Die Spieluhr
Die Nacht vor dem Heiligen Abend war still und frostklar. Ein selten eisiger Wind strich zudem durch die schmalen Gassen der bereits weihnachtlich geschmückten Nürnberger Altstadt und ließ die Lichterketten schaukeln.
Konstanze Henlein, die junge Uhrmacher-Meisterin saß noch spät in ihrer Werkstatt und tauschte an einer alten kostbaren Spieluhr, die ihr der alte Sepp zur Reparatur gebracht hatte, zwei verschlissene Messingzahnräder aus.
Morgen, am Heiligen Abend würde Sepp sie wieder abholen kommen und die alte Spieluhr würde mit ihrem Spiel wie jedes Jahr, wieder das Weihnachtsfest in seiner Familie einleiten.
Diese wunderschöne Spieluhr aus dem frühen
19. Jahrhundert war ein uraltes Erbstück seiner Familie und kannte nur eine einzige Melodie. Mit den erneuerten Zahnrädern und ein paar Tropfen hochwertigem Feinmechaniker-Öl an der richtigen Stelle, würde die alte Spieluhr nun wieder wie neu erklingen. In dem festlich geschmückten Zimmer würde sie wieder mit ihren klaren und hellen Tönen das allseits bekannte Weihnachtslied, „Stille Nacht, Heilige Nacht…“ spielen und damit auch wieder alle Herzen verzaubern können.
Konstanze lächelte, als sie das letzte erneuerte Zahnrad mit fachkundiger Hand in das Getriebe der edlen Spieluhr einrastete. Sie mochte den alten Sepp, der ihr in einer schwierigen Zeit, als ihr eigenes Leben keinen
müden Pfifferling mehr Wert war, sehr geholfen hatte. Professor Dr. Josef Kirchner, ein überaus begnadeter Nürnberger Chirurg, hatte ihr nämlich vor zehn Jahren mit einer äußerst dramatischen und sehr komplizierten Notoperation das Leben gerettet. Unmittelbar darauf ist der Professor jedoch ohne jegliche Erklärung emeritiert und auf eigenen Wunsch in den Ruhestand getreten. Inzwischen ist er jedoch nur noch ein freundlicher älterer Herr, der sich liebevoll um seine Enkel kümmert und diese alte Spieluhr zur Reparatur in Konstanze Heinleins Uhrmacher-Werkstatt gegeben hat.
Als Professor Kirchner Konstanze damals notoperiert hatte, lebte ihr Vater noch, während ihre Mutter gleich nach Konstanzes Geburt gestorben war. Nun also war
Konstanze, die zartgliedrige, rothaarige junge Frau, die letzte Vertreterin aus der langen Reihe einer uralten Familiendynastie von talentierten Uhrmachern in Nürnberg.
Nachdem sie das Werk der reparierten Spieluhr mittels eines Spezialöls aus einem winzigen Ölkännchen geölt hatte, zog sie behutsam die stählerne Spiralfeder auf. Danach öffnete sie den hölzernen Deckel der antiken Spieluhr und sofort wurde die Melodie des wohl beliebtesten und bekanntesten aller Weihnachtlieder in äußerst klangvollen Akkorden wiedergegeben.
Ein Lächeln huschte über ihr hübsches Gesicht. Der alte Sepp würde sich gewiss freuen, wenn seine historisch wertvolle Spieluhr rechtzeitig zum Fest fertig würde.
Bestimmt würde er auch Konstanze ebenfalls wieder dazu einladen, so wie er es nach dem Tode ihres Vaters an Weihnachten bislang immer getan hatte.
Ein knarrendes Geräusch wie von einer betretenen Diele draußen im Flur ließ sie aufhorchen. War da etwa jemand um diese Zeit in ihrer Werkstatt? Sie stand von ihrer Werkbank auf und trat hinaus in den Flur.
»Hallo, ist dort wer?«, rief sie leise in den dunklen Flur hinein.
Als ihre schlanken Finger dort nach dem Lichtschalter tasteten, wurde sie plötzlich von hinten von einer behandschuhten Hand gepackt, die ihr brutal dem Mund zuhielt.
