Nan stapfte durch die Dunkelheit, die dunklen, wachsamen Augen ruhelos gen Himmel gerichtet. Seine schweren Stiefel knirschten auf dem endlosen Eis. Er fror trotz der dicken Maedrefelle, die er um sich geschlungen hatte, und sein Atem hing wie ein Gespenst gefroren in der Luft. Rastlos bewegte er sich vorwärts, den Hornbogen immer griffbereit. Neben ihm jagte Shirana umher, ihre blauen Augen verkniffen und die Schnauze witternd in der Luft. Die Schneehündin verschwamm mit den eisigen Böen wie ein Schatten, immer einen Schritt vorraus. Die Spuren, denen sie folgten, waren
frisch, keinen Tag alt, und er hoffte, das er an ihrem Ende eine Antwort auf die rätselhaften Geschehnisse des letzten Mondes finden würde. Seit Menschengedenken wanderten in den Ebenen von Karuh Scharen von Maedrebüffeln. Die großen, zotteligen Tiere mit dem großen Horn waren das Fleisch und Brot seines Volkes - ihr dichtes Fell bewahrte sie vor der Kälte, ihre Milch war äußerst nahrhaft und das Leder schirmte ihre Zelte ab. Ein Anblick der kargen, rauen Schönheit der Wälder ohne die grasenden Tiere war undenkbar. Doch letzten Neumond war etwas seltsames geschehen. Alle Jäger, die ausgezogen waren, waren mit leeren Händen zurückgekehrt. Die Herden waren verschwunden, wie vom Erdboden
verschluckt. Und doch hatte er hier, weit hinter der Waldgrenze, eine Spur gefunden, die Spur von mehreren Tieren, die panisch die Flucht ergriffen hatten... vor was? Er wusste es nicht, aber eins war ihm klar: Sie mussten die Tiere finden, sonst würden er und Shirana verhungern. Selten waren Menschen, selbst Jäger, so tief in das Herz der Einsamkeit getreten wie er heute Nacht. Das Flüstern der Bäume war lange schon verstummt. Kein Zwitschern war zu hören, kein Schnauben oder Rascheln drang an seine Ohren. Das einzige Geräusch, was die Stille durchbrach, war das Klappern seiner Zähne. Er hatte die Einöde erreicht.
Vor ihm erstreckte sich eine trostlose, kahle
Landschaft, jedes Funken des Lebens beraubt. Über dem vereisten Tal thronte Arkaross, der Unbezwingbare, die verschneiten Gipfel schillernd im Sternenlicht. Wie das Rückrat eines riesigen Wals zog sich der Gletscher durch das Land. Bedrohlich ragte er vor Nan auf, die schillernden Spitzen wie Speere, die den Himmel aufzuspießen drohten. Sein Volk lebte seit Urzeiten hinter diesem Wall aus Geröll, Eis und Sand, den kein Sterblicher je erklommen hatte. Die luftigen Höhen waren steil und glatt, die Vorsprünge im Eis rutschig und trügerisch. Mit jedem Schmelzwasser regneten Brocken aus Eis in das Tal, scharf wie Dolche und groß genug, um einen ausgewachsenen Bären zu erlegen. Der Arkaross mochte keine
Besucher und stürzte selbst die erfahrensten Wächter in den Tod. Und trotzdem hatte es ihm nie Angst eingejagt, hier zu stehen, allein am Ende der Welt. Dieses mächtige Gebilde, was der Ewigkeit trotzte, war wie ein leises Versprechen, dass selbst wenn der Tag für ihn kommen würde zu sterben, sein Volk überdauern würde.
