Romane & Erzählungen
Nachtzug - 5 Kurzgeschichten

0
"Komplettfassung"
Veröffentlicht am 29. November 2013, 74 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Eigentlich nur ein ganz normaler Nerd, der Technikbegeistert ist und viel zu viel Zeit damit verbringt, Dinge zu tun, die ihm Spaß machen, aber kein Geld bringen :) Nebenher noch Kunst und Kultur-begeistert, Naturliebhaber, ehrenamtlich tätig und irgendwie nie richtig erwachsen geworden. Aber wer will das schon!
Komplettfassung

Nachtzug - 5 Kurzgeschichten

NACHTzug

Nachdem die Einzelteile ja nun schon etwas länger hier zu finden sind, gibt es nun die komplette Kurzgeschichten-Sammlung aus dem Nachtzug am Stück, kompakt und ungeschnitten!


Wenn ihr mich unterstützen wollt, das gute Stück gibt es jetzt auch als Ebook zu erwerben. Einfach bei Amazon nach Janos Nibor suchen


Großer Dank geht an Roko und Cosi, die lektorisch die gröbsten Schnitzer ausgebügelt haben und an alle bisherigen Leser! (und Zukünftigen) Janos, 29.11.13

PROLOG

Es ist der letzte Zug in dieser Spätsommernacht. Auch wenn man es von innen nur erahnen kann, riecht die warme Luft dort draußen, durch die sich monoton surrend die Bahn bohrt, nach Herbst. Sicherlich, immer noch vermischt mit milden Düften von Blüten, von saftigem Grün, welches am Tage hungrig die Sonnenstrahlen aufgesogen hat, und nun die Energie dankbar wieder an die Nacht abgibt. Es riecht nach Leben hinter der Scheibe, und dennoch hängt unverkennbar Melancholie mit darin, das letzte, kräftige Ausatmen des sich neigenden Sommers, der bald das Zepter an die kühleren Jahreszeiten abgeben

wird. Drinnen aber, im gut ausgeleuchteten und klimatisierten Abteil, ist davon nichts zu spüren. Die Fenster dienen hier nicht zur Belüftung, es gibt keine Griffe, mit denen man sie öffnen und die Welt dort draußen herein bitten könnte. Hier existiert eine eigene Welt, eine kleine, stille, ein Mikrokosmos, beherrscht von weißem Licht, neutralen Farben und einer Handvoll Menschen. Wo sich am Tage unentwegt Reisende tummeln, jeder Platz in Windeseile wieder besetzt ist, jedes noch so kleine Fleckchen Leere durch Koffer und Taschen, Mäntel und Tüten, Rucksäcke und Schulranzen belegt wird, ist nun Stille. Nun, wo die Pendler längst

ihrem nächsten Arbeitstag entgegen schlafen, wo Nachtschwärmer noch in ihren Tanzlokalitäten oder Bars verharren, herrscht gespenstische Ruhe im fast unbesetzten Abteil. Nur wenige sind um diese Zeit noch unterwegs, und auch wenn sie es vielleicht nicht wissen, ist dies der letzte Zug in dieser Nacht, die letzte Möglichkeit an ihr Ziel zu kommen, ohne auf den Morgen warten zu müssen. Draußen zieht haltlos die Welt vorbei. Das Sonnenlicht hat sich schon längst verabschiedet, um anderen Erdteilen Leben einzuhauchen. Hier herrscht die Nacht, nur durch eine Glasscheibe von der Handvoll Seelen im Inneren getrennt, zum Greifen nah,

aber flüchtig und, so lange der Zug unbeirrt die Fahrt fortsetzt, unerreichbar. Mittlerweile hat er den schützenden Bahnhof hinter sich gebracht. Ein Blick aus dem Fenster offenbart eine schier grenzenlose Wüste aus Licht, als wolle sich die Zivilisation tapfer der allmächtigen Finsternis entgegen werfen, sie mit großem Aufwand in einen immer währenden Tag verwandeln. Jede Straße ist hell erleuchtet, für die wenigen Autos und ihre Besitzer, die sich hier tummeln, muss es wirken, als würde die große Stadt nur ihnen allein gehören. Ein kleiner Traum von Freiheit, Einsamkeit, unendlich viel Platz, und das mitten in der sonnst so vollgestopften Metropole. Plötzlich

sind alle Wege offen, kein Stau, keine Schlangen vor Ampeln mehr! Leider sind Züge da weitaus beschränkter, was die Bewegungsfreiheit angeht, und dem Menschen daher im Grunde nicht unähnlich. So lange sie auf den vorgefertigten Gleisen fahren, den Pfad beschreiten, der ihnen geebnet wurde, so lange sind sie, verhältnismäßig, zuverlässig, schnell und zielstrebig. Dennoch gibt es Situationen im Leben, selten in dem eines Zuges, oft aber in dem eines Menschen, an denen plötzlich die Gleise verschwunden sind, der Halt wegbricht und die Fahrt vorerst im Schotterbett endet. Die letzten Fahrgäste dieser Nacht sind still, niemand spricht, nur selten ein Räuspern.

Jeder in seiner eigenen, kleinen Welt, so weit es geht voneinander getrennt. Einige von ihnen sind sogar so sehr bemüht, sich dort hin zu flüchten, dass sie selbst kaum noch sichtbar sind, wie Schatten wirken. Der letzte Zug hat Fahrt aufgenommen, bohrt sich in die immer dichter werdende Dunkelheit - und wir begleiten ihn.

