Eine überraschende Begegnung
Ayshe steht auf dem Dach des Hauses, in dem sie lebt. Wie immer, wenn der Himmel in warmen Nächten in all seiner Sternenpracht erglüht. Dann träumt sie sich weit fort, fort in eine andere Zeit und in ein anderes Land. Sie weiß, dass sie nicht das gleiche Leben leben will wie ihre Eltern. Ihr Vater ist Ziegenhirte, hat einen kleinen Olivenhain und baut selbst das zum Leben notwendige Gemüse an. Ihre Mutter versorgt den Haushalt und arbeitet
nebenher noch für wenig Geld in der nahe gelegenen Teppichknüpferei. Auch sie selbst hat diese alte Kunst gelernt. Wegen ihrer außergewöhnlichen Fingerfertigkeit knüpft Ayshe besonders feine Teppiche. Aber sie hat keine Lust, nur nach der alten Bildtradition zu arbeiten. Sie hat so viele Ideen für eigene Gestaltungen im Kopf und deshalb hat sie sich ausbedungen, dass man ihr zu Hause einen kleinen Webstuhl aufstellt. Hier kann sie in Ruhe ihre Bildträume verwirklichen. Und sie gestaltet wahrhaft kunstvolle Bilder in kleinen Maßen. Ayshe träumt davon, diese winzigen Bilder in einem besonderen Laden an die Fremden
verkaufen zu können, die inzwischen ihr stilles Tal entdeckt haben, um die Ausgrabungen in der Nachbarschaft voranzutreiben oder sogar zu besichtigen. Wenn sie nur wüsste, ob sie der Fremden trauen kann, der sie gestern am Brunnen begegnet ist.
Ein Ruf aus dem Innern des Hauses schreckt Ayshe aus ihren Träumen auf. Es ist ihre Mutter, welche sie ermahnt, schlafen zu gehen. Ein letzter Blick zu den Sternen, dann verlässt die junge Frau die Dachterrasse und begibt sich in ihr Schlafzimmer. Ihre Träume nimmt sie mit.
Wenige Tage später am Dorfbrunnen. Ayshe hat lange mit sich gekämpft. Heute wird sie die Fremde ansprechen und hören, wer sie ist, was sie hier will, woher sie kommt und noch viel mehr. Lange muss Ayshe nicht warten, als die Fremde endlich erscheint. Ayshe betrachtet sie neugierig und dann entfährt es ihr: „Ich heiße Ayshe und wer bist du?“ Die Fremde nimmt einen Zipfel ihres Halstuches, bedeckt sich damit den Mund und erstickt ein Kichern. Doch dann platzt sie los: „Hey, das ist lustig. Ich heiße auch Ayshe. Was haben sich meine Eltern bloß dabei
gedacht! Und dann noch, dass sie mich hierher geschickt haben!“ Die beiden jungen Frauen lachen sich an und finden sich auf Anhieb sympathisch. „Und wie können wir uns jetzt auseinander halten?“ „Nenne mich doch einfach Liliana nach meiner Mutter. Oder besser Lilian. Du musst wissen, dass meine Mutter Deutsche ist.“ „Wie kommt es dann, dass du doch unsere Sprache sprichst?“ „Mein Vater stammt hier aus der Gegend und hat immer in seiner Sprache mit mir gesprochen und in der Schule hatte ich viele Freunde, die von hier kommen. So bin ich eben mit zwei Sprachen aufgewachsen.“ Und weil eine gemeinsame Sprache gleich viele Hürden
überwindet, freunden sich die beiden jungen Frauen sehr rasch an. Und Lilian beginnt aus ihrem Leben zu erzählen.
