Kurzgeschichte
Nachtzug - verlieren

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"Nachtzug - verlieren"
Veröffentlicht am 23. November 2013, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Eigentlich nur ein ganz normaler Nerd, der Technikbegeistert ist und viel zu viel Zeit damit verbringt, Dinge zu tun, die ihm Spaß machen, aber kein Geld bringen :) Nebenher noch Kunst und Kultur-begeistert, Naturliebhaber, ehrenamtlich tätig und irgendwie nie richtig erwachsen geworden. Aber wer will das schon!
Nachtzug - verlieren

Nachtzug - verlieren

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Unergründliche Schwärze. Nichts weiter ist bei einem Blick aus dem Fenster zu sehen. Nicht ein Licht, keine Andeutung einer Bewegung. Der Zug scheint mittlerweile quer durchs Nirgendwo zu gleiten, rings um ihn nur absolute Leere. Bald wird die Nacht durch ein Meer stechend weißer Laternen abgelöst werden. Die nächste Stadt, oder nennen wir es vorsichtiger, Ortschaft, ist nur noch wenige Minuten entfernt, der erste Halt, zumindest von einem Fahrgast sehnsüchtig erwartet. Die unzähligen Laternen, die dann die Nacht zum Halbtag machen werden, gehören zu

einem Gewerbegebiet, geplant und gebaut scheinbar auf Vorrat, denn bisher hat sich keine einzige mutige Firma dort angesiedelt. „Feld der tausend Lichter“ nennen es die Anwohner, auf der schier unendlich erscheinenden, ebenen Fläche gibt es nur frisch asphaltierte Straßen, alle paar Meter gesäumt vom frisch einbetonierte Laternen in futuristischem Design. Sonst nichts. Eine Geisterstadt, ein Friedhof ohne Tote, ein trauriger, gespenstischer Anblick. Als ob jemand über Nacht sämtliche Häuser verschleppt hätte. Aber von all dem ist jetzt noch nichts zu sehen, die unergründliche Schwärze hat den Zug noch fest im Griff und trägt ihn immer

weiter. Die Müdigkeit steht der alten Frau ins Gesicht geschrieben, die es sich an einem Fensterplatz gemütlich gemacht hat. Auch sie scheint eine Fernreisende zu sein, ein kleiner, sonnengelber Koffer liegt auf der Gepäckablage über ihr. Sie braucht auf Reisen nur wenig, was eines Koffers bedürfte, Eigentlich nur Kleidung, der Rest findet, wohl sortiert, in ihrer dunkelbraunen Handtasche platz, die sie fest umklammert hält. Auch wenn der Körper nun schon dabei ist, das achte Jahrzehnt auf dieser Erde hinter sich zu bringen, sogar ohne große Schwächen zu zeigen, blicken ihre Augen

immer noch voller Neugier durch die Nacht. Man kann nur erahnen was sie dort im Dunkel sieht, was sie sehen will, was wichtig genug ist von ihr beachtet zu werden. Sie lächelt, müde aber zufrieden. Es war eine denkwürdige Beerdigung, am Vortag, sehr besonders, so wie der Mann, der seine letzte Ruhe auf dem Friedhof der Stadt fand, die er immer am meisten geliebt hatte. Ihr Mann, viele, sehr viele Jahre lang. Hunderte Menschen waren gekommen um ihm die letzte Ehre zu erweisen, tausende wären es gewesen, hätte der kleine Friedhof sie aufnehmen können. Einige davon kannte

er persönlich, ein paar mehr vom Sehen, der größte Teil aber war ihm unbekannt, oder wäre es gewesen, hätte er noch die Möglichkeit gehabt, das mitzuerleben. Es hätte ihn mehr als erstaunt zu sehen, wie viele Menschen von seinem Tot Notiz genommen hatten, wie viele gekommen waren um ihn auf seiner letzten Reise zu begleiten. Die alte Frau stand während der Rede neben seinem Grab und sah erstaunlich gefasst auf den Sarg, der, unter den Worten von alten Freunden und Begleitern, in die kühle Erde hinab gelassen wurde. Im Hintergrund spielte ein kleiner Plattenspieler „Autumn

Leaves“ und „Unforgettable“, zwei seiner liebsten Stücke des großen Jazz-Königs, und ein letzter Wunsch, den er vor seinem Tod gar nicht hätte äußern müssen. Sie hatte gewusst, dass dies einfach dazu gehören würde. Sie hatte ihren Mann durch ein Leben begleitet, das man sich kaum verworrener und verrückter vorstellen mochte. Erst war er es, der sie aufgefangen hatte, dann bekam sie nicht nur ein Mal die Gelegenheit, sich dafür zu revanchieren. Sie blickte auf die vielen Bilder zurück, die er in ihren Erinnerungen hinterlassen hatte, während das was ein mal er war, dort

verschwand, wo es angeblich her gekommen war. Warum aber sollte sie darum trauern? In ihren Augen, in ihrem Glauben, hatte er nur die alte Hülle abgeschüttelt und dort liegen gelassen, weil er sie nicht mehr benötigte. Man mag darüber denken was man will, aber die alte Frau, die immer noch aus dem Fenster schaut und lächelt, sie weiß, dass es so ist, weil es nicht anders sein kann. Denn noch immer spricht sie mit ihm, noch immer antwortet er ihr, wenn auch anders, leiser. Sie weiß, dass er hier im Zug neben ihr Platz genommen hat und sie beobachtet, denn das ist es, was sie sieht, wenn sie hinaus

in die Nacht schaut. Das ist es, was ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubert, ihre Züge noch etwas faltiger erscheinen lässt und sie dennoch um Jahre jünger macht. Sie sieht nicht in die Nacht hinaus, sie benutzt das unergründliche Schwarz als Spiegel, um IHN zu sehen, wie er über sie wacht, so wie er es schon immer getan hat. Sicher, es tut weh, ihn nicht mehr berühren zu können, ihm nie wieder durch das weiße Haar streichen zu dürfen, seine Umarmungen und Küsse für immer verloren zu haben. Dennoch hat sie IHN nicht verloren, so lange sie sein Spiegelbild noch sehen kann, weiss

das er nah ist und sie begleiten wird. Als die Beisetzung beendet war, am späten Nachmittag des gestrigen Tages, blieb sie als Einzige noch etwas länger am Grab. Alle anderen hatten sich zurückgezogen, um ihr ein paar Augenblicke zu geben, denn es gab noch etwas, was sie allein tun musste. Ein eher symbolischer Akt, aber genau wie die Musik im Hintergrund, gehörte es einfach dazu. Er hatte ihr mehr gegeben, vor allem in den letzten Jahren, als sie ihm je hätte zurückgeben können. Aber es gab etwas, das so untrennbar zu ihm gehörte, dass sie es hier zurücklassen

musste. Ihre Tochter hatte alles schon für sie hergerichtet, das Geschenk würdig verpackt, indem sie es mit einem Leinentuch umhüllt und mit einer festen Schnur zusammen gebunden hatte. Die alte Frau im langen, schwarzen Kleid griff zielsicher in ihre Handtasche und ohne lange darin gesucht zu haben, zog sie eine kleine Schere heraus. Wenig später war die Schnur Vergangenheit, das weiße Tuch lag im grünen Gras. Sie klappte den hölzernen, dritten Fuß aus, so wie er es in seinem Leben tausende Male getan hatte und drückte

die kleine, alte Staffelei ein paar Finger breit in die frisch aufgeschüttete Erde. Auf ihrer rauen Unterseite, die nun schon seit ein paar Wochen nicht mehr von Papier bedeckt wurde, standen immer noch die Worte „ich warte auf dich am Fluss, in Liebe, Marie“, mit rotem Wachsmalstift geschrieben, kaum verblasst, selbst nach über dreißig Jahren. Gleich darunter aber war nun in gelb noch ein Satz hinzu gekommen:


„Vielen Dank, Opa, für alles. Deine Josefine“

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Hörbuch

Über den Autor

JanosNibor
Eigentlich nur ein ganz normaler Nerd, der Technikbegeistert ist und viel zu viel Zeit damit verbringt, Dinge zu tun, die ihm Spaß machen, aber kein Geld bringen :)

Nebenher noch Kunst und Kultur-begeistert, Naturliebhaber, ehrenamtlich tätig und irgendwie nie richtig erwachsen geworden. Aber wer will das schon!

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MarieLue Was für eine rührende, gut erzählte Geschichte!
Habe ich sehr gerne gelesen!
Herzliche Grüße
Marie Lue
Vor langer Zeit - Antworten
JanosNibor Dieses ist das letzte Kapitel der Kurzgeschichtensammlung "Nachtzug". Es ist nicht unbedingt nötig, aber um ein paar Zusammenhänge zu verstehen, ist es nicht schlecht, die anderen Teile vorher gelesen zu haben :)
Prolog:
http://www.mystorys.de/b99730-Romane-und-Erzaehlungen-Nachtzug.htm
1. Teil:
http://www.mystorys.de/b99882-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
2. Teil:
http://www.mystorys.de/b99949-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
3. Teil:
http://www.mystorys.de/b100013-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
4. Teil:
http://www.mystorys.de/b100079-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
Grüße, Janos
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