Versprechen

Die nächtliche Stadt strahlt eine eigenartige Kälte aus und schwindet, schrumpft, von Minute zu Minute. Die grauen Fassaden, hier und da erhellt durch gleißend weiße Scheinwerfer, fast verwaiste Straßen, dort wo am Tage sich die Autos stapeln. Alles scheint unwirklich, wenn man das geschäftige Treiben kennt, das hier noch vor ein paar Stunden, bis zum Einbruch der Dunkelheit herrschte. Bürogebäude werben mit leuchteten Logos für die ansässigen Firmen, in wenigen davon brennt sogar noch Licht. Oder wieder? Was treibt Menschen dazu, bis in die Nacht hinein zu arbeiten? An all dem zieht der Zug unberührt vorüber, als wäre es

ihm egal, was es wahrscheinlich auch ist. Ganz in vorderster Reihe, möglichst nah beim Ausgang, als wenn er sich jeder Zeit die Möglichkeit zur Flucht offen halten wollte, sitzt ein grau anmellierter, hoch gewachsener Mann im feinen Anzug. Er ist müde, daran kann kein Zweifel bestehen, denn obwohl er immer wieder dagegen ankämpft, rutschen ihm zu oft und gefährlich lang die Lieder über die Augen, verharren in Ruhestellung, bis dessen Träger sie erschrocken wieder aufreißt. Er will nicht schlafen, er darf es nicht, die nächste Station wird seine sein, noch eine Hand voll Minuten muss er durchhalten, wach bleiben. Gelingt ihm das nicht, rast der Zug mit ihm weiter. Woher soll

der auch wissen, das im Inneren jemand sitzt, der sein Zuhause gerade an sich vorbei rauschen sieht? Oder auch nicht, da er längst ins Land der Träume entschwunden ist. Sein Tag war lang, viel zu lang. Um genau zu sein, umfasste er schon fast zwei Tage, denn die Mitternacht haben wir längst hinter uns gebracht. Gestern also war ein langer Tag. Nicht nur gestern, wohl gemerkt, denn seit er den Posten inne hat, für den er nun schon ein halbes Arbeitsleben kämpft, werden die Tage auffällig lang, die Nächte dafür um so kürzer. Gestern früh hat er sich von Marie verabschiedet, mit einem Versprechen auf den Lippen. Sie lag noch im Bett, wie fast

immer wenn er das Haus verlässt. Er hat sie zärtlich über die Wange gestreichelt, ist in einem flüchtigen Anfall von Müdigkeit noch ein Mal kurz zusammen gesackt, so das seine Stirn auf ihrer zum Ruhen kam. Eine Szene, bei der man vermuten könnte, es fände ein Gedankenaustausch statt, geheim und nur durch Berührung. Wortlos. Genau so gab er ihr auch sein Versprechen, ohne ein Wort, aber mit einem Blick, den sie nur zu gut kannte. Schon seit Wochen wollten sie wieder einmal zusammen ausgehen, der Inder nebenan, das kleine, gemütliche Café mit den bunten Stühlen vor der Tür, nur ein paar Straßen weiter, für beide ein erinnerungsträchtiger

Ort. Oder einfach nur die Bank im Park, direkt hinter ihrer Wohnung. So wie sie es früher immer getan hatten. Egal, der Ort würde keine Rolle spielen, nur die Zweisamkeit, die sie nun schon bald zwanzig Jahre verband, bedurfte dringend einer Erneuerung, nur sie wäre wichtig. Was eignete sich dafür passender als ein lauer Spätsommerabend? Marie wusste mittlerweile nur zu gut, was sie von seinen Versprechen zu halten hatte. Sie wusste dass er es wollte, dass er es versuchen würde, dass er scheitern würde. Irgendwann in der Nacht, nicht mehr lang bis der neue Tag anzubrechen drohte, käme er wie ein reumütiger Sünder in ihr Bett zurück

gekrochen, welches den einzigen Berührungspunkt der beiden darstellte. Sie würde sich, wie immer, an ihn schmiegen, ihn wärmen, umklammern. Loslassen war keine Option, aufgeben auch nicht. Er würde eingeschlafen sein, bevor auch nur ein einziges Wort gewechselt werden konnte. Und er würde es wieder versuchen, den Spagat, das Unmögliche, für sie, ganz allein für sie. War das wirklich er? Hatte er eigentlich nicht viel mehr gewollt damals? Ein wunderschöner Traum, kreativ sein, unabhängig und frei, und dennoch auf alle Zeiten mit der Frau an seiner Seite, der er schon viel mehr versprochen hatte, früher, als alles noch jung und unbeschwert war. Wo

war das verträumte, kleine Haus am Fluss, welches sie in Gedanken schon tausende Male gebaut und eingerichtet hatten? Ab wann war alles so kompliziert geworden? Nun saß er, seine schwarze Aktentasche mit den silbernen Seitenschienen noch fest umklammert, zusammen gesunken im blauen Sitzbezug, kämpfte in jedem Augenblick nicht nur gegen die Müdigkeit sondern auch für Marie, für seinen Job, und gegen sich selbst. Irgendwann wird er den letzten Zug verpassen, den er heute nur noch mit Mühen erreicht hat, in einer Nacht, die schon lang nicht mehr ihm gehörte, nicht heute und nicht gestern ist, nur eine Zwischenstation vor dem Morgen.

verlieben

Die letzten Lichter der Stadt dort vor dem Fenster sind fast erloschen, immer spärlicher werden die Häuser, deren Anwesenheit man nur erahnen kann. Manche sind noch erhellt von Straßenlaternen, die ihr orangefarbenes Licht energisch der Dunkelheit entgegenstrecken. Sie sehen traurig aus, lassen die Köpfe hängen, als würde die Last der Nacht auf ihnen liegen und sie zu Boden biegen. Das was sie aus der Schwärze reißen, leuchtet nicht mehr von selbst, kaum noch ein Fenster ist erhellt, nur sehr selten kann man erahnen, das dort noch jemand wach ist, lebt und der Nacht trotzt. Friedlich verschwimmen die Konturen ineinander, je

schneller der Zug fährt. Lichter wechseln sich mit undurchdringlicher Dunkelheit, immer unregelmäßiger, immer schwächer, bis sie ganz erlöschen, bis es nichts mehr gibt, was es zu erhellen lohnt. Eine Vierer-Sitzgruppe wird im Abteil von einem Pärchen beherrscht. Sie nehmen Platz ein, doppelt so viel wie ihnen eigentlich zusteht, und wenn es ginge, hätten sie am liebsten wohl diesen Teil des Zuges für sich allein. Vor ihnen liegt noch ein langer Weg, ein ganzes Dutzend Haltestellen müssen sie an sich vorüber ziehen lasen, bevor sie ihren Zielbahnhof erreicht haben. Er, ein schlaksiger, etwas unaufgeräumter Strubbelkopf, die knielangen Hosen leicht

