. Ganz im Gegenteil sogar, denn er war schon wieder vollauf damit beschäftigt, seinen kleinen Schützling aufmerksam beim Sandkastenspielen zu beobachten, als ob es Spannenderes nichts gäbe.
Und damit war Lou wieder vergessen.
Ein wenig enttäuscht, dass der andere sich schon wieder dem Kind zugewandt hatte, ging er wieder dem Hagelkörnerwerfen nach. Immer lockerer glitten seine Geschosse ihm aus der Hand, immer mehr fanden ihr beabsichtigtes Ziel. So etwas wie Freude kam
bei Lou dennoch nicht wirklich auf.
Er wusste nicht wieso, aber diese fragwürdige Hingabe des anderen Schutzengels irritierte ihn aus irgendeinem Grund. Das Einzige, was er dabei als Ursache ausschließen konnte, war Hass. Man hatte ihn nämlich einmal lang und breit darüber aufgeklärt, dass Engel dazu physisch nicht fähig wären und eher wohl im- oder explodieren würden – manche waren sich noch uneins über die genaue Art. Und Lou fühlte sich nun wirklich nicht geplatzt, so wie er das beurteilen konnte.
Mittlerweile hatte er den Dreh fast raus. Seitdem er mehr aus der Schulter heraus warf, hatte er mit Genugtuung beobachten können, wie seine Hagelkörnchen mit mehr
Wucht aufschlugen.
Treffer. Wenn auch nur ein Blumentopf zu Bruch ging. Kaputt war kaputt.
Lou knetete die Munition in seiner tiefgefrorenen Hand und hielt derweil Ausschau nach einem reizvolleren Ziel. Lustlos visierte er letztendlich ein winziges Gewächshaus an – oder wirkte es nur von seiner Wolke aus winzig? So oder so, es war wirklich nicht der Rede wert.
Im Nachhinein betrachtet, wäre es ihm sowieso lieber gewesen, wenn das murmelgroße Geschoss seinem geschätzten Kollegen den Schädel eingeschlagen hätte. Vielleicht hätte dann endlich etwas Spannung den Weg in diese reizlose Wolkenlandschaft
gefunden. Die Langeweile war Lou hier oben auf seiner kleinen Schlechtwetterwolke schon längst in Mark und Bein übergegangen. Jeden Tag spielte sich derselbe Mist ab und das Schlimme daran war: Nicht einmal an dem hatte Lou einen Anteil. Er fristete einfach sein Dasein als Schutzengel einer Frau, die selten bis nie krank wurde, irgendeine Kampfsportart in Perfektion beherrschte und zu allem Überfluss das Gute in Person war.
Im Prinzip alles wünschenswerte Dinge. Nur nicht für einen Schutzengel. Lou fühlte sich gelinde gesagt nutzlos, denn aus seiner Sicht war damit seine Anwesenheit eine reine Formalität aus dem Vertrag Gottes mit den Menschen, der besagte, dass jedem Menschen ein Engel(/Anstandsdame)
zustünde, um ihn vor den genauso präsenten Dämonen und auch diversem anderen Bösen zu bewahren.
Was aber, wenn der zu Schützende kein Wässerchen trüben konnte? Was, wenn derjenige keinerlei Dämonen besaß?
Tja, dann hatte man als ein Verfechter des Guten jede Menge Freizeit. Und noch mehr Eintönigkeit.
Eine wirklich dämliche Vertragslücke.
Wieder daneben.
Lou wollte niederträchtig sein. Er wollte schadenfroh sein. Nicht scheinheilig. Und nicht der, der Menschen mit harmlosen Hagelkörnchen bewarf, sondern der, der ihnen mehr als nur die Knochen brach. Es
machte auf ihn einfach einen so viel aufregenderen Eindruck, als alles, was er sich ausmalte, hier in diesem behüteten Refugium je erleben zu können.
Allein derartige Gedanken reichten aus, um ihn hibbelig werden zu lassen. Er spürte jedes Mal ein unbestimmtes Kribbeln, das, angefangen in seinen Fingerspitzen, bis in seine über weite Strecken ungebrauchten Flügel wanderte. Es hatte bestimmt zwei Schützlingsleben lang gedauert, bis Lou herausfand, dass man diese Art Gefühl in der Regel als Neugier bezeichnete.
Anfangs hatte ihn diese Erkenntnis verunsichert, da man als Schutzengel ja nur seinen genetischen Beschützerinstinkt und die anderen aus Notwendigkeit damit
verbundenen Emotionen, wie Nächstenliebe und so weiter, mit auf den Weg bekam. Für einen flüchtigen Moment hatte er sogar befürchtet, im- oder explodieren zu müssen. Als aber nichts dergleichen geschah, niemand die Veränderung in ihm bemerkte und das Kribbeln schon gleich gar nicht wieder verebbte, sondern mit der Zeit sogar noch stärker wurde, begann er zu genießen.
Ab sofort war er anders. Und dieses Anderssein fand Lou absolut ausbaufähig. Vielleicht würde er irgendwann sogar Spaß haben können.
Daneben. Daneben, daneben, daneben.
Lou versuchte nicht einmal mehr zu zielen. Inzwischen schleuderte er die Körner nur
noch mit zunehmender Intensität auf das riesige grau-grüne Nichts unter sich, so lange, bis er an und für sich das Gefühl hatte, seine Schulter ausgekugelt zu haben.
Wie nach getaner Arbeit, streckte er sich lang und ausgiebig, Flügel inklusive. An denen strich er dann gedankenlos hier und da einige abstehende Federn in Form und fragte sich dabei nicht zum ersten Mal, ob sie ihm wohl irgendwann etwas bedeutet hatten. Oder tatsächlich genutzt. Denn was fing man schon groß mit diesen imposanten Flügeln – mit Freiheit – an, wenn es nichts zu entdecken gab?
Freudig bemerkte Lou, wie es in seinem kleinen Finger wieder zu kitzeln begann. Wie
sich langsam jedes noch so feine Härchen an seinen Armen, seinem Nacken sträubte. Er schauderte, als ihm das Kribbeln an der Wirbelsäule entlang nun zusätzlich auch den Hals hinauf bis zu seinem Haaransatz kletterte. Kaum hörbar raschelten Lous Flügel – durch sein Zittern.
Und schlagartig war ihm klar, was er brauchte, nach was es ihn
verlangte.
Und wie für alles andere auch, hatte er für die Lösung seines Problem eigentlich zu lange gebraucht. Man hatte wohl vergessen, Engeln einen Blick für das Offensichtliche einzupflanzen – was in so vielerlei Hinsichten beunruhigend gewesen wäre, hätte das Lou gerade nicht so kalt
gelassen.
Plötzlich ganz sicher in dem, was zu tun war, nickte er sich selbst wie zur Bestätigung zu, stieß sich dann kurzerhand von seiner Wolke, aus der es inzwischen wirklich hagelte, ab und ließ sich einfach fallen. Die Arme von sich gestreckt, fiel er lächelnd seinem Verderben entgegen. Und es störte ihn nicht.
Nein, stattdessen nistete sich das erste Mal seit Jahrhunderten Vorfreude in Lous wild pochendem Herzen ein, die jeden gesunden Zweifel darin betäubte.
Seine Flügel verloren mehr und mehr an Glanz, bis sie schließlich pechschwarz waren.
Dämonen, ich komme, dachte er dabei reuelos.