Tief im Urwald der Welt schlummerte die tote Halbgöttin. Sie war das Verbrechen des Kriegers, der die Götter herausforderte, und der Mutter der Natur. Versteckt in einer geschlossenen Lotusblüte, verdeckt von dem dichten Blätterdach der Bäume, die die fernen Berge des Weltrands überragten, wurde der regungslose Körper des Säuglings vor den Blicken der anderen Götter geschützt. Die Frühgeburt wurde nur durch die magische Wärme und den Schutz des Lotus im Leben gehalten. Ihre Mutter hatte sie dort zum Vergessen abgelegt. Wochen vergingen in denen der junge Geist der Halbgöttin allein im
Dunkeln gelassen wurde. Doch eines
Tages erhob sich die Erde unterhalb der Blüte. Der Boden brach auf und drei spitz zulaufen Blätter verschluckten den Lotus der Länge nach, wodurch er noch weiter in die Dunkelheit getrieben wurde. Im Inneren jedoch brachte die fremde Pflanze das Licht zur göttlichen Frühgeburt. Ein hell strahlender Geist überwand mit spielender Leichtigkeit die magische Barriere der Mutter und schwebte zu ihr empor. Ein tiefer, zugleich ätherischer Laut der Freude und Zuneigung entglitt dem Geist, als er das schwache Wesen vor sich sah. Und er spürte wie das Kind auf ihn reagierte. Das Erbe der Natur machte es möglich. Das winzige Wesen streckte seinen Geist
instinktiv nach ihm aus. Sie brauchte keinen ausgebildeten Verstand, keine funktionierenden Sinne und keine Kontrolle über den Körper, um zu fühlen, dass sie seine Tochter war. Der Vater umhüllte sie mit seinem formlosen Körper und brachte ihr damit das erste Mal das Licht. Sie reagierte und versuchte ihn mit ihren Händchen zu fassen und ihre Augen zu öffnen. Ein Puls des Lebens erfasste das Innere des Lotus, als der Vater seine Essenz in seine Tochter übertrug. Mit einem überirdischen Flötenton sang er ein Schlaflied, das seine Mutter ihm immer vorgetragen hatte. Mit jedem Moment dimmte sein Licht ab, während er in
seine Tochter floss. Nicht lange dauerte es, bis er vollständig in ihr verschwunden war.
Und plötzlich hob sich ihr Brustkorb. Das erste Mal in ihrem kurzen Leben atmete sie, das erste Mal schrie sie. Sie war ein zweites Mal geboren worden. Doch schrie sie nicht aus Freude, sondern aus Trauer. Sie weinte bis sie zu erschöpft war, um um ihren Vater zu trauern und fiel das erste Mal in den Schlaf eines Lebenden.
In ihrem Traum stand sie, eine dünne kleinere Version ihrer Mutter, mit ihren zarten Elfenzügen und dem langen braunen Haar, aber mit den brennenden Augen ihres Vaters dem Geist gegenüber.
Er streichelte ihr über die Wange und lächelte. Sie wusste er war für ihr Leben gestorben. Jetzt war er in ihr und ermöglichte ihr das Leben, das ihr ihre Mutter nicht gegeben hatte. Sie weinte, weil er für sie gestorben war. Sie weinte, weil er nun für immer bei ihr bleiben würde. Sie weinte, weil ihre Mutter ihn dazu getrieben hatte. Dann umarmte er sie und sie verstand, dass auch sie einen Preis zahlen müsse. Nie würde sie wirklich sie selbst sein. Zu jeder Zeit wäre sie sowohl Tochter, als auch Vater. Aber diesen Preis zahlte sie gerne. Die Natur in ihr wusste, dass es keine andere Wahl außer dem Leben gab. Und so wuchs sie im Inneren des Lotus
heran, bis sie dank des Lebens ihres Vaters groß genug war um selbständig gehen zu können. Mit ihren eigenen Händen zog sie die Blätter des Lotus auseinander. Auch wenn er sie im Auftrag ihrer Mutter nicht gehen lassen wollte, schaffte sie es ins Freie und entfloh ihrem zweiten Mutterleib. Ihr erster Schritt, die erste Berührung mit dem Boden des Urwalds, bezeugte letztendlich ihre zweite Geburt. Die Baumgeister riefen ihren Namen und der Wind trug ihn in die hintersten Ecken, die tiefsten Schatten Schatten des Waldes, sodass auch die kleinste Spitzmaus und der zurückgezogenste Geist die Neuigkeiten
vernahm.
Ein neues Wesen wurde geboren! Die Tochter eines Gotts, eines Menschen und der Natur lebte!
Angespannt klapperten die übrigen Geister mit ihren Gliedern. Seit Anbeginn der Zeit hatten sie dergleichen nicht erlebt. Und deswegen fürchteten sie sich. Sie erkannten das Feuer ihres Vaters in ihren Augen und stellten sich vor in ihnen zu verbrennen. Denn sie hatte Gründe zu zerstören. Doch anstatt zu wüten, umarmte das kleine Mädchen die Erde, die Bäume und Flüsse. Sie küsste die Geister, worauf jene
frohlockten und das erste Mal eine Entscheidung trafen. An jenem Tag akzeptierten sie die Vaterstochter der Dreinigkeit von Gott, Mensch und Natur, um sie zu lehren, was selbst ihre Mutter nicht wusste. Dabei sangen sie mit den Instrumenten des Waldes ein Lied, das die nächsten Jahre zu jeder Zeit das Leben im Wald begleitete.
“Trauert, denn die Göttin hat uns verlassen.
Feiert, denn die Verbotene lebt nun unter uns.
Lacht, denn die Kleine ist auch unsere Tochter.
Spürt den Segen der Sterblichkeit und
frohlockt!
Die Vaterstochter wird uns nicht vergessen.”