verschlissen, den Bart vernachlässigt, ob aus purer Absicht, oder einfach, weil es nicht wichtig ist. Sie, elegant gekleidet mit einem luftigen, sonnengelben Sommerkleid, aber im Inneren nicht weniger unaufgeräumt wie der Mann, an dem sie sich nun im Schlafe fest klammert, auf dessen Brust ihr Kopf ruht. Auch für die beiden war es ein langer Tag, der Gestrige. Begonnen hat er mit einem ausgedehntem Frühstück auf der kleinen Sitzbank ihres Balkons. Noch etwas Kühle hing in der Luft, die Sonne wachte selbst schon lang nicht mehr so zeitig auf wie noch vor ein paar Wochen, und hatte immer mehr Mühe, aus dem angebrochene Tag einen sommerlichen zu kreieren. Nat King Cole

erfüllte die Morgenluft aus dem Inneren der kleinen Wohnung heraus mit Magie, indem er unvergessliche Momente besang, und diesen gleich mit einreihte, ihn ebenso unvergesslich machte. Wie gesagt, es war noch kühl, um ihre Schulter hatte die junge Frau daher seinen Pullover gelegt, oder besser, er hatte sie damit bedeckt, saß leicht fröstelnd neben ihr und freute sich über seine heroische Tat, ohne es sich anmerken zu lassen. Ihr erster, gemeinsamer Urlaubstag ihres ersten, gemeinsamen Urlaubs. Das bedurfte einfach eines Balkon-Frühstücks, ohne Frage. Später konnte man sie durch die Stadt laufen sehen, fest aneinander geklammert, als ob

nichts sie trennen könnte. Sie redeten, schwelgten in Träumen, malten bunte Bilder in den Wind, voll von Zukunftsphantasien. Ein Spätsommertag nur für sie, die Stadt ihr Spielplatz, kein Plan, kein Ziel. Sie durchstreiften Gassen, blieben an Schaufenstern stehen, fielen hungrig bei einem kleinen Italiener ein, der unverschämt gute Teigwaren mit unglaublich viel Belag kredenzte, und verkrochen sich zum Mittagsschlaf im Park. Der schattenspendende Baum, der ihr Dach für die nächsten Stunden sein sollte, zeigte schon die ersten Anzeichen von Verfärbung, hier und da konnte man ein gelbes Blatt sehen, oder eines, das sich gerade im Sterben befand. Als der Park sich immer mehr

zu füllen begann, brachen sie wieder auf, getrieben von einer unsichtbaren Kraft, ausgeschlafen und unendlich nah. Würde man sie jetzt, hier in dem Abteil fragen, wohin sie ihr Weg in der zweiten Tageshälfte führte, welche Straßen sie passierten, wo sie zu Abend aßen, sie würden uns nur stirnrunzelnd anschauen. Zumindest gelangten sie, wie von Geisterhand geführt, irgendwann wieder zum Bahnhof zurück, nur wenige Minuten bevor der letzte Zug des Tages seine eigene Reise beginnen sollte. Erst hier brach die Erschöpfung über sie herein. Wie eine riesige Hand, die sie zu Boden drückte.

Sie waren meilenweit gelaufen, ohne es zu merken, nun fiel alle Restenergie von ihnen ab, sobald sie in die Sitze gesunken waren. Er, der Schlaksige, dessen leuchtend grünes Shirt hiroglyphenartige Verzierungen darbot, immer noch der Held vom Vortag, immer noch bis über beide Ohren verliebt in die junge, schlafende Frau, deren Haar er nun sanft streichelte, während er selbst immer tiefer in den Schlaf sank. Er kannte sie nun schon ein halbes Jahrzehnt, verlor sie immer wieder aus den Augen, aber wie verbunden durch ein riesiges, unsichtbares Gummiband, fanden sie früher oder später immer wieder zusammen. Nur dass es dieses Mal anders

war, neu und unbeschreiblich. Nun liegt sie schlafend auf seiner Brust, er spürt wie sie langsam und ruhig ein- und ausatmet, wie mit jedem Luftholen die Welt um sie herum mehr verschwimmt und die Zeit ihre eigenen Regeln zu schreiben beginnt. Wie so vieles in diesen Tagen spielt auch das keine Rolle, ihr Ziel ist auch das Ziel dieses Zuges, die Endstation. Weiter wird es für das Stahlross nicht gehen, dort hören die Schienen und die Möglichkeiten auf, von dort an geht es nur wieder zurück. Das Pärchen hingegen hat das Wort "zurück" aus ihrem Wortschatz vorübergehend verbannt, sie hatten an dem Tage tausende Wege begangen, und noch Abertausende liegen vor

ihnen, viele davon Sackgassen, Einbahnstraßen. Einige aber, die es zu finden gilt, reichen über den Horizont hinaus.

verletzen

Wir haben einen Begleiter. Seit geraumer Zeit schlängelt sich eine spärlich beleuchtete Straße neben der Bahnstrecke durch die Landschaft, kommt mal näher, fast nah genug um die vorbeifliegenden Ortsschilder lesen zu können, und geht dann wieder auf Abstand. Um diese Uhrzeit ist sie wie leer gefegt, lediglich ein recht klappriges Auto hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich mit dem Zug zu messen. Hin und wieder kommt es ins Blickfeld, nur zwei weiße Augen die einen Teil des Asphalts beleuchten, prescht voraus, und lässt dabei zwei rote Streifen aus Licht hinter sich. Dann fällt es wieder zurück, gebremst durch unübersichtliche Kurven oder

lästige Schilder. Eine ganze Weile geht das Spiel so weiter, als wolle es der kleine Haufen Blech, sich mühsam seinen Weg durch das Schwarz der Nacht bahnend, mit dem Stahlkollos neben ihm aufnehmen. Irgendwann dreht die Straße ab, verzweigt sich in einem losen Netz aus schlafenden Häusern. Nun sind wir wieder allein. Auf einer Zweier-Sitzbank, kaum erkennbar für den unaufmerksamen Beobachter, hat sich ein junges Mädchen verkrochen. Sie drängt sich in die Sitze als wolle sie am liebsten im Polster verschwinden, eins mit der Bank werden, die Füße trotzig an die Rücklehne des Vordersitzes gestemmt. Auf dem Platz daneben steht ihre kleine, braune

Wildledertasche, bestickt mit silbernen Perlen. Damals ein Geschenk, nun ein Hort für alles was ihr momentan noch wichtig ist. Ihr Tag war ein Alptraum. Man könnte versuchen es schöner zu umschreiben, aber im Endeffekt bleibt von ihm nur ein Tränenmeer im Gedächtnis. Das Mädchen, eigentlich bevorzugt sie „junge Frau“, was durchaus gerechtfertigt erscheint, ist auf dem Weg nach Hause. Obwohl sie, wenn alles nach Plan gelaufen wäre, stattdessen in den Armen eines jungen Mannes liegen sollte, ihm durch die schwarzen Haare streifen... Nein, der Plan war gescheitert, auf ganzer Linie. Sicher, es begann gut, fast zu gut.

