VERKENNEN
Es müssen Felder dort draußen sein. Weite Äcker, schon längst von der Ernte befreit, gelbe Stoppeln die sich zu Tausenden tot dem Nachthimmel entgegen recken. Schon bald sind sie untergepflügt, vergessen und Nährboden für eine neue Ernte, für ein neues Jahr. Nun sind sie unsichtbar, man kann sie nur erahnen, wenn man die Strecke kennt. Aber sie sind da, irgendwo da draußen, in der unendlichen Dunkelheit. Die Stadt liegt längst schon hinter uns, nur ein sehr schwacher, oranger Lichtteppich am Horizont, kaum noch auszumachen durch die energische
Spiegelung der Leuchtstoffröhren im Inneren des Abteils. Wie wenig es doch braucht, um die Stadt und das hektische Leben hinter sich zu lassen, dabei scheint sie so endlos, so alles beherrschend. Kaum ein paar Minuten, und sie ist verschwunden, als wäre all das nie da gewesen.
Der Mann in der letzten Reihe des durch eine Glaswand geteilten Abteils, hat viel gesehen, in seinem bunten Leben. Manche beschimpfen ihn als "Penner" oder "Bettler", meist übersehen oder ignorieren sie ihn aber. Das schlohweiße, lange, leicht wellige Haar, nur notdürftig in einen Pferdeschwanz
gezwungen, lässt ihn ein wenig älter wirken als er eigentlich ist, aber nicht viel. Keines der ungezählten Jahre ist an ihm spurlos vorüber gegangen, er trägt nicht wenige Narben, und die meisten davon unsichtbar, tief verborgen in seinem Inneren.
In seinem früheren Leben hatte er sich, statt des alten, zerschlissenen Mantels, in Designer-Anzüge gehüllt. Er war überaus wichtig, zumindest verdiente er so gut, das viele Menschen ihn für überaus wichtig hielten. Eigentlich hatte er alles. Eine Frau, die er liebte, eine berufliche Position, für die er hart gekämpft hatte, Geld und Ansehen, echte
und falsche Freunde, von Letzterem deutlich mehr als er ahnte. All das hatte er verloren, oder nein, fasst alles, und eigentlich ist es ihm auch nicht verloren gegangen, sondern er hat es abgeschüttelt. Er ist aus der zu engen Schlangenhaut auf allen Vieren heraus gekrochen, hat sich befreit, kurz bevor sie ihn ersticken konnte.
Für ihn ist diese Zugfahrt nur eine kleine Etappe seiner Reise. Noch gestern stand er in der Fußgängerzone, ganz am Rande, direkt neben dem etwas herunter gekommenen Café, welches daher recht gut zu ihm passte. Und er tat dort genau das, was ihn schon seit über
zwei Jahrzehnten am Leben erhält: er malte.
Wenn er sich dort niederließ wusste noch niemand, dass er in seinen zwei Taschen und dem schwarzen, zerschlissenen Aktenkoffer alles versammelt hatte, was man brauchte um Portraits von Menschen auf Papier zu bannen. Eine kleine, ausklappbare Staffelei, einen ganzen Karton voller bunter Wachsmalstifte, manche schon bis auf einen Stummel abgewetzt, andere gerade frisch angebrochen. Dazu einen kleinen Schemel, ebenfalls klappbar, gerade groß genug um darauf platz zu finden. Sicherlich, keines großen
Künstlers Ausrüstung, aber dafür die eines besonders begabten.
Es läuft immer gleich ab, wenn er sich irgendwo nieder lässt. Zuerst sehen ihn die Menschen, wenn überhaupt, nur verächtlich an, tuschelten, tadelten ihn mit Blicken, weil er scheinbar schamlos zu betteln beginnt, mitten in der Einkaufsstraße. Manche, wenige, suchen nach dem kleinen Pappbecher, in dem sie ihm ein paar Groschen werfen können, um ihr Gewissen zu beruhigen. Vergebens, denn er bettelt nicht. Erst wenn er beginnt die Staffelei aufzubauen, wird aus dem vermeintlichen Penner ein Künstler,
beginnt die träge Passantenmasse sich in Publikum zu verwandeln.
Ab dann geht alles wie von selbst, der erste Kunde ist nach kurzem Zögern gefunden, die Hände des Malers fliegen über das Papier, Farben vermischen sich, Konturen entstehen, und ehe man weiß wie, ist die hübsche, junge Frau, die erste Mutige von vielen an diesem Abend, auf Papier gebannt. Er hat nichts geschönt, nichts ist übertüncht oder weggelassen, jeder Makel, aber auch jedes noch so kleine, wunderbare Detail ist korrekt platziert. Bis dann irgendwann das letzte Bild gemalt ist, bis aus dem bestaunten und gefeierten
Kleinkünstler wieder ein alter, zerschlissener Landstreicher geworden ist, vergehen viele Stunden.
Am Ende des Tages wird er dann wieder sorgfältig alles an seinen vorbestimmten Platz verpacken, die Wachsstifte in eine silberne Box, den kleinen, ausklappbaren Schemel in die gelbe Tasche, die übrigen Bögen Papier zusammengerollt in eine Papp-Röhre. Dann steht nur noch die Staffelei dort, nun vollkommen nackt und arbeitslos, fast sinnbefreit. Bevor er diese ebenfalls zusammen klappt, liest er die kleine, mit rotem Wachsmalstift geschriebene Widmung auf der rauen Unterseite.
