Als ihrer Miene das allseits vertraute, heuchleurische Verkäufergrinsen abfiel, wusste er, dass irgendetwas nicht so ganz stimmt. "Tut mir Leid, ich darf Ihnen das so nicht verkaufen. Einige Artikel müssen sie zurücklegen." Nach einer kurzen Pause fügte sie noch hinzu: "Aber das System hat Ihnen bereits Vorschläge für Alternativartikel vorbereitet, schauen Sie auf Ihr Gerät." Er blickte auf die Waren, die vor wenigen Augenblicken das band passierten und nun ausgebreitet vor ihm auf dem Einpacktisch lagen. Klopapier, diverse Lebensmittel, ein paar
Getränkeflaschen. Allesamt lächerlich harmlos. Welche davon sollte er denn nicht kaufen dürfen? Und warum? Die Verkäuferin schien zu bemerken, dass sein Blick kurz ihre Hände streifte, denn sie umklammerte die weiße Plastikkarte, die sie zuvor lässig zwischen zwei Finger geklemmt hielt, nun mit der ganzen Faust. "Die Süßigkeiten und die zuckerhaltigen Getränke müssen zurück, sagt das System." "Aber warum?", fragte er mit ehrlicher Verwunderung. "Hier steht, dass bei zweien Ihrer Kinder bei der letzten ärztlichen Untersuchung jeweils eine leichte Adipositas festgestellt wurde." Mit dem Finger fuhr sie die Zeilen auf dem
Bildschirm ab, während sie ihm die kurze Warnmeldung vorlas, die das System für diesen Einkauf herausgegeben hat. "Das ist doch lächerlich, die Sachen sind für mich, nicht für meine Kinder.", gab er sichtbar verärgert zu Protokoll. Die Dame hinter der Kasse zuckte kurz zusammen ob dieses Ausbruchs. Er war nicht der erste Kunde, dem heute ein Einkauf verweigert wurde. Ein paar mal pro tag kommt so etwas schonmal vor. Wer ist dieser Mann? Weiß er denn nicht, wie das hier funktioniert? Was bildet er sich ein? Sie blickte nochmal kurz auf dem Bildschirm des Kassensystems, von wo ihr die Antworten zu den ersten beiden
dieser Fragen in gestochen scharfer Auflösung durch die Augen ins Hirn sprangen. Konrad Kerckhoff. Der Name sagte ihr natürlich nichts, aber er war offensichtlich nicht zum ersten mal hier, denn das System zählte ihn zu den regelmäßigen Kunden dieses Supermarktes. Auch der Inhalt seines Warenkorbes war nicht ungewöhnlich und entsprach zu 87,4% dem, was das System aufgrund seiner bisherigen Einkäufe und seines Lebensstils vorrausgesagt hatte. Aber was er sich denn einbilde; darauf fand sie keine Antwort. Normalerweise nehmen die Leute es viel gelassener. "Tut mir Leid, ich darf Ihnen das nicht verkaufen, ich
verstoße sonst gegen das Gesetz.", sagte sie halbautomatisch, während Teile ihres Verstandes noch damit beschäftigt waren sich einen Reim auf diesen merkwürdig aufgebrachten Mann zu machen. Wortlos nahm er seine Karte von der Verkäuferin zurück und begann damit, die kurz zuvor mühsam aufs Band gelegten Waren wieder in den Korb zu packen. Als er sich an der, hinter ihm schon recht lang gewordenen, Schlange von Menschen vorbei zurück in den Verkaufsbereich schob, glaubte er in einigen Gesichtern einen Anflug von Häme zu sehen. Aber vielleicht war es auch nur seine Wut, die ihn etwas überinterpretieren ließ. Die meisten
Gesichter strahlten aber nur die übliche gelassene Apathie aus. Die meisten Leute aus der Schlange bekamen von dem ganzen Schauspiel an der Kasse jedoch wenig mit. Konrad dachte kurz darüber nach, wie viele der Kunden wohl gerade Musik oder irgendein Radioprogramm durch ihre Ohrstöpsel hörten, unterbrochen von personalisierten Supermarktwerbebotschaften. Vermutlich alle. Direkt aus dem System über das Gerät ins Ohr. Trotz seiner Wut legte er alle die ihm vom System vorenthaltenen Dinge wieder in die korrekten Fächer der Regale ein. Er war zwar wütend, "aber
wer will schon Stress wegen eines dämlichen Einkaufes bekommen?", dachte er sich. Der Werbeschirm neben ihm zeigte den Spot eines zuckerfreien Getränks. Ohne nachzudenken griff er zu und legte den Artikel in seinen Einkaufskorb. Sein Blick schwenkte hinüber zum Kühlregal am Ende des Gangs. Blitzschnell schaltet der Bildschirm die Werbung eines namenhaften Tiefkühlrohkostherstellers. Was nun? Kaugummi vielleicht? Oder noch etwas Obst? Nicht ganz unverhofft reißt ihn ein Vibrieren in seiner Hosentasche aus dem planlosen Gedankenstrudel. Die ihm sehr vertraute freundliche Männerstimme seines
Gerätes flüstert ihm ins Ohr: "Ihr zugeteiltes Vekehrszeitfenster schließt in 45 Minuten. Die berechnete Fahrtdauer zu Ihrem Wohnsitz beträgt 35 Minuten. Die geschätzte Wartezeit an der Kasse beträgt neun Minuten." Fast schon wie ein besorgter Freund, schießt es ihm durch den Kopf. "Bitte schnallen Sie sich an und achten Sie darauf, während der gesamten Fahrtdauer das Lenkrad nicht zu berühren. Die berechnete Fahrtdauer beträgt 35 Minuten", tönt es durch seine Ohrstöpsel, während das System sein Auto mit spielerischer Leichtigkeit langsam aus der engen Parkbucht in den monströs verdichteten Verkehr bugsiert.
Warum hat das Fahrzeug überhaupt noch ein Lenkrad? Und wie sieht das System wohl dieses Meer aus Autos, dieses Adernetz von Straßen? Sieht es eine Ordnung, wo ich nur Chaos entdecke? Sieht es überhaupt? In den letzten paar Tagen kamen ihm immer häufiger solch merkwürdige Fragen. Es bereitete ihm Unbehagen und er schaltete den Fernseher ein. Das Durcheinander aus Limousinen, Geländewagen, LKWs, Bussen, Verkehrskameras, den Polizeiautos und der untergehenden Sonne verschwand hinter dem Bild des Moderators und seiner Gäste, die nun seine Windschutzscheibe bevölkerten.