Kurzgeschichte
Und vor ihr lag die Ewigkeit

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"Und vor ihr lag die Ewigkeit"
Veröffentlicht am 02. Dezember 2013, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: "Imaging" von MiiguelReyes, flickr.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich schreibe zu langsam, ich schreibe zu wenig und grundsätzlich denke zu viel über das Wenige, das ich letzten Endes schreibe, nach. Für ein Wort, das ich schreibe, müssen dafür drei andere dran glauben. Aber ich kann es nicht sein lassen, das Schreiben. Und so wenig ich auch in Wirklichkeit schreiben mag, in Gedanken schreibe ich in fast jeder Sekunde.
Und vor ihr lag die Ewigkeit

Und vor ihr lag die Ewigkeit

Und vor ihr lag die Ewigkeit

Unruhig wippte sie auf ihrem quietschenden Bett auf und ab, ließ den Digitalwecker keine Sekunde aus den Augen. Vor einer gefühlten Ewigkeit schien er einmal geklingelt zu haben. Und doch waren seitdem nur drei, nein, vier Minuten verstrichen. Enttäuscht rieb sie sich die brennenden Augen, sie hatte in ihrer Unruhe doch glatt vergessen zu blinzeln. Harlan kam sonst nie zu spät. Wirklich nie. Er brachte ihr auch immer einen frischen Strauß Blumen mit, wie es sich für einen echten Gentleman gehörte. Allerdings lag sein letzter

Besuch jetzt schon eine Weile zurück, die Winterrosen waren als solche bereits nicht mehr zu erkennen. Hatte er sie möglicherweise etwa vergessen? Mehr als beunruhigt über diese Idee wandte sie ihren Blick von den toten Blumen in der hübschen Vase ab – ebenfalls ein Geschenk Harlans. Schon zwölf Minuten. „Er wird kommen“, sagte sie fest zu dem Ölgemälde eines Clowns an der gegenüberliegenden Wand. Nahezu alles in diesem Raum waren Geschenke von Harlan. „Er wird kommen“, meinte sie wieder, dieses Mal um eine Spur trotziger und mit der wachsenden Überzeugung, der Narr würde sie mit amüsierten Blicken taxieren.

Vierzehn Minuten. Das Knacken ihres nervösen Nägelkauens untermalte die stille Ruhelosigkeit, die den Raum inzwischen füllte. Ihr Blick irrte permanent zwischen Wecker und Gemälde hin und her. Nichts von beiden konnte sie lange ansehen. „Tse, ich kann wirklich nicht nachvollziehen, warum du »Der traurige Clown« heißt. Scheinst mir ja eher ein schadenfroher Typ zu sein.“ Der Clown starrte sie weiterhin unverwandt an und machte keinerlei Anstalten, dem etwas entgegen zu setzen. Logischerweise. Obwohl sie sich scheinbar dennoch mehr erwartet

hatte. „Na schön“, beendete sie das selbst konstruierte Schweigen mit zittriger Stimme, „da du ja nicht weißt, wann man jemanden in Ruhe lassen sollte, werde ich es dir beibringen … “, mit hastigen Schritten näherte sie sich ihrem stummen Zuhörer, „ … das, was man Taktgefühl nennt.“ Prompt hievte sie das Bild von seinem Haken und lehnte es einfach mit der Vorderseite gegen die Wand. Ein nervenschwaches Lächeln lag auf ihren Lippen. „Starr doch die Wand an“, schlug sie ihm beinahe hämisch vor, als sie sich abwandte. Noch in der Bewegung suchte sie mechanisch nach der leuchtend grünen Anzeige ihres

Weckers. Einundzwanzig Minuten. Reflexartig drehte sie diesen zehrenden einundzwanzig Minuten den Rücken zu, doch die Ziffern schienen sich trotzdem wie kleine Dolche in sie zu bohren. Sie tastete fahrig um sich, bedacht darauf, die Anzeige nicht sehen zu müssen und begrub den Wecker kurzerhand unter ihrem Kopfkissen. Jetzt, wo sie sich ihre einzige wirkliche 'Beschäftigung', die ihre Aufmerksamkeit für sich eingenommen hatte, selbst entzog, kehrten alle ihre bisher verdrängten Gedanken fast schlagartig in den Fokus zurück. So bemerkte sie auch mit leichtem Widerwillen, wie ihr flau im Magen wurde. Die

