Liebe ist wie ein Muskel
'Schuhe. Kleider. CDs. Einen Blumenstrauß? Oder ist das zu klassisch?'
Mit einem müden Seufzer ließ er sich auf die nächstbeste Bank fallen. Dabei war es ihm egal, dass es in fast apokalyptischem Ausmaß regnete. Es war ihm auch egal, dass sich inzwischen an jeder erdenklichen Stelle seines Körpers Wasser angesammelt hatte. Im Prinzip wäre es keine Übertreibung gewesen zu sagen, dass er es kommentarlos akzeptiert hätte, wenn der Regen ihn und seine Bank einfach weggespült hätte.
Eine Weile beobachtete er unschlüssig die wenigen verbliebenen Passanten, die
entweder im Schutze eines Regenschirms seelenruhig die Einkaufspassage entlang flanierten oder fluchend den Pfützen auswichen. Angesichts des monsunartigen Wetters leerten sich die Straßen allerdings binnen weniger Sekunden, wodurch er sich wie der letzte Mensch auf Erden fühlte. Um – für wen auch immer – beschäftigt zu wirken, tippte er wahllos auf seinem Handy-Touchscreen herum und wischte hin und wieder die Regentropfen ab.
Was schenkte man jemandem – einer Frau – zum Geburtstag? Insbesondere der eigenen?
Er sollte ihr ganz einfach das Nächstbeste im nächstbesten Nippesshop um die Ecke kaufen und an Ort und Stelle gleich in das kitschigste Geschenkpapier einwickeln lassen, damit er
es nicht anschauen müsste. Wie jeder andere das auch machte. So oder so würde sie es ohnehin nicht zu schätzen wissen, weil Frauen ja immer so schrecklich wählerisch waren, und das jede einzelne von ihnen.
'Könnte man nicht einfach alle Feierlichkeiten auf einen Tag komprimieren? Wäre einfacher für alle Schenkenden. Und vor allem für mich', dachte er missmutig.
Gewohnheitsmäßig sah er auf seine Armbanduhr, ohne wirklich die Uhrzeit darauf zu registrieren, und beschloss, einer plötzlichen Eingebung folgend, Pralinen zu kaufen – die teure Sorte. Da er relativ selten in diesem Teil der Innenstadt zu tun hatte (dem
'shopping district', wie es seine Frau gerne ausdrückte), musste er sich dazu überwinden, nach dem Weg zu fragen.
Einen wildfremden Menschen.
Er war nicht dumm, noch wollte er sich Illusionen irgendeiner Art machen. (Ganz der Rationalist, der er sonst auch gerne wäre.) Sein Orientierungssinn, wie er sehr genau wusste, war alles, nur nicht zuverlässig – gelinde gesagt. Selbst mit Karte, Kompass und GPS ausgerüstet, bestünde immer noch eine gut 50-prozentige Chance, dass er sich in diesem Labyrinth aus Straßen und Gassen, das sich die Welt schimpfte, rettungslos verirrte.
Immerhin hatte die strenge Erziehung seiner Frau ihm seinen männlichen Stolz genug
ausgetrieben, um aufrechten Ganges und ohne Scheu nach dem Weg fragen zu können.
Er beglückwünschte sich, als er schließlich eine Nobelconfiserie betrat und feststellen musste, dass der berüchtigte Valentinstag nahte. Eigentlich perfekt, denn das bedeutete so viel wie Pralinen in Herzschachteln, Herzform oder mit Ich-liebe-dich Herzaufschrift soweit das Auge reichte.
Leider aber auch exorbitante Preise.
Zähneknirschend und tropfend schmiss er der verdutzten Verkäuferin das Geld auf den Tresen und verließ – eine feuchte Spur hinterlassend – so schnell er konnte das Geschäft. Draußen, im strömenden Regen angekommen, atmete er erleichtert aus. Seine
Aversion gegen Menschenmengen auf engem Raum machte sich, wie er ungern zugab, verstärkt dann bemerkbar, wenn seine Frau nicht in der Nähe war, die seine linke Hand in ihrer kühlen Rechten zu halten pflegte. Vermutlich hätte ihn sogar ein ganzer Schwarm kleiner fotografierender Chinesen kalt gelassen, wäre sie mit ihrer beruhigenden Kühle einfach bei ihm gewesen.
Schuldbewusst spähte er in die Geschenktüte (verziert mit einer in ihrer ganzen Herzigkeit glitzernden Schleife). Der kleine Laden war so stark mit nass dampfenden Gestalten bevölkert gewesen, dass er in seiner Panik nicht darauf geachtet hatte, was genau er denn kaufte. Jetzt spürte er das schlechte
Gewissen geradezu in sich aufquellen. Fast wie Sodbrennen.
Er seufzte ergeben und dachte sich bei einem zweiten Blick: 'Na ja, wenigstens hat es schon mal keine Herzchenform.' (Ganz der Optimist, der er nie gewesen war.)
Nachdem er das Schleifchen, das ihm mehr als zuwider war, sporadisch in Ordnung gezupft hatte, warf er einen routinierten Blick auf seine Handy-Navigation und stellte fest, dass es nicht weit von hier war.
Ihr Zuhause. Ihr Leben.
Nicht aber seines.
Mit seinem Handy fand er sich verhältnismäßig gut zurecht und als er schon Bekanntschaft mit zwei Sackgassen
geschlossen hatte, stand er tatsächlich ganz unvermittelt vor ihrer Haustüre.
Es war ein ganz ordentliches Vorstadtdomizil, warm, verträumt und menschenfreundlich, in seiner Einschätzung wohl optimal für lächelnde Kleinkinder. Sogar der Efeu, der sich an der Fassade empor schlängelte, wirkte sanft und wohlwollend, nicht wie herkömmlicher Efeu, der irgendwann außer Kontrolle geriet und mehr oder weniger ein Eigenleben entwickelte, um dann schließlich das ganze Haus unter seiner biologisch abbaubaren Decke aus Blättern und Ranken zu ersticken.