Nach wochenlangen Überlegen, Hadern und Ringkämpfen mit dem inneren Schweinehund, hatte sie es endlich gewagt. Wie immer stand er mit seinen Freunden, einer unausstehlicher und primitiver als der Andere, vor der Schule, unter dem großen Kastanienbaum mit der etwas altersschwachen Bank darunter. Aber anstatt, ebenfalls wie immer, so weiblich wie möglich an ihm vorbei zu gehen, in der wagen Hoffnung von ihm bemerkt zu werden, gemischt mit der Angst, dass er sie wirklich bemerkt, brach sie gestern aus dem Kreis aus.

Ein lockerer Stupser an seinen Arm genügte um seine Aufmerksamkeit zu bekommen und sogar ein überraschtes Lächeln von ihm. Fast wäre dies auch gleich wieder das Ende gewesen, die Knie gaben leicht nach, näher als jetzt war sie ihm noch nie gewesen, außer tausende Male in ihren Träumen. Nachdem dann doch das letzte Restchen Mut zusammen gekratzt war, zog sie ihn sanft aber bestimmt von den tumben Höhlenmenschen weg, denn dort war Reden nicht möglich. Sie fragte ob er noch Lust auf einen Kaffee hätte, drüben in dem kleinen Café gegenüber der Schule, er sagte spontan Ja, sie konnte seinen Blick nicht

deuten, er verstand sich gut darauf, undeutbare Blicke zu verstreuen. Sie tranken Kaffee, obwohl ihr ein Tee lieber gewesen wäre, aber Kaffee wirkt erwachsener, und das war sie ja schließlich, erwachsen, zumindest an der Schwelle dazu. Hin und wieder kam ein Gespräch auf, obwohl sie sich eingestehen musste, das es mehr als schwer war, ein paar vollständige Sätze aus ihm heraus zu bekommen, die dann auch noch Sinn ergaben. Aber er musste auch nicht reden, eigentlich war es sogar besser wenn er das nicht tat. Er musste nur umwerfend aussehen. Und damit hatte er deutlich weniger Probleme als mit der Artikulation.

Der Nachmittag verstrich im Tunnelblick, von ihm wird nur noch wenig bleiben. Schwarze Haare und hellblaue Augen. Über was sie geredet haben? Davon sollte keine Erinnerung mehr die nächsten Tage überstehen. Jetzt, noch etwas tiefer in den Sitz gesunken, weiß sie, das der Moment, als sie zusammen das Café verließen auch der Ideale gewesen wäre, den nächsten Zug zu nehmen und dem unübersehbaren Drama ein Ende zu setzen. Hinterher ist man immer schlauer. Er musste sie wohl gefragt haben, ob sie

noch mit zu ihm kommen wolle, auch daran verschwamm die Erinnerung zu schnell. Sie musste ja gesagt haben, denn nur wenig später fand sie sich auf seinem Bett wieder. So war das nicht geplant, zumindest nicht so schnell. Es sollte romantischer sein, liebevoller, vorsichtiger. Das hatte ihm wohl niemand vorher erklärt, dabei war er älter als sie, angeblich mit viel Erfahrung gesegnet. Die nächsten zwei Stunden waren ein Martyrium, ein Reigen aus Selbstdarstellungen und zerstörten Illusionen, gepaart mit Körperlichkeiten die keine waren. So wie das Mädchen an der Schwelle zur Frau nichts davon vergessen wird, wollen wir

nichts davon näher beschreiben. Letztendlich entkam sie in einem schwachen Moment der Unachtsamkeit, die unerfüllten Hoffnungen und Träume ließ sie in den zerwühlten Kissen zurück, floh ins Freie und merkte sogleich, das sie keinen Schimmer hatte, wo sie überhaupt war. Die abendlichen Straßen wurden immer leerer, dunkler, fremder. Jegliche Erinnerung an den Weg zu seiner Wohnung war noch überschattet von einer grauen Wolke aus Angst und Trauer. Sie lief, nur weg, einfach immer weiter, manchmal mit geschlossenen Augen, fast zu Tode erschöpft. Wie sie letztendlich dennoch den Bahnhof und den letzten Zug dieser Nacht erreichte war ihr ein Rätsel, aber irgendein innerer Instinkt musste sie wohl geleitet

haben. Schnell wie ein Schatten verkroch sie sich in einem Sitz, und versuchte sich sogleich so unsichtbar wie nur möglich zu machen. Der Weg nach Hause ist erst angebrochen, ein paar Stationen noch, zu viele, noch zu viel Zeit um nachzudenken. Tausende Bilder rauschen ihr durch den Kopf, verwoben mit wirren Gedanken. Nichts kann den Abend ungeschehen machen, nichts hebt die Enttäuschung auf, bringt die Hoffnungen zurück, die sie hatte, als sie ihn am Arm packte und von Seinesgleichen weg zog. Hin und wieder schleicht sich heimlich auch das Bild eines anderen, jungen Mannes ein,

irgendwo im Augenwinkel. Er scheint anders zu sein, etwas unscheinbarer, im Hintergrund, kaum beachtet. Sie kennt ihn, aber woher? Sitzt er nicht im Kunst-Kurs zwei Reihen hinter ihr? Er ist groß, größer noch als der grobschlächtige Frauenschwarm, aber zurückhaltender, dafür immer da, immer in ihrer Nähe, niemals nah genug. Noch nicht, aber vielleicht irgendwann?