Aber heute Nacht war etwas anders. Ein neuer Stern leuchtete am Himmelszelt, größer und heller als die vertrauten Gestirne. Glutrot pulsierte er am Firmanent und badete das Eis in feurigen Schein. Nan war ein Jäger, kein Knochenleser, aber er spürte, dass etwas Böses sich näherte. Er hielt inne und kniff die Augen zusammen, doch nirgendwo konnte er
den trügerischen Schatten eines Raubtieres ausmachen. Shirana tänzelte ungeduldig an seiner Seite und stieß sein Knie an. Die Spuren waren hier nicht mehr tief und fast schon gänzlich verwischt, aber sie konnte den Duft der Maedre noch tagelang aufspüren. Rasch beeilte er sich, ihr zu folgen und sein wachsendes Unbehagen abzuschütteln. Innerlich fragte er sich jedoch, warum es die Herde hierhin verschlagen hatte. Es gab nichts hier, keine Nahrung, keinen Schutz. Der Wind zerrte an seinen Haaren, und seine Lippen wurden blau vor Kälte. Sie waren am Fuß des Arkaross angelangt. Der unheilvolle Stern schien von hier aus erschreckend nah, fast als wäre er gewachsen, bis er den halben Himmel ausfüllte. Riesige Eisgebilde wie
Statuen aus Kristall standen ihnen leblos gegenüber, doch von den Maedre war keine Spur. Ihm wurde schmerzhaft bewusst, dass er sie schon längst hätte sehen müssen - ihre großen, dunklen Silhouetten waren in der weißen Welt leicht auszumachen. Die Spur war abgebrochen. Shirana trabte zurück zu seiner Seite und jaulte kläglich. Sie hatte die Fährte verloren. Sein Mund nahm einen verbitterten Zug an, während er ihren Kopf streichelte. "Aber wo sind sie dann...?", fragte er sich zutiefst verstört. Es konnte nicht sein, dass die Tiere einfach weggeflogen waren... und wenn ein Raubtier sie gerissen hätte, wäre Shirana dem Gestank gefolgt. Was hier geschah, entzog sich seinem Verstand und war wider allem, was er in seinen Jahren in
der Wildnis gelernt hatte. Es roch nach Hexerei... oder schlimmeren.
Ein leiser Hauch der Angst regte sich in ihm, doch er schüttelte ihn ab. Er hatte nicht vor, mit leeren Händen und schmerzendem Magen zurückzukehren. Er starrte auf die Hufabdrücke, die ins Nirgendwo führten, und tastete den frostigen Boden ab. Ein seltsames Geheul drang durch die Nacht und zerriss die Totenstille. Sofort legte Nan einen Pfeil auf die Sehne und fuhr herum. Shirana knurrte tief in ihrer Kehle, doch kein Schatten sprang auf sie zu, kein dunkler Riese entsprang dem rötlichen Schein der Nacht. Sie waren allein. Suchend blickte er umher und fragte sich still, ob er langsam wahnsinnig wurde, doch das Geräusch verstummte nicht, sondern wurde
lauter. Shirana hatte den Kopf schräg gelegt und starrte nach oben. Die Hündin zitterte am ganzen Leib. Sein Blick wanderte zum Himmel, und plötzlich begriff er.
Es gab keinen Himmel. Ein Flammenmeer breitete sich über ihnen aus, und Wärme drang durch seine Felle, eine Wärme, die nicht in ihre Welt gehörte. Der Stern hüllte den Horizont ein, er war der Horizont... und er kam auf sie zu.
Das Heulen schwall zu einem lauten, dröhnenden Geräusch an. Es klang wie das Brüllen eines Reißzahns, nur höher, pfeifender, und es hallte in seiner Brust wieder wie ein Herzschlag. Er wollte Shirana zu sich pfeifen und rennen, doch sie starrten beide wie gebannt auf den kommenden
Untergang, ihre Seelen gefroren in Angst und Unglauben. Ein Stern fiel, und eine Druckwelle zwang ihn zu Boden. Lodernde Hitze drohte seinen Schädel zu zerbersten. Eisblaue Wolfsaugen waren erstarrt, er würde sie nie mehr sehen. Das letzte, was er sah, war, wie der Arkaross in tausend Stücke zersprang.