Er hatte sie sich immer schon in einem solchen Milieu vorgestellt, vom ersten Moment an, als stolze Mutter von rosigen aber
gewöhnlichen Kindern mit einer starken, anzugtragenden Männerschulter, die ihr Halt gab.
Damals, als er sie unter nicht erwähnenswerten Umständen zufällig kennengelernt hatte, war ihm schon bewusst gewesen, wie es mit ihnen beiden anfangen würde, welches Glück sie zusammen erleben würden und wie sehr es ihn schmerzen würde, sie gehen zu lassen.
Denn auch das hatte er geahnt: Sein Leben würde eine solche Richtung nie einschlagen.
Er sah sich nicht in ihrer sonnenfarbenen Welt. Ihr Efeu schien ihn auf geradezu magische Weise abzustoßen, gleichzeitig fühlte er sich auch nicht dazu berufen, das zu ändern, schließlich war er nicht Dornröschens
(by the way namenloser) heckentötender Prinz. Oder ein Anzugträger. Ob Efeu oder Dornenhecke, ein derartige Aussicht lockte ihn jedenfalls nicht. Auch keine ihn erwartende schlafende Schönheit hätte das je ändern können. (Ganz der Dramatiker, der sich in seiner gesamten Tragik jetzt häufiger zeigte.)
Irgendwann war das das Ende gekommen. Wie erwartet.
Lange Jahre voller Liebe lagen hinter ihnen und doch trennten sie sich. Kurz und fast schmerzlos, beinahe heimlich – Was war noch einmal der Grund dafür gewesen?
In einer analytischen Phase nach der Trennung hatte er manchmal den Eindruck gehabt, als hätte sie es auch gewusst. Dass das Leben und seine Facetten irgendwann
einen Keil zwischen sie treiben würden. In seiner emotionalen Phase hatte er diesen Gedanken aber wieder verworfen und begonnen, in sich und seinem Pessimismus den Ursprung allen Übels zu sehen.
Jetzt, da er sich endlich zu einem Besuch durchgerungen hatte, befand er sich mittlerweile in der Phase der stillen Akzeptanz. Knapp an der Schwelle zur Phase der Melancholie und Reue, in der er die überflüssige Suche nach dem Großen Warum wohl langsam im Sande verlaufen lassen würde, weil sie ihm allmählich zu sehr wie eine Reise ohne Wiederkehr erschien. Außerdem benötigte er seine Energie sowieso für wichtigeres als das, wie zum Beispiel für das Leben in der Vergangenheit oder den sturen
Weltschmerz, den er so eisern pflegte.
Gerade wollte er klingeln, als er Kindergeschrei aus dem Hausinneren wahrnahm. Vorsichtig spähte er durch das Küchenfenster direkt neben der Tür und war prompt froh um seine Neugierde.
Sein Herz setzte nämlich einen Schlag aus, wodurch er sich mit einer Hand (seiner linken) an der Hauswand abstützen musste. Der kühle Putz rief Erinnerungen in ihm hervor, Erinnerungen an langes kühles Händehalten, was ihn durchaus noch immer besänftigte.
So wurde ihm klar, dass er ein wirkliches Treffen lebend nie überstanden hätte. Es reichte ihm vollends, die zarten Hände mit seinen Augen zu verfolgen – ach, ihre
liebenswürdigen, perfekten zarten Hände! – wie sie die Tränen aus dem pausbäckigen Gesicht des – nein, ihres – Kindes wegwischten und fast meinte er, ihre tröstenden, so süßen Worte, mit denen sie das aufgewühlte Mädchen versuchte zu beruhigen, galten auch ein wenig ihm. So schön war sie.
Es fehlte nicht viel und er hätte geglaubt, dass die Tränen, die sie dem Mädchen genommen hatte, jetzt bei ihm Zuflucht suchten, wie Parasiten, die einen neuen Wirt brauchten, sobald der alte sie erfolgreich ausgetrieben hatte. Trotzig wischte er sie sich mit seinem klitschnassen Ärmel ab, um diesen kleinen Parasiten zu verdeutlichen, dass sie es sich
bei ihm gar nicht erst bequem zu machen brauchten.
Dann, ja, dann beschloss er prompt zu gehen. Einfach so. Unverrichteter Dinge, sang- und klanglos – wobei er sich auch nicht mehr wirklich darüber im Klaren war, welche Dinge er eigentlich genau zu verrichten gedachte. (Ganz der Feigling, der er im Prinzip gar nicht sein wollte.)
Am Briefkasten blieb er noch stehen. Als wäre es ihm in dieser Sekunde erst wieder in den Sinn gekommen, senkte er seinen Blick auf das Geschenk in seiner Hand, was ihm plötzlich seltsam zusammenhangslos erschien und bettete es, seinen Zweifeln zuvorkommend, behutsam in die vielen Briefe, die die Familie erhielt. Das rote Fähnchen des
Briefkastens schob er tatsächlich schon zögerlicher nach oben.
Dann weinte er seine letzte Träne, die er ungehindert seine Wange hinunterlaufen ließ, quetschte sie quasi aus seinem Organismus, und bemühte sich, zufrieden oder abgeklärt zu sein. Fest entschlossen entfernte er sich von ihrem idyllischen Haus, warf aber in einem Moment der Inkonsequenz noch einen Blick über seine Schulter zurück.
Sein Lächeln war etwas zittrig und fragend, doch zweifelsfrei lächelte er.
Ganz der Liebende, der er immer bleiben würde.