Ursache dafür war ihr sofort klar: Wut – weil sie nun ja den Kopf dafür hatte. Wie Unkraut, das nur auf Dünger wartete, keimte sie in ihrem Bauch auf. Grundsätzliche Wut darüber, dass Harlan nicht kam, und Wut über die ihr unbekannten Gründe, warum er nicht kam. Wie wichtig konnten die schon sein, wenn sie nichts von ihnen wusste? Ihr Kinn zitterte gefährlich, als noch einmal die verwelkten Rosen musterte. So weit reichte ihre Liebe also nur. Harlan konnte sie – die Rosen, oder ihre Liebe wohl genauso – im Grunde genommen vertrocknen lassen, wann immer er es wollte, aber auch jederzeit wieder neu säen, wenn es

ihm gerade in den Kragen passte. Schon lange sah sie über diese Sprunghaftigkeit hinweg, die sich allem Anschein nach zu etwas Schlimmerem entwickelt hatte – und das in wirklich rasanten Etappen. Beobachtet hatte sie diesen Prozess sicherlich, trotzdem machte es sie jetzt fassungslos, wie sehr das eintraf, was sie immer befürchtet hatte. Wie sehr all das Warten, all die Geduld nicht im Ansatz eine Lösung gewesen waren, sondern mehr noch Brandbeschleuniger für ein Feuer, das ohnehin schon jenseits alles Löschbarem war. Hasserfüllt packte sie die Vase und schleuderte sie mit all ihrer Kraft auf das Clownsbildnis, an dem sie klirrend zerschellte. Sie stand kurz davor, trotz der

Scherben mit dem Fuß auf das Gemälde einzutreten, als es an der Tür klopfte. Sie wägte kurz ab, ließ dann aber doch offenbar bedauernd von dem traurigen Zeugnis ihrer … ja, wahrscheinlich kaputten Beziehung ab. „Harlan?“ „Nein? Der Blumenlieferant … aber ich habe hier einen Strauß von einem gewissen Harlan Sudol … der ist an eine Veronica Spinetti adressiert. Sind sie-“ „Kommen Sie rein“, würgte sie ihn barsch ab und klang dabei selbst in ihren eigenen Ohren schrill. Sie glaubte, ihre Beine würden irgendwann in den nächsten Sekunden unter ihr nachgeben, als sich ein üppiger Strauß

weißer Rosen durch die schmale Zimmertür schob. Die Blüten waren noch geschlossen, was auf fast jeden seltsam wirken musste. Doch eines der unzähligen Geschenke Harlans war ein kleines Büchlein über Blumensprache gewesen. Und er wusste mit Sicherheit, dass sie es praktisch verinnerlicht hatte. Diese unterschwellige Feigheit kannte sie noch gar nicht an ihm. »Unfähig zu lieben«, schoss es ihr durch den Kopf. Meinte er damit sie? Oder etwa … nein, nein. Weiße Rosenknospen. Warum ausgerechnet Knospen. Dann noch der Zeitpunkt. Nein, darüber konnte man tatsächlich nicht mehr hinwegsehen. Er würde nicht mehr kommen.

Sehr wahrscheinlich sogar nie mehr. Oder in anderen Worten, er ließ sie, grausam, alleine mit ihr selbst und einem Zimmer voller Andenken an ihn, die sie zweifellos durch deren bloße Existenz bis in alle Ewigkeit verhöhnen würden. Bereits jetzt meinte sie, das keckernde Lachen des Clowns wahrzunehmen. Ein dicker Kloß in der Kehle machte es ihr mit einem Mal schwer zu atmen – ein zuverlässiges Anzeichen dafür, dass bald Tränen folgen würden. Für den Augenblick versuchte sie jedenfalls noch, mehr oder weniger Haltung zu bewahren und streckte dem Blumenboten die bebende Hand entgegen. Der überreichte ihr ziemlich

verdattert den Strauß, hielt sich aber ansonsten zurück. Was auch das Beste für beide war. „Ich brauche eine neue Vase“, schluchzte sie noch, womit sie vermutlich nur sich selbst ansprach. Fünfunddreißig Minuten. Es war zwölf Uhr zehn. Für Veronica spielte das keine Rolle mehr.