Das letzte, was sie spürte war ein entsetzlicher Schmerz in der Nierengegend,
als ihr das blanke Stilett bis an das Heft in ihren wehrlosen Körper gestoßen wurde.
Mit angstgeweiteten Augen sank sie lautlos zu Boden…
*
Ein paar Schneeflocken waren in der Nacht auf Weihnachten gefallen und ein dünner weißer Flaum bedeckte nur spärlich die kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt.
Die schwarze Mercedes-Limousine der Nürnberger Mordkommission parkte in der schmalen Gasse direkt vor der Uhrmacher-Werkstatt, auf deren Firmenschild immer noch in großen Lettern der Name,
PETER HENLEIN - UHRMACHERMEISTER geschrieben stand.
Kriminalhauptkommissar Büttner, der Chef der Nürnberger Mordkommission, hatte am Tag des Heiligen Abend Dienst. Er betrat mit offenen Mantel und lose umgehängten Schal die alte Uhrmacher-Werkstatt, die zuvor schon von den Spezialisten der Spurensicherung mit Beschlag belegt worden war. Der Pathologe reichte Büttner kommentarlos die Hand.
»Was haben wir, Jonas?«, fragte Büttner den charismatischen Rechtsmediziner.
»Junge Frau, von hinten mit einem schmalen langen Messer, oder Dolch erstochen. Der Stich ging direkt in die rechte Niere und war absolut tödlich. Das Opfer heißt Konstanze Henlein, 28, Uhrmacher-Meisterin, ihr gehörte diese Werkstatt hier. Zum Todeszeitpunkt kann ich dir nur sagen, dass ihr Tod sehr
wahrscheinlich so gegen zwei Uhr eingetreten sein musste. Keinerlei Abwehrverletzungen. Ich denke, dass sie hier in der Diele von ihrem Mörder überrascht wurde. Alles andere dann wie immer später. Ich rufe dich an, wenn ich mit der Autopsie beginne, einen Staatsanwalt werde ich doch heute am Heiligen Abend bestimmt nicht mehr erwischen, oder?«
»Ruf mich nur an, Jonas, ich bin jetzt sowieso schon unterwegs. Außerdem ist dies ab sofort ohnehin mein Fall. Weißt du, wer sie aufgefunden hat?«
»Ein Kollege, oder besser ein Ex-Kollege, Professor Dr. Josef Kirchner, 79, er war selbst einmal Chirurg, ein Künstler auf seinem Gebiet, ist aber schon lange in Pension. Er sitzt übrigens in der Küche und wartet auf
dich, Henry.«
Büttner nickte verstehend,
»Ich werde gleich mit ihm sprechen. Ich danke dir, Jonas, gute Arbeit, wie immer.«
Der Rechtsmediziner verabschiedete sich,
»Ich bin hier fertig, du kannst sie später dann die Pathologie bringen lassen und ich melde mich…«
Büttner hob die Hand und wandte sich an den Einsatzleiter der Spurensicherung,
»Habt ihr schon was, Hannes?«
Der Spurensicherer, ein schlanker, sportlich durchtrainierter Endfünfziger, mit grauen Haaren und einem Drei-Tage-Bart drehte sich herum,
»Guten Morgen, Henry, ich wusste, dass du mich das und auch genau mit diesen Worten
fragen würdest«, griente er und gab dem Leiter der Mordkommission die Hand. »Und ja, es gibt tatsächlich etwas. Der oder die Täter brauchten nur an der Wohnungstür zu klinken, denn sie war in dieser Nacht unverschlossen, obwohl der Schlüssel von innen steckte. So konnten sie unbemerkt direkt über das Treppenhaus in den Flur zur Werkstatt gelangen und auf selbigem Wege auch wieder völlig unbemerkt verschwinden. Mit Sicherheit wurde die Tatwaffe wieder mitgenommen, denn sie ist hier nirgends aufzufinden. Es spricht also aus dieser Sicht heraus durchaus alles für einen simplen Raubmord. Laut Aussage von Dr. Kirchner fehlt hier aus der Werkstatt zum Beispiel eine nicht gerade unbedeutende Sammlung alter und sogar
recht wertvoller Uhren. Darunter auch eine ziemlich seltene und kostbare Spieluhr aus dem frühen 19. Jahrhundert, die er bei dem späteren Mordopfer selber in die Reparatur gegeben hatte. Er war heute am Morgen hergekommen, um sie wieder abzuholen, denn die Uhrmacherein wollte sie ihm eigentlich bis an Heiligabend repariert haben. Weiterhin wurde der kleine Wandsafe im Nebenzimmer aufgebrochen und der komplette Inhalt daraus entwendet. Jede Menge Fingerabdrücke in der Werkstatt, aber die müssen alle erst noch ausgewertet werden. Das wars erst einmal, wir sind allerdings noch nicht ganz fertig und sobald sich etwas Neues ergibt, rufe ich dich an.«
Der Kommissar bedankte sich und schaute
sich die Leiche der getöteten Uhrmacherein an. Das war ein gezielter tödlicher Stich, der zudem einen lautlosen Tod garantiert, denn das Opfer konnte nicht mal mehr einen Mucks von sich geben. Wo also erlernt man etwa lautloses Töten? In einer militärischen Spezialeinheit womöglich? Aber ein Einbrecher, ein Dieb, der gleich kurzen Prozess mit seinem Opfer macht? Viele Fragen und keine Antworten. Noch nicht, dachte er, aber du entkommst mir nicht, ich werde dir nämlich keine Chance lassen, du Mistkerl…
Dann gab er den Auftrag, die Leiche der Uhrmacherin in die Pathologie zu überstellen.
*
Der Professor bestätigte im Wesentlichen alles, was Büttner bereits schon wusste. Erst als ihn der Professor nach dem goldenen Anhänger von Konstanze Henlein befragte, wurde er wieder hellhörig,
»Von einem goldenen Anhänger ist mir allerdings nichts bekannt. Was hat es damit auf sich, Herr Professor?«
Der Alte druckste zunächst ein wenig herum,
»Konstanze trug um den Hals immer eine goldene Kette mit einem Anhänger daran. Einen Anhänger in Form eines kleinen stilisierten Schmetterlings aus massivem Gold, deswegen wurde sie auch getötet, Herr Kommissar«, ereiferte er sich nun regelrecht. »Dieser Anhänger war sehr wertvoll für Konstanze und sie hätte sich niemals freiwillig
von ihm getrennt. Ich glaube, ich habe hier ein Foto von letzte Weihnachten bei mir.«
Er kramte in seiner Brieftasche und zog ein Foto daraus hervor, welches er an den Kriminalisten weiterreichte. Es zeigte Konstanze Henlein und den Professor, während im Hintergrund der Christbaum leuchtete. Die junge Frau hatte ihren Arm um den Mann gelegt und lächelte in die Kamera. Um den Hals trug sie die erwähnte Kette mit diesem goldenen Anhänger, der tatsächlich sehr deutlich als ein stilisierter Schmetterling zu erkennen war.
»Kann ich mir das Foto einmal ausleihen?«, fragte Büttner. »Sie bekommen es auch gleich wieder zurück, wenn wir es nicht mehr benötigen.«
Der Professor nickte betrübt. Dann erzählte er dem Polizisten auch, dass er die junge Uhrmacherin jedes Jahr an Weihnachten zu sich eingeladen habe. Einen Täter, der es lediglich auf das Leben der Uhrmacherin abgesehen hatte, konnte sich der Professor aber nicht vorstellen, da die bildhübsche Frau bei Jedermann sehr beliebt war.
Büttner bat den alten Mann, sich für weitere eventuelle Nachfragen zur Verfügung zu halten. Der Kriminalbeamte griff in seine Manteltasche und reichte dem Alten seine Visitenkarte.
»Sollte Ihnen allerdings doch noch etwas einfallen, so können Sie mich jederzeit unter dieser Nummer hier anrufen. Sie können dann gehen, Herr Professor...«
Der Alte nickte, wirkte aber irgendwie verstört. Ein wirklich frohes Weihnachtsfest wird es für ihn dieses Jahr wohl nicht geben, dachte der Polizist, als er den Alten gramgebeugt gehen sah.
