Ich will dir erzählen, wie alles begann, wie ich das wurde was ich heute bin; ein guter Mensch. Ich habe nichts vorzuweisen, außer roten Schuhen mit einer Kleinmädchenschleife und flacher Sohle und du sollst wissen, dass ich nicht immer so war wie heute.
Ich erinnere mich an viele Einzelheiten aus meinem Leben, unfassbar viel, mehr als jeder sich vorstellen kann. Dieses Buch ist für dich, der du mich zum ersten mal mit einem Elefanten verglichst. Denn Elefanten vergessen nie. In viele der Erinnerungen wird sich auch nachträgliches Wissen einmischen,
das ich hauptsächlich Erzählungen meiner Mutter entnehme.
Ich will allerdings versuchen diese Erinnerungen mitsammt meinen kindlichen Gefühlen und Gedanken wiederzugeben.
So beginnen wir direkt mit der Königsdisziplin: Einer Erinnerung wie ein Traum, ohne jede Bestätigung von außen, dass es so und nicht anders war; einer Erinnerung, die es laut der gängigen Wissenschaft, die behautet ein Kind unter drei Jahren kann sich nicht erinnern, gar nicht gäbe dürfe.
Das Allererste woran ich mich erinnern kann ist ein Bild, genauer gesagt eine
Situation, eine Szenerie, zuoberst geprägt von unglaublicher, köstlicher und nie gekannter Nahrung. Kauen muss ich nicht, eine Art Brei so scheint es mir.
Ich sitze am Kopfende des Tisches und unmittelbar vor mir sitzt eine Frau. Es ist als wäre sie eine Fremde, denn ich kann mich nicht an starke Gefühle für sie errinnern, aber vielleicht waren meine Gefühle zu dem Essen einfach so intensiv, dass für keine andere Gefühlsregung Platz blieb. Ich kann diese Frau kaum sehen, die Sonne blendet durch das Fenster unmittelbar hinter ihr. Erst als ich ein paar Jahre später an diese Situation denke wird mir bewust das es unser Küchenfenster ist
und der Tisch immer noch an der selben Stelle steht.
Diese Frau wird meine Mutter gewesen sein, meine leibliche Mutter.
Sie ist ganz still, ich kann sie nicht sehen, sie erstrahlt nur im Licht vor mir. Immer wieder schiebt sie mir einen Löffel in den Mund mit einer unsagbaren Köstlichkeit. Es ist als erwache ich aus einer Tiefe, als hätte ich bis dahin geträumt.
Aus der Tiefe des damals schon bestehenden Alltags? Sie löffelt weiter ohne Unterlass, fast monoton wie ein Uhrwerk die Nahrung in mich hinein, daraus entsand eine stille Verbundenheit, die allein durch den
Rythmus des Mund auf und zu machens meinerseits und ihrem Loffelbefühlen und in den Mund schieben bestand.
Die Sonne scheint, sie strahlt, nie danach habe ich die Sonne so strahlend gesehen. Sie wirft einen Tepich aus Licht direkt auf Mama, die die Hand mit dem Löffel nicht senken muss, um ihn mir in den Mund zu führen, und daraus kann ich entnehmen, dass ich in einem Hochsitz gesessen haben muss.
Sie sagt kein Wort.
Stille.
Die Köstlichkeit implodiert. Glücksgefühle durchströhmen mich.
Sechzehn Jahre später gibt es bei einer Tante, die Frau des Bruders meiner
Stiefmutter Reis zu essen. Noch bevor ich den Reis esse, weis ich das er die erste Erinnerung an Essen, die erste Erinnerung überhaupt ist. Ich erkenne es am Geruch, als die Tante, die nach Meinung meiner Mutter nicht kochen kann, ihn völlig zerkocht. Meine Stiefmutter kochte nie Reis und so bleibt mir nur die Vermutung, dass es sich um Schokomilchreis handelt. Schokomilchreis mit Zimt, ich bin mir fast sicher. Aber wirklich weis ich es nicht. Es ist keiner mehr da, den ich nach diesem ersten bewussten Moment des Glücks in stiller Zweisamkeit fragen kann.
Der Keller wird ausgebaut, denn Mama und Papa wollen jetzt im Keller schlafen, damit wir beide mehr Platz haben. Meine ältere Schwester und ich ziehen in das elterliche Schlafzimmer und so entsteht das "große Kinderzimmer", das seinen Namen bis zu meinem Fortgehen, ja noch darüber hinaus behalten wird.
Ich könnte mir vorstellen, das es heute noch so heißt und ich werde bei meinem nächsten Telefonat mit meinem Engelchen nachfragen. Für dich. Für mich. Für uns. Und ganz besonders für meinen ersten Leser.
Der Keller, weis Gott wie er vorher aussah, ich weis es nicht mehr, wird von Opa, der plötzlich ständig zu Besuch ist und Papa bevölkert. Sie gehen dort fleißig hin und her, unterhalten sich und machen teilweise ganz schön Lärm. Wir beide beobachten es mehr von der oberen Kellertreppenstufe aus, als dass wir mit unseren riesigen Babypuppen, die uns Oma geschenkt hat spielen. Ich bin mir fast sicher, dass meine bereits zu dem Zeitpunkt kaputt ist. Irgendwann bekommt erst meine, dann sogar beide, Risse im Nacken. Diese Puppen sind fast so groß, wie ich und mit Sägespähne gefüllt, und haben Gummyköpfe und
Arme. Wir spielen gerne mit ihnen. Die Sägespäne krichen irgendwann zwischen Nacken und Kopf hinaus, irgendwann später oder bereits da schon und Mamas guter Boden wird beschmutzt. Aber Ärger, in Form von Haue bekommen wir nicht, das liegt wahrscheinlich daran, dass Mama Oma und die teuren Puppen nicht mag. Die kleine Küche macht eine kleine Biegung und geradeaus geht es zur Hintertür hinaus auf die Terasse, rechts liegt direkt die Kellertreppe. Der Platz ist klein und Diana und ich schauen hinab, wir reden nicht, wir spielen gar nicht richtig, wir lauern, dass einer direkt sichtbar wird unten. Manchmal geht tatsächlich einer der
beiden vorbei an der untersten Stufe, selten schaut sogar einer von beiden hinauf und ruft einen Gruß, bevor er weiter geht.
Ich weis nicht, ob wir einen Tag oder mehrere Tage sitzen. Einmal dreht Mama das Radio im Wohnzimmer ganz laut und ruft: "Hört mal: Nackedei."
Rolf Zuckowski singt laut: "Nackedei. Nackedei. Alle sind heut Nackedei. Nackedei. Nackedei..." Ich singe laut mit, während ich mir die Kleider vom Leib reiße und sie auf dem Weg ins Wohnzimmer verstreue, wo sie gerade zu liegen kommen. Ich tanze rum im Wohnzimmer und Mama erhebt mit ihrer freundlichen Stimme Einwende.
Ich kann mich genau an ihren Ton in der Stimme erinnern und höre heute noch: "Hey, das ist doch viel zu kalt..."
Opa ist im Keller und niemand außer mir hört ihre freundliche Stimme, die irgendwann, viel später nur noch gesprochen wird, wenn Besuch da ist.
Wir zogen also in das Zimmer unserer Eltern, das bedeutend größer war, als unser kleines Kinderzimmer, und von da an, wie bereits erwähnt „großes Kinderzimmer“ hieß, da das „kleine Kinderzimmer“ bestehen blieb.
Die Kinderzimmermöbel waren in einem hellem Holz und mein Bett konnte man einklappen.
Über dieses Klappbett waren große Regalfächer, die im Laufe der Jahre verschiedenes Spielzeug sahen.
In der Mitte des großen Zimmers prangte von da an bis in meine späte
Teeniezeit ein grauer recht wuchtiger Sessel und ein kleiner quadratischer Kacheltisch, dessen Kacheln man nur teilweise sehen konnte, da immer eine Tischdecke darauf war. Meine Schwester bekam sogar ein richtiges freistehendes Einzelbett an der rechten Seite des großen Fensters. Das Fenster war riesig und hatte eine lange Gardine, die leicht durchsichtig war, aber das klare Fensterglas sah man durch diesen Vorhang nicht. Gegenüber des langen, großen Fensters, das beinahe die ganze hintere Seite des Zimmer ausmachte und zur Straße zeigte, war die Tür. Links von der Tür füllte mein Klappbett
die ganze Front bis zur Ecke der Wand. Direkt an das Klappbett mitsamt oberen Regalen, die bis zur Decke reichten, schloss sich der Kleiderschrank an, so das man die Zimmerecke gar nicht mehr sehen konnte. Wenn das Bett eingeklappt wurde, schob man den Sessel leicht schräg in diese dann entstandene Möbelecke, und platzierte davor den Tisch. Als ich einmal auf die Lehne dieses Sessels kletterte, sah ich das ein Hohlraum in der Zimmerecke war, den die beiden Möbelstücke entstehen ließen, in diesen Hohlraum warf ich schon mal Müll den Mama nicht finden sollte. Beim Abwischen der oberen Fläche der Möbel
sah sie allerdings, dass sich etwas auf dem tiefen Grund dieses Lochs befand. Es war klar, dass ich es war, aber Haue bekam ich nicht. Ich erinnere mich auf jeden Fall nicht an eine riesige Haue. Aber soweit, dass ich, die ich immer die aufgewecktere und frechere von uns Zweien war, dem Zimmer hier und da leicht meinen Stempel aufdrückte waren wir damals noch nicht. Selbst der Boden war neu. Er war jetzt braun, statt rot. Das alles nimmt in der Erinnerung an den ersten Tag des neuen Zimmers aber keinen Raum ein. Ich entsinne mich nur mit Mama an der Türe zu
stehen. Nur wir beide. Niemand ist im Raum. Mir ist als wäre jemand Fremdes da gewesen, vielleicht Jemand vom Möbelgeschäft, der MEIN Bett mit aufbaute. Mir ist als stände noch jemand im Flur, unmittelbar in Hörweite, denn Mama hat wieder ihren Tonfall aufgesetzt, denn sie eigentlich nur benutzt, wenn jemand Fremdes anwesend ist. Jetzt wenn ich so zurückdenke, muss sie damals eine sehr glückliche Frau voller Liebe für uns, oder zumindest für mich, die Kleine gewesen sein, denn sicher bin ich mir nicht, dass jemand außerhalb meiner Sichtweite
ist. Vielmehr war es ein Moment der Zweisamkeit für mich, als sie spielerisch mit dem Zeigefinger warnt: „Da darfst du aber kein Pipi mehr rein machen.“ „Ähäh!“, schütele ich begeistert den Kopf. Ich schütele ihn häftig und voller Inbrunst. Ich habe zu diesem Zeitpunkt keinerlei Versagungsängste, bin mir Hundertprozent sicher. Sie lacht glücklich. Ich bin glücklich. Ein richtiges Erwachsenenbett. Ich bin jetzt ebenso wie das Kinderzimmer von klein zu groß
gewachsen.
Hofdichter Jede Entbehrung wird irgendwann zurückkehren manchmal durch die eigenen Hände. Gern gelesen Ephraim |
Melquisedec Die ide ist hier der mut auch doch an Dem Umsetzten musst du noch feilen Hat mir gefallen LG MELQUISEDEC |