Kurzgeschichte
Nachtzug - verletzen

0
"Nachtzug - verletzen"
Veröffentlicht am 20. November 2013, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: © olly - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Eigentlich nur ein ganz normaler Nerd, der Technikbegeistert ist und viel zu viel Zeit damit verbringt, Dinge zu tun, die ihm Spaß machen, aber kein Geld bringen :) Nebenher noch Kunst und Kultur-begeistert, Naturliebhaber, ehrenamtlich tätig und irgendwie nie richtig erwachsen geworden. Aber wer will das schon!
Nachtzug - verletzen

Nachtzug - verletzen

VERLETZEN

Wir haben einen Begleiter. Seit geraumer Zeit schlängelt sich eine spärlich beleuchtete Straße neben der Bahnstrecke durch die Landschaft, kommt mal näher, fast nah genug um die vorbeifliegenden Ortsschilder lesen zu können, und geht dann wieder auf Abstand. Um diese Uhrzeit ist sie wie leer gefegt, lediglich ein recht klappriges Auto hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich mit dem Zug zu messen. Hin und wieder kommt es ins Blickfeld, nur zwei weiße Augen die einen Teil des Asphalts beleuchten, prescht voraus, und lässt dabei zwei rote Streifen aus Licht hinter sich. Dann fällt

es wieder zurück, gebremst durch unübersichtliche Kurven oder lästige Schilder. Eine ganze Weile geht das Spiel so weiter, als wolle es der kleine Haufen Blech, sich mühsam seinen Weg durch das Schwarz der Nacht bahnend, mit dem Stahlkollos neben ihm aufnehmen. Irgendwann dreht die Straße ab, verzweigt sich in einem losen Netz aus schlafenden Häusern. Nun sind wir wieder allein. Auf einer Zweier-Sitzbank, kaum erkennbar für den unaufmerksamen Beobachter, hat sich ein junges Mädchen verkrochen. Sie drängt sich in die Sitze als wolle sie am liebsten im Polster

verschwinden, eins mit der Bank werden, die Füße trotzig an die Rücklehne des Vordersitzes gestemmt. Auf dem Platz daneben steht ihre kleine, braune Wildledertasche, bestickt mit silbernen Perlen. Damals ein Geschenk, nun ein Hort für alles was ihr momentan noch wichtig ist. Ihr Tag war ein Alptraum. Man könnte versuchen es schöner zu umschreiben, aber im Endeffekt bleibt von ihm nur ein Tränenmeer im Gedächtnis. Das Mädchen, eigentlich bevorzugt sie „junge Frau“, was durchaus gerechtfertigt erscheint, ist auf dem Weg nach Hause. Obwohl sie, wenn alles nach Plan

gelaufen wäre, stattdessen in den Armen eines jungen Mannes liegen sollte, ihm durch die schwarzen Haare streifen... Nein, der Plan war gescheitert, auf ganzer Linie. Sicher, es begann gut, fast zu gut. Nach wochenlangen Überlegen, Hadern und Ringkämpfen mit dem inneren Schweinehund, hatte sie es endlich gewagt. Wie immer stand er mit seinen Freunden, einer unausstehlicher und primitiver als der Andere, vor der Schule, unter dem großen Kastanienbaum mit der etwas altersschwachen Bank darunter. Aber anstatt, ebenfalls wie immer, so weiblich wie möglich an ihm

vorbei zu gehen, in der wagen Hoffnung von ihm bemerkt zu werden, gemischt mit der Angst, dass er sie wirklich bemerkt, brach sie gestern aus dem Kreis aus. Ein lockerer Stupser an seinen Arm genügte um seine Aufmerksamkeit zu bekommen und sogar ein überraschtes Lächeln von ihm. Fast wäre dies auch gleich wieder das Ende gewesen, die Knie gaben leicht nach, näher als jetzt war sie ihm noch nie gewesen, außer tausende Male in ihren Träumen. Nachdem dann doch das letzte Restchen Mut zusammen gekratzt war, zog sie ihn sanft aber bestimmt von den tumben

Höhlenmenschen weg, denn dort war Reden nicht möglich. Sie fragte ob er noch Lust auf einen Kaffee hätte, drüben in dem kleinen Café gegenüber der Schule, er sagte spontan Ja, sie konnte seinen Blick nicht deuten, er verstand sich gut darauf, undeutbare Blicke zu verstreuen. Sie tranken Kaffee, obwohl ihr ein Tee lieber gewesen wäre, aber Kaffee wirkt erwachsener, und das war sie ja schließlich, erwachsen, zumindest an der Schwelle dazu. Hin und wieder kam ein Gespräch auf, obwohl sie sich eingestehen musste, das es mehr als schwer war, ein paar vollständige Sätze

aus ihm heraus zu bekommen, die dann auch noch Sinn ergaben. Aber er musste auch nicht reden, eigentlich war es sogar besser wenn er das nicht tat. Er musste nur umwerfend aussehen. Und damit hatte er deutlich weniger Probleme als mit der Artikulation. Der Nachmittag verstrich im Tunnelblick, von ihm wird nur noch wenig bleiben. Schwarze Haare und hellblaue Augen. Über was sie geredet haben? Davon sollte keine Erinnerung mehr die nächsten Tage überstehen. Jetzt, noch etwas tiefer in den Sitz gesunken, weiß sie, das der Moment, als

sie zusammen das Café verließen auch der Ideale gewesen wäre, den nächsten Zug zu nehmen und dem unübersehbaren Drama ein Ende zu setzen. Hinterher ist man immer schlauer. Er musste sie wohl gefragt haben, ob sie noch mit zu ihm kommen wolle, auch daran verschwamm die Erinnerung zu schnell. Sie musste ja gesagt haben, denn nur wenig später fand sie sich auf seinem Bett wieder. So war das nicht geplant, zumindest nicht so schnell. Es sollte romantischer sein, liebevoller, vorsichtiger. Das hatte ihm wohl niemand vorher erklärt, dabei war er älter als sie, angeblich mit viel

Erfahrung gesegnet. Die nächsten zwei Stunden waren ein Martyrium, ein Reigen aus Selbstdarstellungen und zerstörten Illusionen, gepaart mit Körperlichkeiten die keine waren. So wie das Mädchen an der Schwelle zur Frau nichts davon vergessen wird, wollen wir nichts davon näher beschreiben. Letztendlich entkam sie in einem schwachen Moment der Unachtsamkeit, die unerfüllten Hoffnungen und Träume ließ sie in den zerwühlten Kissen zurück, floh ins Freie und merkte sogleich, das sie keinen Schimmer hatte, wo sie überhaupt war. Die abendlichen Straßen wurden immer leerer, dunkler, fremder.

Jegliche Erinnerung an den Weg zu seiner Wohnung war noch überschattet von einer grauen Wolke aus Angst und Trauer. Sie lief, nur weg, einfach immer weiter, manchmal mit geschlossenen Augen, fast zu Tode erschöpft. Wie sie letztendlich dennoch den Bahnhof und den letzten Zug dieser Nacht erreichte war ihr ein Rätsel, aber irgendein innerer Instinkt musste sie wohl geleitet haben. Schnell wie ein Schatten verkroch sie sich in einem Sitz, und versuchte sich sogleich so unsichtbar wie nur möglich zu machen. Der Weg nach Hause ist erst angebrochen, ein paar Stationen noch, zu

viele, noch zu viel Zeit um nachzudenken. Tausende Bilder rauschen ihr durch den Kopf, verwoben mit wirren Gedanken. Nichts kann den Abend ungeschehen machen, nichts hebt die Enttäuschung auf, bringt die Hoffnungen zurück, die sie hatte, als sie ihn am Arm packte und von Seinesgleichen weg zog. Hin und wieder schleicht sich heimlich auch das Bild eines anderen, jungen Mannes ein, irgendwo im Augenwinkel. Er scheint anders zu sein, etwas unscheinbarer, im Hintergrund, kaum beachtet. Sie kennt ihn, aber woher? Sitzt er nicht im Kunst-Kurs zwei Reihen hinter ihr? Er ist groß, größer noch als

der grobschlächtige Frauenschwarm, aber zurückhaltender, dafür immer da, immer in ihrer Nähe, niemals nah genug. Noch nicht, aber vielleicht irgendwann?

0

Hörbuch

Über den Autor

JanosNibor
Eigentlich nur ein ganz normaler Nerd, der Technikbegeistert ist und viel zu viel Zeit damit verbringt, Dinge zu tun, die ihm Spaß machen, aber kein Geld bringen :)

Nebenher noch Kunst und Kultur-begeistert, Naturliebhaber, ehrenamtlich tätig und irgendwie nie richtig erwachsen geworden. Aber wer will das schon!

Leser-Statistik
10

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
petjula007 Auch dieser Teil wieder sehr interessant. Das Mädchen wurde gut beschrieben. Man sass bald in Gedanken neben ihr.

LG
petjula
Vor langer Zeit - Antworten
JanosNibor recht vielen Dank wieder! Das war eins der schwierigeren Kapitel, dafür kommr morgen mein Liebstes :)
LG Janos
Vor langer Zeit - Antworten
JanosNibor Der nächste Teil der Kurzgeschichten-Sammlung "Nachtzug"
Letzte Teile verpasst?
Prolog:
http://www.mystorys.de/b99730-Romane-und-Erzaehlungen-Nachtzug.htm
1. Teil:
http://www.mystorys.de/b99882-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
2. Teil:
http://www.mystorys.de/b99949-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
Grüße, Janos
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
3
0
Senden

100013
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung