Ein Engel kam zu mir
Es war Mai und die Sonne stand warm am wunderschönen blauen Himmel. Nicht eine Wolke war zu sehen. Iris schaute verträumt aus ihrem Fenster in den Garten. Tief zog sie den herrlich würzigen Duft des Frühjahres ein. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie dachte an morgen. Da sollte ihr großer Tag sein, der Tag, an dem sie ihren Jonas heiraten würde. Bei dem Gedanken an Jonas strömte ein starkes
Glücksgefühl durch ihren Körper. Sie würde eins werden mit dem Mann, den sie liebte und der sie liebte. Zusammen für immer und ewig. Bei diesem Gedanken stockte sie innerlich. Bei ihren Eltern war das nicht der Fall gewesen. Ihnen war wenig gemeinsame Zeit vergönnt gewesen. Bei dem Gedanken an sie, zog ein Schatten über ihr Gesicht.
Als sie gerade fünf Jahre alt war, hatten ihre Eltern einen Autounfall, bei dem ihre Mutter tödlich verunglückt war. Iris war sehr traurig gewesen und kam lange nicht darüber hin weg. Sie war seit dieser Zeit sehr still und in sich gekehrt. Es konnte sie kaum etwas
erfreuen, ihre Mutter fehlte ihr überall. Mit ihr hatte sie die schönsten Spiele gespielt, mit ihr hatte sie viele Lieder gesungen. Der Wald, gleich hinter ihrem Haus, lud zu den schönsten Ausflügen ein. Hier unter den mächtigen Bäumen, an der Hand ihrer Mutter, fühlte sie sich immer glücklich und geborgen. Am Abend vor dem zu Bett gehen, las Mami ihr immer noch etwas aus dem großen Märchenbuch vor, gab ihr einen Gutenachtkuss und strich ihr zärtlich über das Haar.All das fehlte ihr nun furchtbar.
Lange dauerte es, bis Iris wieder etwas Freude am Leben fand. Und noch etwas
war geschehen. Ihrem Vater, den sie auch innig geliebt hatte, gab sie die Schuld an dem Unfall. Er hatte das Auto gefahren, in welchem ihre Mutter den Tod fand. Nie hatte er mit ihr darüber gesprochen. Sie hatte ihn auch nie danach gefragt, so lange sie klein war. Als sie dann erwachsen wurde,war viel Zeit vergangen und sie wollte keine neuen Wunden auf reißen. Ihr Vater merkte natürlich, dass seine Tochter sich immer mehr von ihm zurück zog, fand aber auch von sich aus keinen Weg zu Iris. Mit der Zeit wurde ihr Verhältnis etwas besser, aber es blieb ziemlich kühl und distanziert.
Als Iris noch klein war, war Mamis
Mutter sehr oft bei ihnen. Iris war froh, wenn Oma kam. Die machte immer so lustige Sachen mit ihr und kochte ihr auch häufig ihr Lieblingsessen. Aber auch Oma Liesel fand keinen Weg zu ihrem Schwiegersohn. Sie sagte einmal zu Iris: "Ich glaube, er hat auch eine Mitschuld am Tod deiner Mutter gehabt.“
Iris war entsetzt und fragte,"wieso?" Oma Liesel war sehr erschrocken, als sie sah, was sie bei Iris mit ihrer Bemerkung angerichtet hatte. Diese war sehr blass geworden. Oma Liesel hatte sie in den Arm genommen und zärtlich gestreichelt. Sie sprach sehr leise: „Iris, bitte verzeih einer alten dummen Frau. Ich habe das nicht so gemeint,
natürlich hatte Dein Vater keine Schuld an dem Unfall.“
Der Stachel aber saß in ihrem Herzen und obwohl viele Jahre vergingen, war er immer noch da. Als Iris nach Beendigung der Schule zum Studium nach Berlin ging, wurde ihre Seele entlastet. Es passierte soviel Neues in ihrem Leben und der Verlust der Mutter geriet etwas in den Hintergrund. Iris hatte das Gefühl, ihr Vater wahr froh, dass er sie nicht mehr jeden Tag um sich hatte. Immer noch in dem Glauben, ihr Vater hätte Schuld am Tod der Mutter, konnte sie das auch irgendwie verstehen. Er hatte sich zwar nach diesem Unfall sehr um seine Tochter
gekümmert, hatte aber immer ihre stumme Anklage gespürt. Und so waren die Jahre vergangen. Vater hatte nie wieder geheiratet.
Iris wandte sich vom Fenster ab. Was sollten diese Gedanken? Morgen würde sie Jonas heiraten und ein neues Leben mit ihm beginnen. Ihren Vater würde sie nur noch gelegentlich sehen, also was soll’s? Tief aufatmend überlegte sie, was noch zu machen sei, vor dem großen Tag. Sie legte ihr Brautkleid, was wunderschön war, bereit. Dazu die Schuhe. Als alles beieinander war, atmete sie zufrieden auf. Als Schmuck wollte sie nur eine Kette tragen. Auch
diese legte sie zu ihrer Hochzeitskleidung.
Am Abend saßen Jonas und Iris noch mit ihrem Vater und einigen Gästen bei einem Glas Wein zusammen. Oma Liesel war im vergangenen Jahr verstorben. Sie fehlte Iris auch sehr, war sie doch die letzte Verbindung zu ihrer Mutter gewesen. Schluss jetzt mit diesen Gedanken. Iris strich über ihre Stirn und verabschiedete sich von ihren Gästen, den Schönheitsschlaf vor schiebend. Sie war auch wirklich sehr müde. Jonas schlief ja sowieso in einem anderen Zimmer. Das war nun mal so Brauch und Iris bestand darauf. Als sie sich in das Bett legte, merkte sie erst,
wie müde sie war. Gleich darauf fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Am Morgen wurde sie wach. Was sie geweckt hatte, war ihr unklar, aber sie war noch ziemlich müde, so viel war sicher. „ Guten Morgen“, ertönte eine weibliche Stimme, die ihr ganz vage bekannt erschien. Die Frau stand vor ihrem Bett und hielt Iris ihren Bademantel hin. „Ich möchte mich erst einmal vor stellen, “ begann sie.“ Ich heiße Inge. Ihr Vater hat mich gebucht, damit ich ihnen bei den Vorbereitungen zur Hochzeit helfe.“ Iris staunte, so viel Weitsicht, hätte sie ihrem Vater gar nicht zu getraut. Inge flitzte hin und her,
ganz als ob sie hier zu Haus wäre. Sie hatte ein wunderschönes, buntes Seidenkleid an, was ihr vorzüglich stand. Dazu trug sie weiße Pumps mit einem kleinen Hacken. Iris musste zu geben, dass ihr die Frau sehr symphatisch war. Bevor sie zur Tat schritten, wurde Iris von Inge zu einem kleinen Tisch geführt. Dort war ein nettes Frühstück angerichtet. Die beiden Frauen setzten sich und Iris langte ordentlich zu. Es würde lange dauern, bis sie heute wieder etwas Richtiges zu essen bekommen würde. Iris schätzte Inge im Stillen, auf ungefähr fünfundvierzig Jahre. Ihr Gesicht war sehr schön und sie gefiel Iris. Sie war
ihr sofort vertraut gewesen. Nach dem duschen, half Inge ihr in das Kleid. Iris sah wie eine Prinzessin aus. „Wunderschön sind sie“, sagte, Inge und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Iris sah es und umarmte die andere. Auch sie war sehr bewegt. Dann wurden ihre Haare gelegt. Auch das fiel durch Inges offensichtliches Geschick super aus. Bewundernd sah Iris sich im Spiegel an. Inge richtete noch eine Locke und legte Iris dann die Kette um den Hals. Beim Schließen des Hakens fiel Iris der elegante Ring auf, den Inge am Finger trug. Er war wunderschön. „ Inge“, flüsterte sie, „der ist ja wundervoll.“ Diese sah den Ring traurig
an. Lange schwieg sie. „Den hat mir mein Mann geschenkt, als ich ihm erzählte, dass wir bald ein zweites Kind bekommen würden.“ Iris sah die ältere an. „Was ist passiert, “ fragte sie schließlich, als sie die Trauer der anderen Frau sah.“ Einen Tag, nachdem ich es meinem Mann erzählt hatte, rief er mich an und verabredete sich mit mir in der Mittagspause. Er holte mich dann mit seinem Auto von meiner Firma ab. Wir fuhren zu dem kleinen See, an dem wir uns kennen gelernt hatten.Dort nahm er mich in den Arm und gab mir dann eine kleine Schachtel. Als ich sie öffnete, fand ich diesen Ring. Das war sein Dank an mich, weil ich ihm noch ein
Kind schenken wollte. Glücklich fuhren wir zurück in die Stadt. Noch einmal wollte ich mir den Ring ansehen, denn er war wirklich wunderschön. Von Freude übermannt, fiel ich ihm um den Hals, ungeachtet dessen, dass er ja den Wagen lenkte.“ Iris erstarrte. Dann sah sie Inge an und hob in höchster Verzweiflung ihre Schultern.“ Und dann?“ Inge sah sie lange an und fragte dann „Iris hast du noch nicht verstanden? Ich bin Deine Mutter.“ Diese sah sie an, ohne zu begreifen. Schließlich sagte sie leise: „Aber bist Du denn nicht bei dem Unfall gestorben?“ „Doch“, sagte Inge sehr leise. „Ich bin nur kurz gekommen, um
dir das zu erzählen. Dein Vater hatte keine Schuld an dem Unfall, das musst du mir glauben. Wenn hier überhaupt einer Schuld hat, dann bin ich das und niemand anderes. Um dir das zu sagen, bin ich hier". Lange war es still. Nur das Schluchzen der Frauen durchdrang die Stille. Dann ging Inge zu Iris, nahm ihre Hand und steckte ihr den Ring an den Finger. „Der wird nun Dir gehören, mein Kind und Dir für alle Zeit Glück bringen.“ Dann nahm sie Iris fest in ihre Arme. „Leb wohl mein Kind.“ flüsterte sie in ihr Ohr. Iris wollte etwas sagen, aber plötzlich wurde sie sehr müde. Dann löste sich alles in Nebel auf.
