Hannes
Eigentlich hatte ich es ja eh` gewusst, dass für mich niemand gefunden werden kann. Ich meine, wer will das schon? Über die Weihnachtsfeiertage einen zehn Jahre alten Jungen bei sich in der Wohnung haben, der vor nicht allzu langer Zeit im Einkaufszentrum Hausverbot bekommen hat, weil er bereits zum dritten Mal beim Klauen erwischt wurde. Und der am zweiten Schultag nach den Sommerferien beinahe einen Polizeieinsatz verursacht hätte, weil er dem blöden Stefan aus der 5 b ein Taschenmesser an die Kehle gehalten hat, als dieser nicht aufhörte, ihn auf dem
Pausenhof Hurensohn und Bastardschwein zu rufen.
Ja, eigentlich war es mir klar gewesen, aber es traf mich trotzdem, als der Heimleiter mir verklickerte, dass ich Weihnachten im Kinderheim bleiben müsste.
"Tut mir leid, Hannes", sagte Herr Neumann, nachdem er mich in sein Büro gerufen hatte.
"Du weißt, deine Mutter ist zur Zeit wieder im Bezirkskrankenhaus und dein Vater... na ja, das brauche ich dir ja nicht zu sagen. Leider haben wir auch keine Patenfamilie für Dich gefunden."
Irgendwie klang seine Stimme so, als ob er mich ehrlich bedauern würde. Aber
weil ich mir nicht sicher war, tat ich erst einmal cool.
"Pah, das ist mir egal. Ich bleibe sowieso lieber hier. Da habe ich wenigstens meine Ruhe, wenn die anderen alle weg sind."
"Herr Stevens übernimmt den Notdienst. Mache es ihm aber bitte nicht zu schwer, schließlich ist Weihnachten"
Herr Neumann sah mich eindringlich an und damit er mich endlich gehen ließ, tat ich ihm den Gefallen und versprach:
"Alles klar, Chef. Auf mich können sie sich verlassen"
"Na, Junge, ich weiß nicht. Aber wollen wir die Hoffnung mal nicht aufgeben. Vielleicht geschehen ja noch Zeichen und
Wunder!"
Ich ging in mein Zimmer zurück und holte das Foto von meinen Eltern aus dem Schrank. Und während ich es ansah, überkam mich eine Mordswut. Was bildeten die sich eigentlich ein? Stellten mich hier ab wie einen Sack mit alten Klamotten. Das war`s, Kindchen. Wir können dich nicht mehr brauchen. Wir sind mit uns selbst beschäftigt. Aber du weißt ja, wir können nichts dafür. Die anderen sind schuld. Die sperren deinen Vater einfach weg, wegen diesem verunglückten Tankstellenüberfall. Ja, und deine Mutter. Du weißt ja, was die Drogen aus ihr gemacht haben. Deine arme Mutter. Du musst schon verstehen,
dass sie sich nicht um dich kümmern kann!
Klar muss ich das verstehen und wisst ihr was? Ich habe es verstanden!
Ich nahm einen schwarzen Füllstift und malte ein großes Kreuz über die beiden Gesichter, zerknüllte das Bild und warf es in den Papierkorb.
Danach war mir etwas leichter ums Herz.
Ich setzte mein fröhlichstes Gesicht auf und ging in die Eingangshalle hinunter. Da war schon ein Mordsbetrieb wegen der Abholung der anderen Kinder. Sandra, die dumme Ziege, zischte:
"Siehst du, das hast du nun davon. Viel Spaß mit Stevens."
Ich zog eine Grimasse und beteuerte, dass es mir überhaupt nichts ausmachte, hier zu bleiben. Dann sperrte ich mich ins Jungenklo ein, bis endlich alle weg waren.
Als die Luft rein war, ging ich in den Speisesaal, weil ich nachsehen wollte, ob vielleicht irgendeiner aus Versehen seinen Nachtisch hat stehen lassen. Aber da war nur Stevens. Er war damit beschäftigt, die Stühle auf die Tische zu stellen, damit die Putzfrau ihre Arbeit machen konnte.
"Kannst mir helfen, Hannes", meinte er.
"Was krieg ich denn dafür?", fragte ich.
"Nix, außer mein Dankeschön!"
Ne, wirklich nicht. Für nix gibt's auch nix! Und verarschen kann ich mich selber, dachte ich mir. Ich schwang mich mit einem Ruck auf die Kommode und sah ihm bei der Arbeit zu.
Stevens war noch nicht lange hier im Heim. Und es hieß, er würde auch nicht lange bleiben, weil er sich für ein Afrika-Kinderhilfsprojekt gemeldet hätte. Stevens war also nur auf
Durchreise hier, wie so viele andere Betreuer, die ich hier schon erlebt habe. Alle taten sie erst so, als wenn man für sie wichtig wäre und dann fand man den einen oder anderen auch nett und dann - waren sie wieder weg.
