Kapitel 5
»Hab nachgeschaut«, nuschelte Nils durch den vollgestopften Mund.
»Hmm? Was? Was hast du nachgeschaut?« Locke schaute Nils mit fragendem Gesicht an, wartete aber geduldig, bis dieser sein Salamibrot heruntergeschlungen hatte.
»Na, was ich gestern erzählt hatte. Von der Emmerling, die meinte, da käme einer, um sie ... na ja, um sich an ihr zu vergehen. Hab halt nachgeschaut, war aber nichts. Sie spinnt sich einfach nur was zusammen.«
Locke schaute Nils mit heruntergeklappter Kinnlade an. Sein
Mund stand so weit offen, dass Nils problemlos einen Flugzeugunfall aus zerkauten Käsebrötchenbrocken zwischen den Zähnen des Unterkiefers ausmachen konnte. »Hast du nicht wirklich gemacht, oder? Ich meine, du hast ...« Locke unterbrach sich und prustete, dass Reste seines Essens zwischen seinen geschlossenen Lippen hervorschossen. »Du hast echt? Also hast du unter ihre Decke geschaut, oder was?«
»Genau so«, bestätigte Nils. So, wie Locke das aussprach, war es wirklich fast schon zum Lachen.
»Die Alte war doch nicht nackt, oder? Ich meine, hast du ihre ...«
»Bah, hör auf, Mann!«, rief Nils
und hielt sich die Ohren zu. »Sie hatte ein Nachthemd an, okay? Alles, wie's sein soll. Ich hatte nur ganz kurz geschaut, ob irgendwelche Male zu erkennen waren. Wunden, blaue Flecken, irgendwas eben.«
Locke schüttelte den Kopf, klatschte in die Hände und stand auf. »Nils, du hast echt 'nen Sockenschuss. Große Verschwörung im Gange, ja nee, is' klar. Die Ärzte hier haben's dringend nötig und gehen bei Nacht und Nebel auf die alten Omis los. Das ist krank! Junge, Junge.«
»Erzähl's keinem, ja?«, bat Nils kleinlaut. Jetzt klang seine ganze Idee erst so richtig bescheuert. Aber wirklich
lustig fand er die Angelegenheit dennoch nicht. Man las, hörte und sah im Fernsehen doch so Einiges darüber, wie alte Menschen von Pflegepersonal misshandelt wurden. Was der Mensch sich vorzustellen vermochte, konnte es auch wirklich geben, und in Sachen Grausamkeiten kannte das Vorstellungsvermögen des Menschen seit jeher keine Grenzen.
»Von mir erfährt keiner, dass du den alten Ladys unter'n Rock guckst, keine Sorge. Die würden dich doch sofort rauskicken. Und ich hätte keinen mehr zum Schnacken. Andererseits willst du doch eh hier weg, oder wie war das?«
»Schon, ja. Aber doch erst, wenn
ich was Neues hab. Bin dran, aber solange ... Na ja, solange brauch ich das Geld.«
»Eigentlich 'ne Schande, was wir hier kriegen, wenn du bedenkst, was wir machen müssen. Irgendwo sitzt sich 'n Haufen Idioten den Arsch platt, säuft Kaffee und wird dafür auch noch fürstlich entlohnt. Wenn man überlegt, dass lange genug Sozialdemokraten an der Macht waren, dann sollte es doch so was gar nicht geben.«
Nils schaute auf die Uhr. Wenn Locke erst einmal damit angefangen hatte, über den Staat, die da oben und alle zu schimpfen, die es an ihrem Schreibtisch schön warm hatten, dann
konnte das schon mal eine Weile dauern. Er erging sich in den immer selben Floskeln, und inzwischen kannte Nils sie alle. »Du, Pause ist rum, glaub ich«, warf er ein, in der Hoffnung, Locke in seinem Redeschwall zu unterbrechen. Glücklicherweise klappte das.
Fortsetzung folgt ...