verkennen

Es müssen Felder dort draußen sein. Weite Äcker, schon längst von der Ernte befreit, gelbe Stoppeln die sich zu Tausenden tot dem Nachthimmel entgegen recken. Schon bald sind sie untergepflügt, vergessen und Nährboden für eine neue Ernte, für ein neues Jahr. Nun sind sie unsichtbar, man kann sie nur erahnen, wenn man die Strecke kennt. Aber sie sind da, irgendwo da draußen, in der unendlichen Dunkelheit. Die Stadt liegt längst schon hinter uns, nur ein sehr schwacher, oranger Lichtteppich am Horizont, kaum noch auszumachen durch die energische Spiegelung der Leuchtstoffröhren im Inneren des Abteils. Wie wenig es doch

braucht, um die Stadt und das hektische Leben hinter sich zu lassen, dabei scheint sie so endlos, so alles beherrschend. Kaum ein paar Minuten, und sie ist verschwunden, als wäre all das nie da gewesen. Der Mann in der letzten Reihe des durch eine Glaswand geteilten Abteils, hat viel gesehen, in seinem bunten Leben. Manche beschimpfen ihn als "Penner" oder "Bettler", meist übersehen oder ignorieren sie ihn aber. Das schlohweiße, lange, leicht wellige Haar, nur notdürftig in einen Pferdeschwanz gezwungen, lässt ihn ein wenig älter wirken als er eigentlich ist, aber nicht viel. Keines der ungezählten Jahre ist an ihm spurlos vorüber gegangen, er trägt nicht wenige

Narben, und die meisten davon unsichtbar, tief verborgen in seinem Inneren. In seinem früheren Leben hatte er sich, statt des alten, zerschlissenen Mantels, in Designer-Anzüge gehüllt. Er war überaus wichtig, zumindest verdiente er so gut, das viele Menschen ihn für überaus wichtig hielten. Eigentlich hatte er alles. Eine Frau, die er liebte, eine berufliche Position, für die er hart gekämpft hatte, Geld und Ansehen, echte und falsche Freunde, von Letzterem deutlich mehr als er ahnte. All das hatte er verloren, oder nein, fasst alles, und eigentlich ist es ihm auch nicht verloren gegangen, sondern er hat es abgeschüttelt. Er ist aus der zu engen Schlangenhaut auf

allen Vieren heraus gekrochen, hat sich befreit, kurz bevor sie ihn ersticken konnte. Für ihn ist diese Zugfahrt nur eine kleine Etappe seiner Reise. Noch gestern stand er in der Fußgängerzone, ganz am Rande, direkt neben dem etwas herunter gekommenen Café, welches daher recht gut zu ihm passte. Und er tat dort genau das, was ihn schon seit über zwei Jahrzehnten am Leben erhält: er malte. Wenn er sich dort niederließ wusste noch niemand, dass er in seinen zwei Taschen und dem schwarzen, zerschlissenen Aktenkoffer alles versammelt hatte, was man brauchte um Portraits von Menschen auf Papier zu

bannen. Eine kleine, ausklappbare Staffelei, einen ganzen Karton voller bunter Wachsmalstifte, manche schon bis auf einen Stummel abgewetzt, andere gerade frisch angebrochen. Dazu einen kleinen Schemel, ebenfalls klappbar, gerade groß genug um darauf platz zu finden. Sicherlich, keines großen Künstlers Ausrüstung, aber dafür die eines besonders begabten. Es läuft immer gleich ab, wenn er sich irgendwo nieder lässt. Zuerst sehen ihn die Menschen, wenn überhaupt, nur verächtlich an, tuschelten, tadelten ihn mit Blicken, weil er scheinbar schamlos zu betteln beginnt, mitten in der Einkaufsstraße. Manche, wenige, suchen nach dem kleinen

Pappbecher, in dem sie ihm ein paar Groschen werfen können, um ihr Gewissen zu beruhigen. Vergebens, denn er bettelt nicht. Erst wenn er beginnt die Staffelei aufzubauen, wird aus dem vermeintlichen Penner ein Künstler, beginnt die träge Passantenmasse sich in Publikum zu verwandeln. Ab dann geht alles wie von selbst, der erste Kunde ist nach kurzem Zögern gefunden, die Hände des Malers fliegen über das Papier, Farben vermischen sich, Konturen entstehen, und ehe man weiß wie, ist die hübsche, junge Frau, die erste Mutige von vielen an diesem Abend, auf Papier gebannt. Er hat nichts geschönt, nichts ist übertüncht

oder weggelassen, jeder Makel, aber auch jedes noch so kleine, wunderbare Detail ist korrekt platziert. Bis dann irgendwann das letzte Bild gemalt ist, bis aus dem bestaunten und gefeierten Kleinkünstler wieder ein alter, zerschlissener Landstreicher geworden ist, vergehen viele Stunden. Am Ende des Tages wird er dann wieder sorgfältig alles an seinen vorbestimmten Platz verpacken, die Wachsstifte in eine silberne Box, den kleinen, ausklappbaren Schemel in die gelbe Tasche, die übrigen Bögen Papier zusammengerollt in eine Papp-Röhre. Dann steht nur noch die Staffelei dort, nun vollkommen nackt und arbeitslos, fast sinnbefreit. Bevor er diese

ebenfalls zusammen klappt, liest er die kleine, mit rotem Wachsmalstift geschriebene Widmung auf der rauen Unterseite. Spätestens dann umspielt seine alten Lippen ein wohliges Lächeln, und das Heimweh kriecht in seine Knochen. Es wird Zeit. Vorher stattet er dem kleinen Café immer einen Besuch ab, ein Ort der in seinem Leben schon mehrmals Angelpunkt seiner Welt gewesen war. Er trinkt immer einen schwarzen Tee mit Honig, redet mit dem fast genau so alten Mann hinter dem Tresen über alte Zeiten, über unliebsame Veränderungen und Dinge die, Gott sei Dank, unveränderbar sind. Dann geht er wieder, der letzte Zug wartet nicht und sein Weg hat gerade erst

begonnen. Fürwahr, er ist ein großer Künstler. Kaum jemand weiß aber, dass er eigentlich ein Sammler ist, und nur in zweiter Linie ein Maler. Jeder Mensch der sich von ihm porträtieren lässt, beginnt früher oder später, den Künstler in ein Gespräch zu verwickeln. Es ist nicht so, als ob dieser viel dazu beitragen würde, ein paar Antworten hier, ein paar kleine Fragen dort, hin und wieder ein zustimmendes Nicken oder auch nur ein Lächeln auf den alten, runzligen Lippen. Recht oft zupft er sich auch nur am weißen Rauschebart, denkt über das nach, was gesagt wurde, und konzentriert sich dann einfach wieder auf seine Arbeit. Am Schluss

aber hat der überwältigte Passant, der sich ganz kurz ein Mal als Modell fühlen durfte, ein Kunstwerk in den Händen. Der alte Mann aber bekommt als Gegenleistung gleich zwei dinge: Geld, so viel es dem Porträtierten angemessen erscheint, und eine Geschichte, ganz umsonst dazu. Manchmal zum Weinen, manchmal voll Witz, oft nur ein paar Plattitüden oder Binsenweisheiten, aber immer wieder einzigartige Details aus dem Leben des nun plastisch gewordenen Menschen, welchen er gerade zweidimensional verewigen durfte. Vom Geld, was er an diesem Tag verdient hat,

nur einem einzigen Tag in der Woche, selten zwei, zählt er lediglich das ab, was er für die Weiterreise benötigt. Den Rest verstaut er in seiner kleinen, roten Dose, ungezählt, und diese dann im Rucksack, recht weit unten. Die Geschichten allerdings, und die Menschen dahinter, sie werden für die kommenden Stunden seine Begleiter sein, er wird sie sich wieder und wieder ins Gedächtnis rufen, wird sie den Gesichtern zu ordnen, zu denen sie gehören. Und auch den Bildern, die er von ihnen gemalt hat, welche erst Leben bekommen haben, weil er das Gehörte auf wundersame Weise mit eingewebt hat in die Farben und Formen. Für ihn ist dies nicht der letzte Zug in dieser

Nacht, dort wo das junge Pärchen, nur ein paar Reihen weiter vorn, ihr Ziel finden wird, ist für ihn nur eine Zwischenstation, wartet der nächste Zug bereits, wenn alles nach Plan läuft. Erst am Ende dieses, gerade erst angebrochenen Tages, wird er dort ankommen, wohin er immer wieder zurückkehrt. Egal wie lang er fort war, egal wie weit ihn die Beine getragen haben, und wie groß die Mühen waren. Er wird mit ihr auf der kleinen Bank hinter dem Haus sitzen, den Wellen zusehen, und all die Geschichten der Menschen erzählen, die er porträtieren durfte. Er wird seinen Schatz vor ihr ausbreiten, bis tief in die Nacht hinein, und sie wird gespannt zuhören, in löchern und ausfragen, bis sie in seinen Armen

eingeschlafen ist, so wie früher, so wie immer. Irgendwo auf dem Küchentisch wartet dann noch mehrere Tage lang eine kleine rote Dose darauf, geöffnet zu werden. Ihr Inhalt wäre in seinem früheren Leben zählenswert gewesen, investierenswert in Aktien und Anleihen. Wie weit das doch alles zurück lag. In wenigen Wochen vollendet seine Enkelin ihr erstes Lebens-Jahrzehnt, vor einigen Tagen stand sie deshalb mit einer extra handgemalten Einladung vor ihrer Tür, nicht ohne Stolz in den großen, braunen Augen. So wird er den Rest der Dosenfüllung für neue Farben ausgeben und ihre erste, richtige Staffelei. Auch wenn er früher Beträge verschoben, kassiert und wieder

ausgegeben hat, die tausend Mal mehr wert waren, ist dies für ihn bei weitem die beste Investition, die er jemals tätigen kann. Denn obwohl sein Talent seine Tochter wohl übersprungen hat, steckt in der kleinen Josefine eine Künstlerseele, die es zu fördern und bewahren gilt. All das ahnt man kaum, wenn man ihn dort hinten sitzen sieht, das Gesicht dicht ans Fester gelehnt, der Blick irgendwo in der Ferne. Er hortet und hütet seine gesammelten Geschichten, er sieht die Nacht dort draußen nicht, die nur eine Scheibendicke entfernt an ihm vorbei gleitet, und dabei immer dunkler und unergründlicher wird.

verlieren

Unergründliche Schwärze. Nichts weiter ist bei einem Blick aus dem Fenster zu sehen. Nicht ein Licht, keine Andeutung einer Bewegung. Der Zug scheint mittlerweile quer durchs Nirgendwo zu gleiten, rings um ihn nur absolute Leere. Bald wird die Nacht durch ein Meer stechend weißer Laternen abgelöst werden. Die nächste Stadt, oder nennen wir es vorsichtiger, Ortschaft, ist nur noch wenige Minuten entfernt, der erste Halt, zumindest von einem Fahrgast sehnsüchtig erwartet. Die unzähligen Laternen, die dann die Nacht zum Halbtag machen werden, gehören zu einem Gewerbegebiet, geplant und gebaut scheinbar auf Vorrat, denn bisher

hat sich keine einzige mutige Firma dort angesiedelt. „Feld der tausend Lichter“ nennen es die Anwohner, auf der schier unendlich erscheinenden, ebenen Fläche gibt es nur frisch asphaltierte Straßen, alle paar Meter gesäumt vom frisch einbetonierte Laternen in futuristischem Design. Sonst nichts. Eine Geisterstadt, ein Friedhof ohne Tote, ein trauriger, gespenstischer Anblick. Als ob jemand über Nacht sämtliche Häuser verschleppt hätte. Aber von all dem ist jetzt noch nichts zu sehen, die unergründliche Schwärze hat den Zug noch fest im Griff und trägt ihn immer weiter. Die Müdigkeit steht der alten Frau ins Gesicht geschrieben, die es sich an einem

Fensterplatz gemütlich gemacht hat. Auch sie scheint eine Fernreisende zu sein, ein kleiner, sonnengelber Koffer liegt auf der Gepäckablage über ihr. Sie braucht auf Reisen nur wenig, was eines Koffers bedürfte, Eigentlich nur Kleidung, der Rest findet, wohl sortiert, in ihrer dunkelbraunen Handtasche platz, die sie fest umklammert hält. Auch wenn der Körper nun schon dabei ist, das achte Jahrzehnt auf dieser Erde hinter sich zu bringen, sogar ohne große Schwächen zu zeigen, blicken ihre Augen immer noch voller Neugier durch die Nacht. Man kann nur erahnen was sie dort im Dunkel sieht, was sie sehen will, was wichtig genug ist von ihr beachtet zu werden. Sie lächelt, müde aber zufrieden.

Es war eine denkwürdige Beerdigung, am Vortag, sehr besonders, so wie der Mann, der seine letzte Ruhe auf dem Friedhof der Stadt fand, die er immer am meisten geliebt hatte. Ihr Mann, viele, sehr viele Jahre lang. Hunderte Menschen waren gekommen um ihm die letzte Ehre zu erweisen, tausende wären es gewesen, hätte der kleine Friedhof sie aufnehmen können. Einige davon kannte er persönlich, ein paar mehr vom Sehen, der größte Teil aber war ihm unbekannt, oder wäre es gewesen, hätte er noch die Möglichkeit gehabt, das mitzuerleben. Es hätte ihn mehr als erstaunt zu sehen, wie viele Menschen von seinem Tot Notiz

genommen hatten, wie viele gekommen waren um ihn auf seiner letzten Reise zu begleiten. Die alte Frau stand während der Rede neben seinem Grab und sah erstaunlich gefasst auf den Sarg, der, unter den Worten von alten Freunden und Begleitern, in die kühle Erde hinab gelassen wurde. Im Hintergrund spielte ein kleiner Plattenspieler „Autumn Leaves“ und „Unforgettable“, zwei seiner liebsten Stücke des großen Jazz-Königs, und ein letzter Wunsch, den er vor seinem Tod gar nicht hätte äußern müssen. Sie hatte gewusst, dass dies einfach dazu gehören würde.

Sie hatte ihren Mann durch ein Leben begleitet, das man sich kaum verworrener und verrückter vorstellen mochte. Erst war er es, der sie aufgefangen hatte, dann bekam sie nicht nur ein Mal die Gelegenheit, sich dafür zu revanchieren. Sie blickte auf die vielen Bilder zurück, die er in ihren Erinnerungen hinterlassen hatte, während das was ein mal er war, dort verschwand, wo es angeblich her gekommen war. Warum aber sollte sie darum trauern? In ihren Augen, in ihrem Glauben, hatte er nur die alte Hülle abgeschüttelt und dort liegen gelassen, weil er sie nicht mehr benötigte.

Man mag darüber denken was man will, aber die alte Frau, die immer noch aus dem Fenster schaut und lächelt, sie weiß, dass es so ist, weil es nicht anders sein kann. Denn noch immer spricht sie mit ihm, noch immer antwortet er ihr, wenn auch anders, leiser. Sie weiß, dass er hier im Zug neben ihr Platz genommen hat und sie beobachtet, denn das ist es, was sie sieht, wenn sie hinaus in die Nacht schaut. Das ist es, was ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubert, ihre Züge noch etwas faltiger erscheinen lässt und sie dennoch um Jahre jünger macht. Sie sieht nicht in die Nacht hinaus, sie benutzt das unergründliche Schwarz als Spiegel, um IHN zu sehen, wie er

über sie wacht, so wie er es schon immer getan hat. Sicher, es tut weh, ihn nicht mehr berühren zu können, ihm nie wieder durch das weiße Haar streichen zu dürfen, seine Umarmungen und Küsse für immer verloren zu haben. Dennoch hat sie IHN nicht verloren, so lange sie sein Spiegelbild noch sehen kann, weiss das er nah ist und sie begleiten wird. Als die Beisetzung beendet war, am späten Nachmittag des gestrigen Tages, blieb sie als Einzige noch etwas länger am Grab. Alle anderen hatten sich zurückgezogen, um ihr ein paar Augenblicke zu geben, denn es gab noch etwas, was sie allein tun musste. Ein

eher symbolischer Akt, aber genau wie die Musik im Hintergrund, gehörte es einfach dazu. Er hatte ihr mehr gegeben, vor allem in den letzten Jahren, als sie ihm je hätte zurückgeben können. Aber es gab etwas, das so untrennbar zu ihm gehörte, dass sie es hier zurücklassen musste. Ihre Tochter hatte alles schon für sie hergerichtet, das Geschenk würdig verpackt, indem sie es mit einem Leinentuch umhüllt und mit einer festen Schnur zusammen gebunden hatte. Die alte Frau im langen, schwarzen Kleid griff zielsicher in ihre Handtasche und ohne lange darin gesucht zu haben, zog sie eine kleine Schere heraus. Wenig später war die Schnur Vergangenheit,

das weiße Tuch lag im grünen Gras. Sie klappte den hölzernen, dritten Fuß aus, so wie er es in seinem Leben tausende Male getan hatte und drückte die kleine, alte Staffelei ein paar Finger breit in die frisch aufgeschüttete Erde. Auf ihrer rauen Unterseite, die nun schon seit ein paar Wochen nicht mehr von Papier bedeckt wurde, standen immer noch die Worte „ich warte auf dich am Fluss, in Liebe, Marie“, mit rotem Wachsmalstift geschrieben, kaum verblasst, selbst nach über dreißig Jahren. Gleich darunter aber war nun in gelb noch ein Satz hinzu gekommen: „Vielen Dank, Opa, für alles. Deine Josefine“

EPILOG

Der Zug hat seine Endstation fast erreicht, wird allmählich langsamer, vorsichtiger. Bewohntes Gebiet, abertausende, schlafende Seelen. Nur noch ein Halt, dann wird seine Reise beendet sein. Schon sind die Lichter der Stadt zu erahnen, die Nacht wird erneut durchbrochen von spärlich beleuchteten Straßen, die uns nun wieder begleiten. Marie sitzt am Fenster und betrachtet mich im Spiegelbild, so wie sie es schon die ganze Fahrt über getan hat. Bald, wenn die Stadt die Dunkelheit vertrieben hat, wird sie mich kaum noch erkennen können. Wie schön sie doch ist, immer noch, trotz all

den Jahren die hinter ihr liegen, hinter uns. Gern hätte ich sie in den Kommenden, Letzten auch noch begleitet, nicht nur als heimlicher Beschützer der hin und wieder in einer Reflektion auftaucht. Aber das Leben hat seinen Preis gefordert, vor allem die erste Hälfte davon, und ich habe ihn gezahlt. Damals, als wir im Taumel der Liebe durch die Stadt geschlendert sind, ein Spätsommertag, genau wie heute, hätte ich mir nicht vor stellen können, wie es wäre, alt zu sein, und miteinander alt zu werden. Die Jahre verflogen, und plötzlich waren wir es. So wie sie mich jetzt sieht, seh ich sie auch, sehe wie sie einst war, und heute ist, alles zusammen, in einer Person.

