Susanna blickte ein letztes Mal auf die glutroten Strahlen der untergehenden Abendsonne und seufzte. Ihr letzter Urlaubstag war soeben zuende gegangen. Drei Wochen auf den Kanaren hatten sie ihren Alltagsstress vergessen lassen. Übermorgen um diese Zeit würde sie schon wieder einen grauen Büroalltag hinter sich haben. Das einzige, was ihr blieb, waren die Fotos und die vielen Geschichten, die sich während dieser Zeit angesammelt hatten.
Da waren die Begegnung mit den Delfinen, die Gespräche mit den Ausgewanderten und den Einheimischen, die Wanderung in den Bergen und natürlich die Erlebnisse im Regenwald. Das Leben hier war einfach viel entspannter. Keiner schaute hektisch auf die Uhr, die Leute lächelten und nahmen sich die Zeit, die sie brauchten. Aber es konnte ja nicht ewig so weiter gehen.
Kaum hatte Susanna sich fünf Tage später zu Hause wieder einigermaßen eingelebt, sich an das graue Wetter und den Nieselregen gewöhnt, an die muffeligen Gesichter der Leute in der U Bahn und an den Stress im Job, da schaltete sie am Abend ihren PC an und suchte Zuflucht auf ihrer kleinen Schreibplattform, um sich dort wieder zurück zu melden. Doch was musste sie sehen: Alles war völlig anders! Tausende von bunten Bildern sprangen ihr entgegen, sie hatte keine Ahnung, wie sie ihre Texte einstellen sollte und wurde regelrecht erschlagen von Informationen und großen Schlagzeilen. Vergeblich versuchte sie an diesem Abend in ihren account zu gelangen, der Computer meldete immer „Fehler auf dieser Seite“. Was sollte sie tun? Sie hatte ein wunderschönes Gedicht im Kopf, das sie mit den anderen teilen wollte. Doch nun war alles aus. Verdrießlich nahm sie sich ein Blatt aus der Schublade und fing an, das Gedicht aufzuschreiben. Das war ein ganz eigenartiges Gefühl und Susanna kam sich ein wenig komisch vor. Doch das Schreiben ging ihr schnell von der Hand und sie war mit dem Ergebnis zufrieden. Aber was sollte sie jetzt damit tun? Den Zettel in der Hand haltend trat sie nachdenklich hinaus in den Garten und blickte über die angrenzenden Felder. Ein leichter Abendwind hatte die Regenwolken vertrieben. Susanna fröstelte. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie ließ den Zettel los und er wehte davon. „Mein Gedicht weht in die Welt!“, murmelte sie leise und ging zurück ins Haus.
An diesem Abend ging der alte Herr Schumann mit seinem Hund spazieren. Plötzlich wehte ihm ein Zettel vor die Füße. Ärgerlich, dass die Leute wieder Müll weggeschmissen hatten, hob er den Zettel auf und steckte ihn in seine Jackentasche. Am Tag zuvor hatte es sehr stark geregnet und die Wege waren matschig und aufgeweicht. So war es kein Wunder, dass Benno, der Schäferhund von Herrn Schumann, seinen Mantel von oben bis unten beschmutzte, als er wenig später an ihm hochsprang. Herr Schumann sah verzweifelt an seinem Mantel herunter und nahm sich vor, ihn gleich morgen in die Reinigung zu geben.
Am nächsten Tag gegen zehn Uhr morgens fuhr er in die Stadt und gab seinen Mantel bei Frau Meier ab. Frau Meier arbeitete sehr sorgfältig und kontrollierte alle Taschen, bevor der Mantel gereinigt wurde. Da stieß sie auf einen Zettel. Neugierig faltete sie ihn auseinander und las ein wunderbares Gedicht. Es war das schönste Gedicht, was sie je gelesen hatte. Sie musste weinen und sich zunächst einmal setzen. Waren diese Zeilen für sie geschrieben worden? Sie hatte bisher gar nicht gewusst, dass Herr Schumann solche Gefühle aufbringen konnte. Sie hatte ihn immer als schrulligen alten Mann gesehen, der Selbstgespräche führte oder mit seinem Hund redete. Er war oft zu ihr in die Reinigung gekommen, da er Witwer war und keine Frau hatte, die ihm das Waschen abnahm. Frau Meiers Wangen glühten. Wie sollte sie sich jetzt verhalten? Sollte sie ihm zurückschreiben? Doch wie? Sie hatte keine Ahnung. Am Abend, nach der Arbeit, googelte sie im Internet nach Gedichten. Bald schon stieß sie auf eine sehr interessante Seite, die ihr allein schon wegen der vielen Farben und der tollen Bilder gefiel. Sie las ein Gedicht nach dem anderen und konnte gar nicht mehr aufhören. Schnell beschloss sie, der community beizutreten und dachte sich gleich einen passenden Namen aus. Sie schwebte wie auf Wolken, als sie die ersten eigenen Texte einstellte und positive Rückmeldung bekam. Schreiben wurde plötzlich ihr ganz großes Hobby. Sie verbrachte mehr und mehr Zeit damit.
Und was war aus dem Gedicht für Herrn Schumann geworden?
Dafür hatte sie auf der Plattform sehr viele Sterne bekommen. Aber abgeschickt hatte sie es nie.