Dafür treffen sie sich am folgenden Abend nach getaner Arbeit im Olivenhain, der Ayshes Eltern gehört. Dort legt Ayshe erstmals ihre Kopfbedeckung draußen ab und probt eine neue Freiheit. Sie genießt den Wind in den Haaren, den Duft der vielen wilden Blüten, den Abend, der sich leise senkt. Lilian berichtet inzwischen von ihrem Vater, welcher von hier als kleiner Junge mit dem Großvater zusammen nach Deutschland auswanderte. Die Eltern waren bei einem
schweren Erdbeben ums Leben gekommen und die Familie des Großvaters hatte ihn aufgenommen. Der Großvater selbst war ein freiheitsliebender Mann gewesen und wagte deshalb den Schritt in die Fremde. Lilians Vater besuchte dort eine gute Schule, lernte Goldschmied und baute sich dann ein sehr gut gehendes Geschäft auf. Er gilt in der ganzen Stadt als äußerst wohlhabend. Ihre Mutter stammt ebenfalls aus einer wohlhabenden deutschen Familie und hat nach dem Abitur Kunst studiert. Die meisten Entwürfe, die in der Werkstatt ihres Vaters in Schmuckstücke umgesetzt werden, stammen von ihr und
finden viel Anklang. Sie verkaufen sich sehr gut. Liliana selbst hat auch eine weiterführende Schule besucht und will nun nach dem Abitur studieren. Sie hat sich alles so schön vorgestellt, aber nun ist alles ganz anders gekommen.
Plötzlich bricht Liliana in Tränen aus. Die neue Freundin umarmt sie um zu trösten. Da hocken sie nun schweigend, während der Mond hinter dem Gebirge aufsteigt. Für heute ist es Zeit, nach Hause zu gehen. Rasch verabreden sich die Freundinnen für einen der nächsten Abende im Olivengarten. Ayshe bleibt noch eine Weile. Dann bedeckt sie wieder ihre Haare – wenn die Mutter sie
so sieht, gibt es nur Ärger - und folgt nachdenklich Liliana ins Dorf. Deren Erzählung hat viel bei ihr bewegt.
Ein paar Tage später treffen sich die beiden erneut am Brunnen. Sie verabreden sich für den Abend, aber diesmal an einem anderen Platz. „Und bitte, bedecke deine Haare, es ist hier so heiß und staubig“, ruft ihr Ayshe noch nach. Sie ist als Kind oft allein mit den Ziegen unterwegs gewesen und kennt deshalb viele geheime Plätze für ein Treffen mit der Freundin. Niemand im Dorf darf wissen, dass sie sich mit der „Deutschen“ trifft. So wird Liliana im Dorf genannt, seit der alte Selim, dem
das Café gehört, einen dicken Umschlag aus der Fremde erhielt, mit der Bitte, ihr den Zugang zu elektrischem Strom zu ermöglichen. Niemand im Dorf hat so etwas außer ihm. Auch sonst erzählt man sich, dass die „Deutsche“ nach angemessener Zeit einen Mann aus einem der Nachbardörfer heiraten soll. Und die Familie, bei der sie jetzt als Gast lebt, wird von ihrem Vater sehr gut dafür bezahlt. Dies alles hat Ayshe inzwischen erfahren. Sie hat hin und her überlegt, ob sie der Freundin davon erzählen soll. Schließlich entscheidet sie sich, das alles heute Abend zu berichten.
Als sich die beiden jungen Frauen am Abend treffen, kann man sie kaum voneinander unterscheiden. Liliana hat sich der Freundin zuliebe wie die Frauen hier gekleidet und so wird niemand Verdacht schöpfen. Nur wenig außerhalb des Dorfes, nach einem dicken Felsen, biegt ein schmaler Steig ab, den sonst nur die Ziegen benutzen. Diesem folgen die beiden Frauen und sind bald an Ayshes Lieblingsplatz angekommen. Sie lassen sich im dürren Gras nieder. Ayshe ist so aufgeregt, dass sie sogleich los redet. Alles, was der Dorfklatsch weiß, muss sie jetzt aussprechen. Liliana ist entsetzt. So hat
sie sich ihren Aufenthalt in der Fremde nicht vorgestellt. Heute Abend noch wird sie sich mit ihrem Vater in Verbindung setzen und ihn zur Rede stellen. Mit ihr kann er so etwas nicht machen. Und ihre Mutter wird ihr dabei bestimmt helfen. Wahrscheinlich weiß die nichts von dem, was hier gespielt wird. Ayshe ist entsetzt. Noch nie hat sie erlebt, dass eine Frau so wütend wird, wenn es ums Thema Heiraten geht. Deshalb nimmt sie jetzt Liliana in den Arm und meint: „Alle meine Freundinnen haben bisher die von den Eltern ausgesuchten Ehemänner genommen und sind damit gut gefahren. So ist das eben hier in den Dörfern. Die
Eltern wissen immer, was für die jungen Leute das Beste ist.“ „Bist du sicher, dass diese Frauen in ihrer Ehe wirklich glücklich sind? Wenn ich heirate, dann will ich es nur aus Liebe tun“, erwidert jetzt Liliana. „Aber woher willst du wissen, wann es echte Liebe ist?“ „Ich habe das auch meine Mutter gefragt, denn ich weiß, dass meine Eltern aus Liebe geheiratet haben. Und meine Mutter hat mir erklärt, dass man sich wie auf Wolken fühlt, wenn man wirklich verliebt ist. Dass man mit dem anderen immer zusammen sein will und dass es im ganzen Körper kribbelt, wenn man sich berührt.“ Ayshe ist sehr nachdenklich geworden, als sie das hört.
Dann fragt plötzlich Liliana: „Warum bist du noch nicht verheiratet, Ayshe?“ „Der Mann, dem ich versprochen war, ist von einem Felsen erschlagen worden, als er die Ziegen seines Vaters zusammentreiben sollte. So müssen wir erst das Trauerjahr abwarten, ehe meine Eltern mir einen neues Ehemann vorstellen können.“ Traurig senkt sie den Kopf und dann bricht es aus ihr heraus: „Aber eigentlich habe ich ganz andere Träume. Ich bin eine der besten Teppichknüpferinnen hier im Tal. Ich will fort von hier und mein größter Traum ist ein eigenes Geschäft in einer großen Stadt. Das würde mich wirklich glücklich machen.“ Nun nimmt Liliana
Ayshe in den Arm, um ihre Freundin zu trösten. Ein seltsames Gefühl überkommt sie, als sie spontan jener jungen Frau einen Kuss auf die Stirn drückt. Schnell steht sie auf. „Lass uns nach Hause gehen. Ich muss unbedingt noch vom Café aus meinen Vater anrufen. Ich will die Wahrheit wissen, was hier eigentlich gespielt wird.“ Schweigend kehren die beiden Frauen ins Dorf zurück.
Ayshe eilt nach Hause. Ihr Vater sitzt noch im Café. Wie gut, dass sie jetzt mit ihrer Mutter allein ist. „Sag Mama, bist du in deiner Ehe wirklich glücklich“, platzt sie heraus. Ihre Mutter
fährt sie an: „Kind, willst du mich nicht erst gebührend begrüßen? Und überhaupt, was soll diese Frage?“ Doch nach einer Weile des Nachdenkens und bei einer Tasse Tee wird die Mutter gesprächig. „Ich habe deinen Vater geheiratet, weil wir schon als Kinder einander versprochen waren. So hatten es unsere Eltern beschlossen. Und über glücklich sein oder nicht habe ich nie nachgedacht. Ich musste eben meinem Ehemann gehorsam sein und seine Kinder bekommen. So hat man es uns in vielen Generationen vorgelebt.“ „Und wenn du nicht gehorsam gewesen wärest? Was wäre dann geschehen?“ „Nun, dann hätte ich Schläge bekommen,
so wie es eben üblich war. Aber dein Vater ist ein guter Mann und er hat mich nie geschlagen.“ „Das ist schön. Aber liebst du deinen Mann auch?“ „Kind, was stellst du für komische Fragen? Sicherlich, ich habe ihn gern, weil er mich beschützt, weil er für uns sorgt, weil er dich liebt. Aber bitte, höre auf zu fragen. Ich bin müde und möchte jetzt schlafen gehen. Gute Nacht.“ Die Mutter dreht sich um und verschwindet in ihrem Schlafgemach. Doch es soll eine durchwachte Nacht werden. Sie wird wohl noch einmal mit ihrer Tochter sprechen müssen.
Liliana ist ins Café des Dorfes geeilt und verlangt, umgehend mit ihrem Vater telefonieren zu dürfen. Selim lässt sie nur widerwillig an den Apparat. Als die Verbindung hergestellt ist, poltert sie diesmal allerdings in deutscher Sprache los. Die Leute hier müssen schließlich nicht alles wissen. „Papa, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mir einen Ehemann auszusuchen. Und das ohne Mama oder überhaupt mich zu fragen. Du weißt, dass ich nur den Mann heiraten will, den ich wirklich liebe …“ Nur mit Mühe kann ihr Vater sie unterbrechen. „Kind, das sind alles schreckliche Missverständnisse. Du sollst dich als allererstes von den
Strapazen der Schule erholen. Dann sollst du das Land deines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters kennenlernen. Und letztlich sollst nicht DU verheiratet werden. Ein guter Freund von mir, Teppichhändler, sucht einen Nachfolger für sein Geschäft. Sollte dir der junge Mann gefallen, mit dem ich dich bekanntmachen will, dann wird er bestimmt auch seiner Tochter gefallen. Er ist der Sohn eines in der Gegend sehr namhaften Teppichknüpfers mit eigener Manufaktur. Und du kennst doch den Geschmack Selinas.“ Liliana ist sehr froh über dieses Gespräch. Nun tauschen Vater und Tochter noch einige
Freundlichkeiten und etwas Familientratsch aus, dann ist das Telefonat auch schon beendet. Zum Glück hat von den im Café sitzenden Männern niemand etwas mitbekommen. Beruhigt kehrt Liliana zu ihrer Gastfamilie zurück.
Mehrere Tage sehen sich die beiden Freundinnen nicht. Man könnte fast glauben, sie gingen sich sogar aus dem Wege. Doch eines Morgens hält Ayshe es zu Hause nicht mehr aus. Sie eilt an den Brunnen in der Hoffnung, Liliana dort zu begegnen. Und dieselbe scheint sie schon zu erwarten. Ihre Begrüßung fällt etwas kühl aus, denn niemand im
Dorf soll etwas bemerken. So unterhalten sie sich über das Wetter und über die Befindlichkeit der Familie. Dann verabreden sie sich für den Abend wieder an dem Felsen vor dem Dorf. Ayshe ist sehr aufgeregt und wenn sie an Liliana denkt, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Sie kann sich das alles nicht erklären. Auch ihre Mutter kann ihr dazu nichts sagen, weil sie es selbst nie erlebt hat. „Vielleicht kommt das ja alles daher, weil ich heute Abend meiner Freundin eines meiner kleinen Kunstwerke zeigen möchte“, grübelt Ayshe.
Als alle Tagesarbeit verrichtet ist, holt sie aus einer alten Truhe ein kleines Stückchen Knüpferei, verbirgt es im Oberteil ihres Kleides und huscht dann rasch aus dem Haus. Zum Glück hat niemand etwas bemerkt, als sie weggeht. So bleiben ihr die vielen Fragen der neugierigen Dorfbewohner erspart. Auf einigen Umwegen begibt sie sich zu dem vereinbarten Treffpunkt. Liliana ist schon da. Sie hat ihre langen Haare zu einem breiten Zopf geflochten, den rote Bänder schmücken. So hat Ayshe die Freundin noch nie gesehen. Wieder beginnt ihr Herz wie wild zu schlagen, als sie sich gegenüber stehen. Rasch streift sie das Tuch von ihren
Haaren, um ihre Verlegenheit zu überspielen, dann nickt sie Liliana kurz zu und schlägt den schmalen Ziegenpfad ein, welchen sie schon einmal gegangen sind. Die junge Frau ist so aufgeregt, dass sie kaum sprechen kann. Erst an ihrem Lieblingsplatz löst sich die Spannung ein wenig. Beide sitzen im trockenen Gras im Abendsonnenschein. Liliana betrachtet die Freundin aufmerksam und sieht ein seltsames Leuchten in deren Augen. Sollte sich die Freundin verliebt haben? Bei diesem Gedanken durchzuckt sie ein schmerzhafter Stich. Zu fragen wagt sie noch nicht. Sie sind schließlich nicht in Deutschland. Hier braucht alles ein
wenig mehr Zeit, wie sie inzwischen gelernt hat. So berichtet sie erst einmal von dem Telefongespräch mit ihrem Vater. Ayshe entspannt sich sichtlich. Das ist schon eigenartig. Dann zieht Ayshe ihr winziges Kunstwerk aus dem Oberteil ihres Kleides. Es ist von so erlesener Schönheit, dass Liliana nicht anders kann, als es schweigend zu bewundern. „Du sagst gar nichts. Gefällt es dir nicht?“ „Es ist so überwältigend schön, dass ich nichts dazu sagen kann. Im Geschäft meines Vaters fände es sicher sehr schnell einen Käufer. Und der würde wohl auch beim Geld nicht sparen. Hast du noch mehr davon?“ Als die Knüpferin nur
stumm nickt, fügt Liliana an: „Du bist eine echte Künstlerin. Und wenn meine Mutter das sehen könnte, die wäre vollends begeistert. So etwas Schönes und doch Zartes bekommt man bei uns nicht zu sehen.“ Vor Stolz und Aufregung über dieses große Lob beginnt Ayshe am ganzen Körper zu zittern. Liliana legt ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern und so sitzen die beiden Frauen eng aneinander gekuschelt und beobachten schweigend den aufsteigenden Mond. So wohl gefühlt hat sich auch Liliana noch nie mit einem fremden Menschen. Als die ersten Sterne aufblinken, kehren beide schweigend zum Dorf zurück. Am Felsen
noch eine Umarmung, dann trennen sich ihre Wege.
Ayshe betritt sofort ihr eigenes kleines Reich. Das Kunstwerk wandert wieder in die Truhe. Dann wirft sich die junge Frau auf ihr Bett. Sie ist aufgewühlt, wenn sie an Liliana denkt. Ihr Herz hüpft, wenn sie sich sehen und sie kann kaum den Moment erwarten, dass sie „die Deutsche“ wieder sieht. Sollte das Liebe sein? Aber die Tradition verlangt doch, dass eine Frau heiratet, einen Mann heiratet und Kinder bekommt. Noch nie hat sie gehört, dass sich eine Frau in eine Frau verliebt. Das darf es gar nicht erst geben. Ob sie vielleicht
doch ihre Mutter danach fragen sollte? Nein, das geht nicht. Ihre Mutter kann dazu gar nichts wissen. Vielleicht wird sie mit Liliana darüber sprechen, ob eine Frau auch eine Frau lieben kann.