"Hey, ich könnte echt Hilfe gebrauchen,
Hannes", probierte es Stevens noch mal und zwinkerte mir aufmunternd zu. Eigentlich wollte ich ja, denn irgendwie fand ich ihn ganz okay. Aber - ne, das hatte keinen Sinn.
Ich sagte ihm, dass er dafür bezahlt würde und ich nicht und dann ging ich auf mein Zimmer. Dort hockte ich mich auf die Fensterbank und sah auf die Straße hinab. Es hatte zu schneien begonnen und die Leute hasteten mit ihren vollbepackten Einkaufstüten nach Hause.
Nach Hause! Wo war mein Zuhause?
Wenn ich mich jetzt aus dem Fenster stürzen würde, wäre alles vorbei, dachte ich mir. "Welch` ein Unglück"
würden sie dann sagen und "Mein Gott, was hat uns der Bengel jetzt schon wieder angetan."
Und Stevens würde eine Menge Scherereien bekommen, vielleicht würden sie ihm auch noch sowas wie eine
Aufsichtsverletzung anhängen. Nein, das wollte ich dann doch nicht. Ich legte mich ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf.
"Hannes, wach auf!"
Stevens stand an meinem Bett und rüttelte mich am Arm.
"Ich muss sofort zu meiner Schwester. Da ist etwas passiert!"
"Ja, und. Was hat das mit mir zu tun?"
fragte ich und rieb mir die Augen.
"Du musst mitkommen. Ich darf dich hier nicht alleine lassen", erwiderte er und an seiner Stimme merkte ich, dass er ziemlich aufgeregt war.
Also schlüpfte ich in meine Jacke und trottete hinter ihm her zu seinem Auto. Wir fuhren in einem Affenzahn hinaus aus der Stadt und Stevens sagte, dass seine Schwester mit einem ihrer Kinder ganz schnell ins Krankenhaus gemusst hat und dass die anderen Kinder jetzt ganz alleine zu Hause wären.
"Ist das alles?", fragte ich ihn "Und deshalb der ganze Zirkus?" Und ich dachte mir, wenn der wüsste, wie oft ich früher alleine zu Hause gewesen bin und
keiner hat sich darum geschert.
Wir fuhren in eine Gegend, wo sich Fuchs und Hase "Gute Nacht" sagen. Wiesen, Felder und mittendrin ein altes Bauernhäuschen, dahinter gleich der Wald. Hey, wer wohnt freiwillig in dieser Einöde, kam es mir in den Sinn. An der Haustüre stand ein Junge in meinem Alter, der fiel dem Stevens gleich um den Hals und sagte zu ihm, dass er große Angst um Tommi hätte und dann weinte er. ER WEINTE - Krass, eine zehnjährige Memme!
Wir gingen ins Haus und da waren noch mehr Kinder. Zwei Mädchen im Kindergartenalter saßen am Küchentisch und malten Mandalas aus und eine
Größere stand an der Spüle und trocknete Teller ab.
"Ich bin Paul", sagte der Zehnjährige zu mir, der sich nun wieder etwas beruhigt hatte. Dann deutete er auf die Mädchen am Tisch.
"Das sind Pia und Lena."
Das größere, vielleicht dreizehnjährige Mädchen, kam zu mir und gab mir die Hand
"Hei, Clarissa. Und wer bist du?"
"Hannes", murmelte ich.
Mir schwirrte schon der Kopf von den vielen Namen, da ging die Türe auf und es kamen noch zwei Jungs herein. Sie hatten pechschwarze Haare, so als wenn sie gefärbt wären. Gemeinsam trugen sie
einen Korb mit Holzscheiten zum Kachelofen, der in der Ecke des Raumes stand. Die Jungs waren garantiert nicht älter als sieben und acht Jahre alt und die mühten sich hier mit dem schweren Holz ab. Wo war ich da hingeraten? War das eine Strafkolonie, oder was?
Die zwei Jungen stürmten mit einem Freudenschrei auf Stevens zu. Einer hängte sich vorne an ihn und der andere hinten, so dass er Mühe hatte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
"Die Zwillinge Carlos und Pedro", japste er und deutete auf die beiden.
Der Stevens ließ sich dann von Clarissa und Paul erzählen, was mit ihrem Bruder Tommi geschehen ist. Sie berichteten,
dass er keine Luft mehr bekommen hätte, ihre Mama dann den Notarzt gerufen hat und dass dann alles ganz schnell gehen musste, sonst wäre Tommi erstickt.
"Tommi schafft das. Das ist ein ganz zäher Bursche, ein richtiger Kämpfer", versuchte der Stevens die Kinder zu beruhigen und die nickten alle zustimmend und riefen im Chor:
"Ja, das ist er!"
Dann fing Stevens an, mit der ganzen Meute ein Abendessen zu kochen.
"Komm, mach mit", lud mich Paul ein, aber ich winkte ab und setzte mich in einen Schaukelstuhl und sah dem ganzen Treiben aus sicherer Entfernung zu. Der Tommi muss ja wirklich ein toller Kerl
sein, dachte ich mir. So wie die alle von ihm sprechen. Ja, manche haben halt das Glück gepachtet und ich bin eben zum Unglück verdammt.
Später kam dann der Vater von der Arbeit nach Hause und ich meinte, nun könnten wir hier ja wieder abzischen. Aber damit war nichts, denn der wollte unbedingt gleich ins Krankenhaus, um nach Tommi zu sehen. Der Stevens telefonierte mit dem Heimleiter und bekam die Erlaubnis, dass wir über Nacht hierbleiben durften. Dürfen ist gut. Mir war es hier nicht ganz geheuer. Es war so ganz anders, als ich das kannte. Beim Abendessen hatte einer der Jungs ein volles Glas Limo
umgeschüttet, auf dem Tisch ist alles geschwommen und ich habe mir gedacht, dass es jetzt vom Vater aber gleich eins setzen würde. Aber nein, der hat gesagt:
"Los, schnell - ein Handtuch!"
Und Carlos hat ein Handtuch geholt, das Ganze aufgewischt und gut war`s!
Stevens und ich blieben also hier. Ich bekam einen Schlafsack und sollte im Zimmer von Paul auf einem alten Kanapee schlafen. Paul kam länger nicht, weil er dabei half, die kleineren Geschwister bettfertig zu machen. Schlafanzug, Zähneputzen und so. Als er dann endlich antanzte, hatte er die Zwillinge dabei. Die wollten noch
unbedingt eine Geschichte vorgelesen bekommen.
"Was für ein Heckmeck", sagte ich zu Paul. Aber der tat so, als wenn das alles ganz normal für ihn wäre. Und wenn ich ehrlich bin, irgendwie fühlte es sich wirklich gut an, als Pedro seinen großen Bruder beim Vorlesen der Geschichte unterbrach und rief:
"Den Schluss muss Hannes lesen!"
Am nächsten Morgen - wir saßen alle beim Frühstück - da läutete das Telefon und gleich darauf verkündete Stevens,
dass Tommi heute nach Hause kommen würde. Die Kinder brachen alle in einen Freudentaumel aus und die Mädchen
fingen gleich an, Bilder für ihren Bruder zu malen. Irgendwie bekam ich innerlich wieder so ein Hassgefühl auf diesen supertollen, einmaligen Tommi. Was hatte der, dass er von allen so geliebt wurde?
Als dann das Auto mit der Mutter und dem Bruder auf den Hof fuhr, stürmten alle hinaus. Ich blieb im Zimmer und sah vom Fenster aus der Begrüßung zu. Respekt, es war wirklich ein riesengroßes Auto, was sich die Familie da leistete. Und es hatte Schiebetüren. Cool!
Die Mutter war zuerst ausgestiegen. War das ein Hallo, als wenn sie sich
monatelang nicht gesehen hätten. Dann öffnete Stevens die Heckklappe und nahm eine Fernbedienung in die Hand.
Und dann sah ich Tommi.
Er lag in einem Rollstuhl, eingehüllt in warme Decken. Genau genommen sah ich von ihm nicht viel mehr als nur die Nasenspitze. Was mit ihm los war, das wurde mir erst klar, als sie alle zusammen ins Wohnzimmer kamen. Tommi konnte gar nichts. Nicht gehen, nicht sprechen, nichts. Er konnte nur daliegen und sich nicht mal selber am Kopf kratzen. Vorne am Hals hatte er ein Loch, an dem ein Schlauch befestigt war.
Ich war total fertig. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich verdrückte mich in das Zimmer, in dem ich vergangene Nacht geschlafen hatte und setzte mich auf das Kanapee. Ich dachte an meine Besuche und meine Abschiede bei meinen Eltern und wie ganz anders das immer gewesen war. Ich dachte daran, dass ich es auch gerne hätte, dass mich jemand so nimmt, wie ich bin. Und dass sich jemand freut, wenn ich kommen würde und jemand traurig wäre, wenn ich wieder gehen würde. So wie bei Tommi, der einfach geliebt wurde, ohne dass er etwas leisten konnte. Einfach nur, weil er ein Mensch war und dazu gehörte. Und verdammt nochmal, ich fing zu weinen
an.
Nach einiger Zeit kam Stevens und sagte, dass wir über Weihnachten hier bleiben könnten, wenn ich wollte.
Ich wollte! Es wurde ein sehr akzeptables Weihnachten. Und ich erfuhr, dass die Zwillinge adoptiert sind und eigentlich aus Haiti kommen.
Und Tommi ist ein Pflegekind, der gesund auf die Welt kam und dann von seinem leiblichen Vater solange geschüttelt wurde, bis er ein Schütteltrauma hatte und nun für immer auf andere Menschen angewiesen ist. Und ich habe noch viel mehr erfahren, denn jetzt gehöre ich auch
dazu. Die Familie meinte, sie hätten noch einen Stuhl am Küchentisch frei und der wäre für mich reserviert. Und ob ihr`s glaubt oder nicht: Ich hab` mich geändert. Na ja, nicht wirklich, ein kleines bisschen vielleicht... Aber unsere Mum sagt, das passt schon!