Spätestens dann umspielt seine alten Lippen ein wohliges Lächeln, und das Heimweh kriecht in seine Knochen. Es wird Zeit.
Vorher stattet er dem kleinen Café immer einen Besuch ab, ein Ort der in seinem Leben schon mehrmals Angelpunkt seiner Welt gewesen war. Er trinkt immer einen schwarzen Tee mit Honig, redet mit dem fast genau so alten Mann hinter dem Tresen über alte Zeiten, über unliebsame Veränderungen und Dinge die, Gott sei Dank, unveränderbar sind. Dann geht er wieder, der letzte Zug wartet nicht und sein Weg hat gerade erst begonnen.
Fürwahr, er ist ein großer Künstler. Kaum jemand weiß aber, dass er eigentlich ein Sammler ist, und nur in zweiter Linie ein Maler. Jeder Mensch der sich von ihm porträtieren lässt, beginnt früher oder später, den Künstler in ein Gespräch zu verwickeln. Es ist nicht so, als ob dieser viel dazu beitragen würde, ein paar Antworten hier, ein paar kleine Fragen dort, hin und wieder ein zustimmendes Nicken oder auch nur ein Lächeln auf den alten, runzligen Lippen. Recht oft zupft er sich auch nur am weißen Rauschebart, denkt über das nach, was gesagt wurde, und
konzentriert sich dann einfach wieder auf seine Arbeit. Am Schluss aber hat der überwältigte Passant, der sich ganz kurz ein Mal als Modell fühlen durfte, ein Kunstwerk in den Händen.
Der alte Mann aber bekommt als Gegenleistung gleich zwei dinge: Geld, so viel es dem Porträtierten angemessen erscheint, und eine Geschichte, ganz umsonst dazu. Manchmal zum Weinen, manchmal voll Witz, oft nur ein paar Plattitüden oder Binsenweisheiten, aber immer wieder einzigartige Details aus dem Leben des nun plastisch gewordenen Menschen, welchen er gerade zweidimensional verewigen
durfte.
Vom Geld, was er an diesem Tag verdient hat, nur einem einzigen Tag in der Woche, selten zwei, zählt er lediglich das ab, was er für die Weiterreise benötigt. Den Rest verstaut er in seiner kleinen, roten Dose, ungezählt, und diese dann im Rucksack, recht weit unten. Die Geschichten allerdings, und die Menschen dahinter, sie werden für die kommenden Stunden seine Begleiter sein, er wird sie sich wieder und wieder ins Gedächtnis rufen, wird sie den Gesichtern zu ordnen, zu denen sie gehören. Und auch den Bildern, die er von ihnen gemalt hat,
welche erst Leben bekommen haben, weil er das Gehörte auf wundersame Weise mit eingewebt hat in die Farben und Formen.
Für ihn ist dies nicht der letzte Zug in dieser Nacht, dort wo das junge Pärchen, nur ein paar Reihen weiter vorn, ihr Ziel finden wird, ist für ihn nur eine Zwischenstation, wartet der nächste Zug bereits, wenn alles nach Plan läuft. Erst am Ende dieses, gerade erst angebrochenen Tages, wird er dort ankommen, wohin er immer wieder zurückkehrt. Egal wie lang er fort war, egal wie weit ihn die Beine getragen haben, und wie groß die Mühen waren.
Er wird mit ihr auf der kleinen Bank hinter dem Haus sitzen, den Wellen zusehen, und all die Geschichten der Menschen erzählen, die er porträtieren durfte. Er wird seinen Schatz vor ihr ausbreiten, bis tief in die Nacht hinein, und sie wird gespannt zuhören, in löchern und ausfragen, bis sie in seinen Armen eingeschlafen ist, so wie früher, so wie immer. Irgendwo auf dem Küchentisch wartet dann noch mehrere Tage lang eine kleine rote Dose darauf, geöffnet zu werden. Ihr Inhalt wäre in seinem früheren Leben zählenswert gewesen, investierenswert in Aktien und Anleihen. Wie weit das doch alles zurück lag.
In wenigen Wochen vollendet seine Enkelin ihr erstes Lebens-Jahrzehnt, vor einigen Tagen stand sie deshalb mit einer extra handgemalten Einladung vor ihrer Tür, nicht ohne Stolz in den großen, braunen Augen. So wird er den Rest der Dosenfüllung für neue Farben ausgeben und ihre erste, richtige Staffelei. Auch wenn er früher Beträge verschoben, kassiert und wieder ausgegeben hat, die tausend Mal mehr wert waren, ist dies für ihn bei weitem die beste Investition, die er jemals tätigen kann. Denn obwohl sein Talent seine Tochter wohl übersprungen hat,
steckt in der kleinen Josefine eine Künstlerseele, die es zu fördern und bewahren gilt.
All das ahnt man kaum, wenn man ihn dort hinten sitzen sieht, das Gesicht dicht ans Fester gelehnt, der Blick irgendwo in der Ferne. Er hortet und hütet seine gesammelten Geschichten, er sieht die Nacht dort draußen nicht, die nur eine Scheibendicke entfernt an ihm vorbei gleitet, und dabei immer dunkler und unergründlicher wird.