Ein Stern fiel, und er war der Stern. Er brannte heller als die Sonnen, sein Bewusstsein ohnmächtig vor Schmerz. Chaos versuchte krampfhaft, sich zu verwandeln, dieser schwachen Hülle zu entkommen, in die die Schöpferin ihn verbannt hatte. Doch als er sich gegen die Grenzen seiner Gestalt warf,
spürte er ihren Bannkreis tief in sich auflodern, und er wusste, das er gefangen war... betrogen... machtlos... Er stürzte endlos, während die unbekannte Welt vor seinen Augen anwuchs, bis sie alles war, was er sehen konnte, weit und breit. Die Luft entfachte sich mit einem Zischen, und plötzlich explodierte die Dunkelheit und wurde zu einem grellen Weiß. Nackt und blutend wurde er an das Ufer gewaschen. Zitternd zog er sich an den glitschigen Felsen hoch und kroch langsam vorwärts. Der kalte Wind peitschte ihm ins Gesicht, während er kraftlos zu Boden sank. Und in seinem Kopf hörte er Tayara wieder und wieder sagen: „Du hast diese Welt verdammt. Du wirst bis zum Ende bei ihr
bleiben“. Er war verletzt, und der Schmerz betäubte seinen Verstand. Niemals zuvor hatte er ein solch durchbohrendes, qualvolles Gefühl verspürt. Als eine Kreatur aus purer Magie und mit Unsterblichkeit gesegnet, hatte ihn das Leiden aller lebenden Wesen nie berührt. Er war die unaufhaltsame Flut gewesen, ungreifbar wie Mondlicht, sein Verstand wie ein Vulkan, der flüssiges Feuer spuckte. Nun war er in dieser menschlichen Hülle gefangen. Die Enge des kleinen Körpers und seine neu gewonnenen Sinne brachten ihn langsam aber sicher um den Verstand. Wie jemand, der seinen ersten Atemzug nimmt, und tief im Innersten spürt, das er am Leben ist, kostete Chaos seit langen Jahren wieder Sterblichkeit. Der volle
Schmerz seines gepeinigten Körpers und seiner schreienden Nerven trommelte auf ihn ein. Sein erster Atemzug war ein Schrei.
Er schrie mit einer kehligen, tiefen Stimme. Nur das Rauschen der Wellen antwortete ihm. Angewidert starrte er die fünf Ausstülpungen an seiner Hand an, die so seltsam beweglich waren. Sein Körper war so empfindlich... und so leicht zu zerbrechen. Was ihm aber noch mehr Angst einjagte, war die Dunkelheit hinter seinen Augen, die ihm befahl, sich vor der Welt zu verstecken. Seine neuen Glieder gehorchten dem Instinkt, bevor er sie aufhalten konnte. Tausend forderten seine Aufmerksamkeit : Das Brennen der Wunde an seinem Kopf, die seltsame Nässe auf seinen Wangen , die schmerzhafte Steifheit in seinen
Muskeln , das Pochen in seiner Brust , das alle anderen Geräusche übertönte. Während er die Auswüchse an seinen Beinen zwang, ihn vom Boden wegzudrücken. versuchte verzweifelt, seine Macht zu erreichen. Er konnte spüren, wie etwas ihn von Kopf bis Fuß durchfloss, ein Strom aus zuckenden Blitzen, und ein kleines Licht erschien in seiner ausgestreckten Handfläche. Es war so hell, das seine menschlichen Augen sich von selbst schlossen, und seine Sicht verschwamm. Also hatte Tayara ihm nicht alles genommen... Und doch war es nichts als ein mickriger, sterbender Funke, wo einst ein Inferno gewütet hatte, mit Flammen, die hoch genug waren, um den Himmel zu verzehren. Wäre er im Vollbesitz seiner Kräfte, wären alle
Meere dieser Welt binnen eines Augenblicks verdampft. Dieses Rinnsal von Magie war nur eine Erinnerung daran, was er gewesen war … Niemals genug, um Tayaras Bannkreis zu durchbrechen. Denn es war kein gewöhnlicher Bannkreis... es war ein Konstrukt aus Himmel und Erde, Wasser, Luft, Leben und Licht. Tayara hatte eine ganze Welt zu seinem Gefängnis gemacht. Er ließ das Licht, was er erschaffen hatte, über die karge Landschaft schweifen, sah die unendliche Weite des Ozeans und die hohen Klippen, die über ihm aufragten . Er, der geholfen hatte, diese Welt zu schmieden, war nun ihr Sklave, klein, unbedeutend, in Form einer Made. Es war die perfekte Strafe für das, was er getan hatte. Was für eine
grausame Ironie, das er, Herr alles Lebens, nun selber lebendig war.