Etwas kitzelte Iris an der Nase. Sie öffnete die Augen. Jonas beugte sich über sie und schaute liebevoll in ihr Gesicht. „Sag mal du Schlafmütze, willst Du nicht auf stehen? Ich kenne eine junge Dame, die heute heiraten will. Oder hat die junge Dame es sich anders überlegt?“ Iris schüttelte lächelnd ihren Kopf. Dann fanden sich ihre Lippen zu einem langen Kuss. Dann sprang sie mit einem eleganten Satz aus dem Bett. Sie musste ja noch…. Plötzlich erstarrte sie mitten in der Bewegung. Warum lag sie denn eigentlich im Bett? Sie war doch schon angekleidet gewesen und wo war Inge? Iris verstand rein nichts. Total
durcheinander sank sie in den Sessel vor ihrem Spiegel. Jonas sah sie verdutzt an. Er konnte sich das seltsame Benehmen seiner zukünftigen Frau nicht erklären. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, bat sie Jonas, sie noch ein paar Minuten allein zu lassen. Der entsprach ihrem Wunsch, sah sie aber beunruhigt an. „Ist alles in Ordnung mit Dir Iris?“ Iris lächelte ihn an. „Es fängt doch jetzt ein neues Leben für mich an und da muss ich noch einiges in meinem Kopf ordnen,“ sagte sie. Jonas lächelte. Das konnte er gut verstehen.
Allein gelassen, versuchte Iris ihre Gedanken etwas zu sortieren. Wie war das nur? Natürlich, die fremde Frau
hatte plötzlich vor ihrem Bett gestanden, sich mit dem Namen Inge vor gestellt. Sie war ihr beim Ankleiden behilflich. Dann sagte sie noch etwas Seltsames. Iris überlegte, was war das nur? Dann durchzuckte es sie. Ja, sie hatte gesagt, sie sei ihre Mutter. Jetzt plötzlich fiel Iris wieder alles ein. Was war das für ein herrlicher Traum. Iris seufzte, aber eben nur ein Traum. Als sie später in ihrem Brautkleid so vor dem Spiegel stand, dachte sie noch einmal an diese seltsame Frau, die ihre Mutter sein wollte. Schlagartig fiel ihr auch wieder der wunderschöne Ring ein, den die Frau trug und ihn dann ihr, Iris, geschenkt hatte.Erledigt, jetzt war keine
Zeit mehr zum träumen, alle warteten auf die Braut.Dann fiel ihr noch etwas ein. Sie griff zu ihrer Kette, um sie an zu legen, aber ihre Hand blieb wie starr in der Luft hängen. Was war das denn? Neben ihrer Kette lag der Ring, den Inge ihr im Traum geschenkt hatte.
Zögernd griff Iris danach und streifte ihn über ihren Finger. Ein Gefühl der Wärme und des Verstehens überkam sie. „ Danke Mami,“ sagte sie leise. Lächelnd ging sie zu Jonas und den anderen Gästen.
Ihr Vater sollte sie in die Kirche führen, wo Jonas schon am Altar auf sie warten würde. Aber Iris hatte noch etwas
wichtiges zu erledigen. Sie ging auf ihren Vater zu, blickte ihm liebevoll in die Augen und fiel ihm um den Hals. Dieser drückte sie sehr berührt an sich. „Alles Liebe und Gute für dich, mein Kind,“ flüsterte er ihr zu, dann zog er ihre Hand an seine Lippen. Dabei fiel sein Blick auf den Ring, den Iris trug. Ein seltsames Lächeln zog über sein Gesicht. „Danke,“ sagte er sehr leise. Dieser Dank galt aber nicht Iris.
ENDE