*
Hauptkommissar Büttner hatte gerade die ersten Bilder und Fakten an die neu eingerichtete Fallwand geheftet, als das Telefon klingelte. Am Apparat war Jonas Hoffmann, der Pathologe. Seine Stimme klang aufgeregt,
»Heinrich, du musst sofort herkommen, das musst du dir selber ansehen, das ist einfach unglaublich, nein es ist eigentlich unfassbar, anders kann ich es nicht formulieren…«
Dann wurde das Telefongespräch abrupt
beendet. Dass der Rechtsmediziner ihn bei seinem vollen Namen genannt hatte, das war schon mehr als ungewöhnlich. So etwas hatte Jonas nämlich noch nie getan. Es musste also ziemlich wichtig sein…
*
Zwei Stunden später saß Professor Kirchner erneut vor dem erfahrenen Kriminalisten im Vernehmerzimmer. Büttner hatte ihn mit einem Funkstreifenwagen zur Vernehmung holen lassen. Jetzt richtete er das Mikrophon aus und befragte den fahrig und nervös wirkenden Pensionär.
»Herr Professor Kirchner, wie gut kannten Sie die Uhrmacherein Konstanze Henlein wirklich?«
Der Alte nickte resignierend,
»Ich wusste, dass es mich irgendwann einmal einholen würde«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich kannte Konstanze seit ihrem achten Lebensjahr. Ihr Vater brachte sie zu mir in die Klinik, weil das Kind schwer krank war. Sie hatte einen angeborenen Herzfehler, unter dem auch schon ihre Mutter litt und deshalb auch bei der Geburt des Kindes verstarb. Da das Mädchen aber zudem über eine extrem seltene Blutgruppe verfügte, würde sie wohl niemals ein passendes Spenderherz bekommen können. So entschloss ich mich mit ihrer Zustimmung nach ihrem 18. Lebensjahr zu einer tatsächlich äußerst riskanten Operation, ohne die sie jedoch nach ihrem Herzversagen definitiv gestorben wäre.« Büttner griff in einen Karton und legte einen
faustgroßen, silbergrauen Metallklumpen auf den Tisch,
»Erkennen Sie das hier, Herr Professor?«
Der Alte zuckte zurück und seine Hände bedeckten seine Augen. Tränen rannen ihn über sein müdes Gesicht.
»Ich dachte, ich sehe es nie wieder in meinem Leben.«, schluchzte er unter Tränen. Als er sich dann nach einer Weile ein wenig beruhigt hatte, fuhr er etwas gefasster fort. »Es ist das Herz von Konstanze Henlein. Ihr eigener Vater hatte es erfunden und in vielen Jahren unter meiner ganz persönlichen medizinischen Anleitung erschaffen. Und ich habe es ihr implantiert, als es nach dem Kollabieren ihres eigenen Herzens unvermeidlich wurde. Es ist in der Tat ein mechanisches und
medizin-technisches Wunderwerk und es besteht aus einer superfesten Titanlegierung. Dieses Präzisions-Uhrwerk hatte Henlein speziell nur für seine Tochter entworfen und von mir stammte lediglich die Idee einer integrierten Blutpumpe, die ich eigens zu diesem Zweck sogar selbst konstruiert habe. Das Federwerk musste zwar einmal am Tag aufgezogen werden, aber es hatte aus Sicherheitsgründen eine Gangreserve von etwa vierzig Stunden. Ich weiß, dass es natürlich illegal war, denn niemand hätte mir jemals eine Genehmigung erteilt, ein solches Herz überhaupt in einen Menschen zu implantieren. Aber es gab sonst leider keine andere Möglichkeit, Konstanzes Leben zu retten. Hätte ich sie deswegen sterben lassen
sollen? Diese Operation war auch der Grund, warum ich mich anschließend ins Privatleben zurückgezogen habe. Nun wissen Sie praktisch alles, Herr Kommissar.«
Büttner nickte ergriffen,
»Verstehe, Herr Professor. Und der goldene Schmetterling?...«
»…war sozusagen der Schlüssel zu ihrem Herzen. Mit ihm zog sie sich am Morgen eines jeden neuen Tages das Federwerk ihres schlagenden Herzens auf. Finden Sie also den passenden goldenen Schlüssel und Sie haben Ihren Mörder, Herr Kommissar…«
***
Fortsetzung folgt...
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Cover: selfARTwork
Text: Bleistift
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