Als er zu klettern begann, schnitten die scharfen Steine in seine Handflächen. Der Schmerz trieb die Tränen in seine Augen. Die Dunkelheit hinter seinen Augen befahl ihm, aufzuhören, doch er trieb sie zurück und zwang sich, weiterzumachen. Er holte tief Atem, seine Bewegungen ungewohnt und zögerlich. Sein Körper hatte einen eigenen Willen, der seine Glieder zum Zittern brachte und seine Augen ermatten ließ. Ein Wille, der Widerstand leistete, der zu Boden sinken wollte, sich ergeben wollte. Er wusste, dass er diesen Willen als erstes brechen würde müssen. Doch als er sich auf die Stimmen in
seinem Hinterkopf konzentrierte, verlor er den Halt und stürzte rücklings zu Boden. Mit zusammengebissenen Zähnen berührte er seine schmerzende Schulter, während rote Striemen auf seinem Rücken erblühten. Es wurde langsam dunkel, und zwei Monde standen hoch am Horizont, strahlende Sicheln in grau und weiß. Er hatte ihnen nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, als sie erschaffen wurden, doch von hier unten hatten sie etwas Bedrohliches, wie zwei halb geöffnete Augen, die ihn beobachteten... Das war der Gedanke einer Made, nicht sein Gedanke, deshalb schob er ihn beiseite. Ihr Licht erlaubte ihn, sich langsam am Fels vorranzutasten. Die Nacht war kalt, seine Zähne klapperten unentwegt und er fror. Er wusste, das ihm
nicht viel Zeit blieb, bevor seine mickrige Hülle versagte. Gewiss hatte Tayara darauf gehofft, dass er, von ihr verstoßen, sich selber den Gnadenstoß geben würde. Den Tod einer Made sterben würde. Doch irgendwo, eingezwängt in diesen seltsamen Körper, war er noch ein Gott. Und er würde sich nicht ergeben. Während er sich bemühte, nicht auf den glitschigen Steinen auszurutschen, hörte er ein Geräusch. Stimmen.
Menschen. Sein Atem ging schwer, seine Hände zitterten, doch er verdoppelte seine Anstrengungen. Er musste sie finden, bevor die Welt vor seinen Augen verschwamm. Wie ein merkwürdig verzerrtes Raubtier tauchte sein Schatten am Bergkamm auf, hinkend,
blutend, hungrig. Einer der Männer schrie laut auf und fuchtelte mit einem Speer in Chaos' Gesicht herum. Er wollte seine Magie rufen, doch sie antwortete nicht - der Blutverlust machte es ihm schwer, zu stehen. Hilflos taumelte er zu Boden. Der Mann legte seine Waffe weg, während eine junge Frau unsicher hinter einem Fels auftauchte. Als sie seine Wunden sah, keuchte sie laut auf und starrte den Mann fragend an. "Dolorian", antwortete dieser leise, und legte eine Hand an Chaos' Stirn. Die Worte hörte der Gott nur leise, doch er bewahrte sie in seinem Herzen auf, als erstes Geschenk dieser Welt. Es bedeutete Schmerz, es bedeutete Wiedergeburt, es bedeutete Überlebender. Ein Name... ein Name für einen Sterblichen. Sein Name.