Nachwort - sozusagen

Zu der Zeit, als ich diese Geschichte hier geschrieben habe, hab ich gerade ein Buch gelesen, das "Vincent" hieß und auch immer noch so heißt und von einem Autor namens Joey Goebel geschrieben wurde. (An der Stelle kann ich es nur wärmstens empfehlen, es ist GUT.)

Jedenfalls, worauf ich damit hinaus möchte: Die beiden Namen Harlan und Veronica Spinetti stammen daraus, eben weil ich das Buch so liebe und immer Namen für irgendwen brauche (und ich nenne immer meine Charaktere irgendwie nach anderen, was natürlich nicht so auffallen soll, hehe.)

Sudol, was ja Harlans Nachname ist, geht auf Alison Sudol zurück, die Sängerin von A Fine Frenzy, deren Album ich da gerade neu gekauft und rauf und runter gehört hatte.

Ich dachte, ich erwähne das nur mal so am Rande und hoffe, das diese Sachen hier niemanden allzu sehr langweilen. Vielen Dank fürs Lesen!

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Stillleben
Ich schreibe zu langsam, ich schreibe zu wenig und grundsätzlich denke zu viel über das Wenige, das ich letzten Endes schreibe, nach. Für ein Wort, das ich schreibe, müssen dafür drei andere dran glauben.
Aber ich kann es nicht sein lassen, das Schreiben. Und so wenig ich auch in Wirklichkeit schreiben mag, in Gedanken schreibe ich in fast jeder Sekunde.

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baesta Du hast eindeutig Talent zum schreiben. Auch diese Geschichte mit offenem Ende kommt sehr gut rüber.
LG Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Stillleben Ohh~
Danke! Ich glaube, ich hab sowieso noch nie irgendwas geschrieben, das ein wirkliches (oder gutes) Ende hatte ^^;
LG, Stillleben
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Dann probiers doch einfach mal (lach), ist ja gar nicht so schwer. Aber ein offenes Ende muss ja nicht unbedingt ein schlechtes Ende sein....
LG Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Stillleben Ich weiß, ja :)
Einmal hab ich ein Happy End (mehr oder weniger, eher Happy Open End) tatsächlich zustande gebracht, aber das ist die eine Kurzgeschichte von mir, die ich im Nachhinein am wenigsten ausstehen kann ö__ö Man glaubt es kaum, haha :D
LG, Stillleben
Vor langer Zeit - Antworten
Milan01 Gute Geschichte, gut geschrieben. Nur weiß ich jetzt leider nicht, ist die Beziehung beendet oder doch nicht.
Lg Milan
Vor langer Zeit - Antworten
Stillleben Dankeschön ^^
Es war im Prinzip so beabsichtigt, dass die Beziehung beendet ist - aber weil ich ja jetzt festgestellt hab, dass Veronica etwas obsessiv rüberkommt, kann es auch sein, dass sie alles nur dramatisiert...
Du kannst rein lesen, was immer du willst :)
Lg, Stillleben
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan Eine Studie, gut beschrieben.
Ich nehme an, wir sind in einem Krankenzimmer, wo sie nicht raus kann, oder wenigstens nicht weit. Diese Fokusminimierung kann dann eben passieren. Auch der Effekt stimmt, daß Dich in einer Kneipe das hängende Staatsoberhaupt immer anglotzt, egal wo Du sitzt.
Viele Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
Stillleben Danke :)
Ich hatte mir nicht wirklich einen konkreten Raum vorgestellt, wo das alles stattfindet, aber jetzt, wo du es sagst, das mit dem Krankenzimmer o.ä. klingt schon gut.
lg, Stillleben
Vor langer Zeit - Antworten
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