»Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens.
Kapitel 1: Marleys Geist.
Marley war tot: Das muss ich vorausschicken. Darüber gab es keinen Zweifel. Die Sterbeurkunde war vom Pfarrer, dem Standesbeamten, vom Leichenbestatter und dem Hauptleidtragenden unterzeichnet worden: von Scrooge, und Scrooges Name galt etwas in der Finanzwelt und an der Börse und bei allem, das er in die Hand zu nehmen beliebte. Der alte Marley war tot, mausetot, tot wie ein … Türnagel. Wohlgemerkt: Ich …« Ralf stockt jetzt schon das zweite Mal. Daran hatte er nicht gedacht, dass dieses Wort sooft am Anfang der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens vorkam und das es solch eine Wirkung auf ihn hat. »… Ich will damit nicht behaupten, ich wüsste,
warum ein Türnagel so besonders tot sein …« Da schon wieder das Wort. Seine Frau war tot, vor über einem halben Jahr gestorben. Heute liest er zum ersten Mal alleine die Geschichte von Dickens vor, doch er sieht nur noch das Wort tot in dem Text. Seit über zehn Jahren kamen sie in das Altersheim am Weihnachtsabend. Seine Frau half den Bewohnern, schenkte Kaffee ein oder unterstützte sie beim Kuchenessen und er las die Geschichte vor. Es waren immer sehr schöne und beschauliche Weihnachten gewesen, sie selbst hatten keine Kinder bekommen können, deshalb hielten sie es für eine gute Idee. Es war sozusagen ihre liebe Pflicht geworden in dieses Heim zu gehen, und dort mit den Bewohnern Weihnachten zu feiern. Doch heute war alles anders. Noch als er das Buch aufschlug, hatte er es nicht wahrgenommen, da fühlte er sich stark genug, um seine liebe Pflicht zu erfüllen. Stark genug
um …., er muss weiterlesen. »... sollte, denn ich persönlich würde dazu neigen, einen Sargnagel das toteste Stück …« Wieder stockt er, wieder das Wort, wieder muss er an seine Frau denken. Tränen schießen ihm in die Augen, sein Text beginnt zu verschwimmen. Plötzlich wird ihm das Buch aus der Hand genommen. Ralf schaut auf und sieht einen Jungen, wie der sich neben ihn setzt und zu lesen beginnt. »... einen … Sargnagel das toteste Stück In..ven..tar beim Eisen…krä…mer zu halten.« Der Junge liest nicht besonders gut, aber das hört Ralf nicht. Er schaut den Jungen an, wie er das Buch in seinen Händen hält und liest. Doch er hört nicht die immer wieder stockende Stimme des Jungen, der offenbar Schwierigkeiten beim Lesen hat, er hört den Jungen seine Geschichte lesen, so wie er selbst. Ruhig, entspannt, auf die richtige
Betonung der Worte achtend. Ralf blickt in die Runde. Er sieht in die Gesichter der Menschen, die ihm immer zugehört hatten, zum ersten Mal ist das so. Der Gesichtsausdruck, den sie haben, kommt ihm bekannt vor. Er ist ruhig, entspannt, friedlich, aber alle diese Begriffe drücken es nicht richtig aus, aber dann weiß er es plötzlich, ihre Blicke sind fürsorglich, liebevoll und jetzt weiß er, wo er diesen Ausdruck schon einmal gesehen hatte: bei seiner Frau! Wenn sie den alten Menschen half, beim Kaffee einschenken, wenn sie beim Zerteilen ihres Kuchens mit der Gabel Schwierigkeiten hatten oder einfach etwas erzählen wollten und seine Frau ihnen geduldig zuhörte. Dabei hatte sie immer diesen Ausdruck im Gesicht gehabt. Ralf schließt die Augen und sieht seine Frau, wie sie Kaffee nachschenkt und den Bewohnern zulächelt. Er hört den Jungen, wie er für ihn liest. Ralf denkt daran, dass heute Weihnachten
ist, er denkt, dass heute, vor über 2000 Jahren Jesus geboren wurde, vielleicht gerade in diesem Moment des Tages das Licht der Welt erblickte. Er spürt eine Hand auf seiner Schulter. Ralf öffnet die Augen. Der Junge sitzt neben ihm und liest die Weihnachtsgeschichte, alle anderen sind auf ihrem Platz, niemand steht neben ihm. Ralf wundert sich nicht. Er steht auf und setzt sich auf den freien Stuhl, auf dem vorher der Junge gesessen hatte. Er hört ihm zu, jemand schenkt ihm einen Kaffee ein. Er trinkt einen Schluck, die Frau neben ihm schiebt ihm einen Teller hin, mit einem Stück Kuchen darauf. Ralf lehnt sich zurück und weiß, dass er nicht mehr alleine ist.