Als Liliana bei ihrer Gastfamilie eintrifft, erfährt sie, dass am folgenden Tag der junge Mann mit seiner Familie eintreffen wird, den sie sich im Namen ihres Vaters ansehen soll. Das Treffen ist im Café arrangiert. Nun gut, Liliana wird den Auftrag ihres Vaters ausführen. Für sich selbst hat sie entdeckt, dass sie sich überhaupt nicht für Männer interessiert, und schon gar nicht für junge Männer im heiratsfähigen
Alter. Ihr eigenes Interesse gilt nur noch einer, einer jungen Frau nämlich, welche ihr hier begegnet ist und die ihr Herz und Hirn verbrannt hat. Nur mit ihr will sie zusammen sein, mit ihr ihre Tage und Nächte verbringen. Ohne diese junge Frau will sie nicht mehr leben. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ist auf Ayshe ausgerichtet. Doch wie soll sie das der Freundin vermitteln? Wie bei dieser über die eigenen Gefühle sprechen, wie herausfinden, ob dort die gleichen Gefühle vorhanden sind? Wird Ayshe das mit ihren Traditionen im Dorf verbinden können? Wie werden deren Eltern damit umgehen? Wie soll sie es ihren eigenen Eltern erklären? Werden
sie damit einverstanden sein, dass ihre Tochter Liliana eine Frau zu ihrer Lebensgefährtin macht, sie gar heiraten will? Eine familiäre Tragödie scheint das Programm der Zukunft zu werden. Liliana bekommt in dieser Nacht keinen Schlaf.
In den nächsten Tagen versuchen die Frauen, sich aus dem Weg zu gehen. Doch auf beiden Seiten ist die Sehnsucht groß. Deshalb nutzen sie eine zufällige Begegnung am Brunnen, um sich für den Abend an Ayshes Lieblingsplatz zu verabreden. Ayshe hat sich für den heutigen Abend besonders hübsch gemacht. Ihre Haare sind in
mehrere Zöpfe geflochten, mit bunten Bändern umwickelt und auf dem Kopf trägt sie eine bunte Mütze. Ein farbiges Gewand umhüllt ihre schlanke Gestalt. Für den Weg hierher hat sie einen grauen Umhang übergeworfen, der alles versteckt. So sitzt sie und wartet auf Liliana, während ihr Herz so unruhig schlägt wie noch nie. Soll sie der Freundin etwas von ihren Gefühlen sagen? Doch sie will abwarten. Ayshe schließt die Augen und beginnt wie so oft zu träumen. Als sie ein Geräusch hört, fährt sie zusammen und traut ihren Augen nicht: Liliana in der landestypischen Kleidung, mit geflochtenen Haaren, mit Schmuck.
Liliana fasst Ayshe an den Händen, zieht sie vorsichtig auf die Füße, während der Mantel von deren Schultern rutscht. Die Augen der beiden Frauen strahlen wie die Sterne, als Liliana Ayshe ganz zart auf den Mund küsst. Schließlich wird der Kuss inniger und dann versinken beide im Glück ihrer Liebe.
Einige Wochen geht das nun schon. Die beiden Liebenden treffen sich regelmäßig an Ayshes Geheimtreffpunkt. Dann vertraut sich Liliana über das Telefon ihrer Mutter an. Doch diese hat es längst geahnt und unterstützt ihre Tochter, wo sie nur kann. Dann endlich ist es soweit.
Lilianas Vater ist kurzfristig angereist und übernimmt die Verhandlungen mit Ayshes Familie. Viel gibt es in den nächsten Tagen zu besprechen. Vor allem familiäre Hürden müssen überwunden und gesellschaftliche Bedenken aus dem Weg geräumt werden. In Deutschland werden die beiden Frauen ihre Beziehung offen leben können. Endlich sitzen alle im Flieger, der sie einer neuen Zukunft, einem neuen Himmel voller Träume, Glück und Liebe entgegenträgt.
© HeiO 01-2013
Zentaur Deine Geschichte hast du sehr gut geschrieben. In vielen dieser Länder gelten leider heute immer noch die Traditionen mehr als die Liebe. Sogar in Russland werden Homosexuelle wieder verfolgt und bestraft. Aber nicht alle haben die Möglichkeit in ein Land, wie Deutschland,zu gehen. lg Helga |
NORIS Ich freue mich über Deinen Besuch bei mir und darüber, dass Du die Geschcite zu Deinen FAVOs genommen hast. Es ist schwer, nicht in die politisch angesagte Schublade zu passen. Aber auch in Deutschland gibt es noch vorgestrige Menschen, leider. Liebe Grüße zum ersten Advent Heidemarie |