Ich sehe das junge, unbeholfene Mädchen, verliebt in den größten Frauenheld der Schule. Sie erzählte mir von der Nacht mit ihm, ihrer Flucht und der grenzenlosen Enttäuschung. Ich erzählte ihr nicht von dem Taxi, welches ich gerufen hatte, um sie in der Nacht sicher zum Bahnhof zurück zu bringen. Bis heute erinnert sie sich nicht daran. Ich sehe die Frau, die mich, auch wörtlich, heraus gezogen hat aus dem Strudel, unter Tränen und mit der letzten Kraft, aller Kraft die sie auf bringen konnte. Die Frau die mich eines Abends in ihr Auto gesetzt hat, mit mir hinunter zum Fluss gefahren ist, um am Ufer

meinen teuersten Anzug, und den Inhalt der schwarzen Aktentasche mit den silbernen Streifen zu verbrennen, und mich danach ins Wasser stieß, nur um mich wenig später wieder heraus zu fischen. Ihre Methoden waren schon immer etwas unkonventionell, aber in dieser Nacht hat sie mir gezeigt, was wichtig war in meinem Leben, und was nicht. Das mein Leben wichtig war, nicht nur für sie. Gott war ich wütend gewesen, kurz bevor ich dann nass bis auf die Haut, erschöpft und unendlich müde zusammenbrach im Schilf. Sie war es, die mir die Staffelei geschenkt hat, signiert mit rotem Wachsmalstift, und sie war es auch, die mich dazu ermutigte, wieder mit dem zu beginnen, was ich immer schon

am besten konnte. In ihren Augen kann ich immer noch das wunderbare Feuer sehen, das Leuchten, als sie zum ersten Mal das kleine Haus am Fluss betrat, und sich sofort darin verliebte. Ich sah es noch tausende Male, immer wenn ich von meinen Reisen zurück kehrte, wenn ich ihr die Geschichten erzählte, die ich gesammelt hatte. Auch als Josi vor der Tür stand und uns einlud, mit ihrer kleinen, selbst gemalten Karte. Sie war so stolz. Nun ist sie auf dem Weg zurück, nach hause. Ich begleite sie, so lange es mir erlaubt ist, so lange ich es kann. Sie weiß, dass ich in ihrer Nähe bin, auch wenn sie mich nicht mehr berühren, und nur noch selten sehen,

oder erahnen kann. Sie ist immer noch stark, meine Marie. Der Zug hat den Bahnhof erreicht, fährt nur noch Schritttempo, bald wird er vollends zum Stillstand gekommen sein. Das Abteil ist leer, bis auf die alte Frau mit dem sonnengelben Koffer in der Hand, die sich bereit macht, diesen Ort zu verlassen, an dem sich all ihre Erinnerungen zusammen gefunden haben. Auf dem Bahnsteig genau gegenüber, macht sich ein anderer, letzter Zug auf die Reise, in die entgegengesetzte Richtung. Marie sieht noch ein mal zum Fenster hinaus und erblickt dort drüben, im hell erleuchteten Innenraum des Zuges, einen älteren Mann, der einsam in die Nacht hinaus schaut. Er lächelt still in

sich hinein, sein Blick im Nirgendwo. Im laufe seiner Reise wird er wohl auch den Raum mit Erinnerungen füllen, fast Vergessenes wieder zum leben erwecken. Ich vermag nicht zu sagen, ob er auch einen Begleiter hat, oder eine Begleiterin, im Spiegelbild, aber ich kann es ihm nur wünschen. Es muss immer einen letzten Zug geben, er ist der Anfang der Stille, der Wächter der Nacht, bis der Morgen kommt, und ein neuer Tag anbricht. So wie es unzählige Tage davor geschah, und sich vermutlich noch für lange Zeit wiederholen wird. Immer werden in seinem Inneren Menschen zu finden sein, deren Leben irgendwann aus den Gleisen geraten ist. Und es wird andere Menschen

geben, die sich nicht nur auf das Reparieren von Schienen verstehen, sondern auch helfen, rechtzeitig die Weichen zu stellen, wenn ein Streckenabschnitt unbefahrbar wird. Sie werden Erinnerungen hinterlassen, die lebendig bleiben, über den nächsten Tag und den Tod hinaus.

0

Hörbuch

Über den Autor

JanosNibor
Eigentlich nur ein ganz normaler Nerd, der Technikbegeistert ist und viel zu viel Zeit damit verbringt, Dinge zu tun, die ihm Spaß machen, aber kein Geld bringen :)

Nebenher noch Kunst und Kultur-begeistert, Naturliebhaber, ehrenamtlich tätig und irgendwie nie richtig erwachsen geworden. Aber wer will das schon!

Leser-Statistik
64

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
scrittura Endlich. Endlich habe ich es geschafft deine Geschichtensammlung zu lesen.
und was soll ich sagen? Ich bin begeistert davon.
Dein Schreibstil fesselt vom ersten bis zum letzten Wort. Ich habe die Seiten regelrecht verschlungen und mit ihnen die Schicksale der Menschen, die du beschreibst. Die Idee eine Zugfahrt mit den Geschichten ihrer Passagiere zu verbinden, ein Rahmenhandlung zu schaffen innerhalb der du die einzelnen Geschichten so treffend einbetten kannst, finde ich genial und einzigartig. In meinen Augen hast du hier etwas ganz Großes geschaffen. sehr gerne gelesen!
glg, Fiona
Vor langer Zeit - Antworten
JanosNibor Vielen lieben Dank :)
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
2
0
Senden

100823
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung