Samira konnte sich nicht erklären, warum die Sonne an diesem Tag schien. Es hätte sich richtiger angefühlt, wäre sie endlich untergegangen und hätte damit aufgehört, alles mit ihrem viel zu fröhlich wirkendem Licht zu bestrahlen. Samira saß am Ufer eines Sees und blickte in die Ferne. Das Wasser funkelte im Sonnenschein und ein paar Enten schwammen träge auf der Oberfläche wie schnatterndes Treibgut. Wie konnten sie so sorglos herumtreiben, so als ob sie nicht wüssten, dass die Welt geendet hatte. Auch die Vögel machten unbeirrt weiter mit ihrem Gesinge.
Bis vor kurzem war noch alles in Ordnung. Sie hatte Dennis im Frühling auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt. Samira hatte verloren wirkend auf einer Couch in der Ecke gesessen und an ihrem Sekt genippt als Dennis zu ihr kam und fragte, ob ihr die Party nicht gefiele. "Auf einer Party soll man doch Spaß haben", sagte er. "Da sitzt man nicht griesgrämig in der
Ecke rum und guckt so, als ob man gerade den eigenen Hund überfahren hätte." Samira hatte gelächelt. Das erste Mal an diesem Abend. "Ich dachte nur ein wenig nach", sagte sie. "Manchmal überkommt mich so eine melancholische Stimmung."
Dennis setzte sich neben sie. "Kenn ich."
Sie saßen eine Weile schweigend da. Musik waberte durch den von Zigaretten- und Marijuanarauch vernebelten Raum, schlängelte sich durch herumstehende Menschen und erreichte die Couch. Das schummrige Licht ließ alles wie in einem Traum erscheinen, unterstützt von Echogeschwängerten Gitarren die wie aus einer anderen Dimension zu kommen schienen. Die Rauchschwaden trugen ihr übriges dazu bei.
Dennis zündete sich eine Zigarette an. "Ganz schön ungewöhnlicher Musikgeschmack."
"Hm?", fragte Samira.
"Naja, gewöhnliche neunzehnjährige spielen doch keine Oldies auf ihrer
Geburtstagsfeier."
Samira nippte wieder an ihrem Sekt und lehnte sich zurück.
"Nina steht halt auf solchen Kram."
"Und Du nicht?"
"Doch. Hat was."
Als Otis Redding anfing davon zu singen, wie er am Dock of the Bay saß, richtete sich Samira auf.
"Magst du den Song?", fragte Dennis.
Sie grinste. "Klar, wie kann man den nicht mögen?"
Den ganzen restlichen Abend unterhielten sie sich und lachten zusammen; und dann als die Party sich dem Ende neigte, standen sie gemeinsam draußen an der Straße, sahen nach Hause laufenden Menschen und vorbeifahrenden Autos zu und konnten sich nicht dazu überwinden, einander zu verabschieden. Sie dachte, er müsste nun endlich was sagen. Er dachte, sie müsste nun endlich was sagen.
Als er sich dazu entschlossen hatte, den Anfang
zu machen und gerade zu sprechen begann, kam sie gleichzeitig auf die selbe Idee und die mühsam geplanten Abschiedsworte mündeten in einem Gelächter.
Als sich das Lachen gelegt hatte, tauschten sie ihre Telefonnummern aus und verabschiedeten sich.
Sie war verliebt. Diese Erkenntnis kam ihr, als sie später im Bett gelegen hatte, und ihr Gehirn sie mit verwirrenden Gedanken, Gedanken an IHN, wach hielt. Irgendwann war sie eingeschlafen und ihre Träume knüpften dort an, wo die bewussten Gedanken aufgehört hatten.
In der folgenden Zeit trafen sie sich oft und kamen sich näher.
Der ganze Sommer mit ihm war ein einziger schöner Traum. Sie gingen im See baden, fuhren Achterbahn auf dem Jahrmarkt, wobei sie sich schreiend an ihn geklammert hatte, oder sie lagen
einfach nur im Gras bis es dämmerte und die Grillen zu zirpen begannen. Sie hörten Musik, Percy Sledge, Al Green, Otis Redding und wie sie alle hießen, schauten Filme wie The Shining (ihn hatte es amüsiert, wie sie sich erschreckte, als die beiden Zwillinge auf einmal im Gang standen), und waren immer aufs Neue erstaunt darüber, wie ähnlich ihr Geschmack war. Die Zeit schien verzerrt, es gab keine klar definierten Tage und Nächte, es gab nur einen einzigen scheinbar ewig währenden Augenblick. Die Zukunft war endlich nichts beängstigendes mehr. Sie würden zusammenziehen, vielleicht in ein eigenes Haus. Einen Hund würden sie haben, einen Golden Retriever vielleicht. Einen Welpen. Sie hatte sich vorgestellt, wie der kleine Hund in ihrem Garten herumtollte und sie erwartungsvoll anschaute wenn sie mit ihm spielten.
Nun war Samira angekommen in der Zukunft und der Sommer ging langsam zu Ende. Sie saß noch immer am See und die untergehende Sonne tauchte
das Wasser in rötliche Farben. Sie war der einzige Mensch der noch hier saß. Der einzige Mensch auf der Welt, dachte sie. Die Grillen begannen zu zirpen, doch nun wirkte ihr Getöse nicht romantisch, sondern deprimierend. Irgendwo hupte in der Ferne ein Auto. Die Dunkelheit löste das Licht ab. Samira blickte auf und betrachtete den Mond. Er hat's gesehen, dachte sie. Das Platzen des Reifens. Die Kollision. Der Mond sah alles was nachts passierte. Wieder hupte ein Auto.
Kein Haus, kein Garten, kein Hund. Kein Dennis.